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Brescia, Samstag, 3. Aug. 1878, abends.
Meine Epistel aus Gravedona haben Sie hoffentlich richtig erhalten. Ich fuhr tags darauf per Comer See und Eisenbahn direkt nach Bergamo, wo man schon recht mitten in Italien ist. Was sind unsere Millionäre in Basel in betreff des Wohnens für arme Tröpfe im Vergleich mit den Nobili, welche die Paläste in der obern und untern Stadt Bergamo gebaut haben! Freilich diese hatten Majorate; vivat das Majorat, denn es ist gut Freund mit der grossen Architektur; die jungem Brüder blieben ledig und gingen in Militärdienste und zur Seltenheit auch ins Kloster. Was sagen Sie zu folgendem Im Brief flüchtig skizzierten. Grundplan des Palazzo Ridolfi an einer steilen Gasse der Oberstadt? Diese Portierloge, die mit einer Ovalcupolette und zwei Tonnengewölben bedeckt ist? Aber während ich zeichnete, sah ein Wackes Basler Ausdruck für den Sundgauer, in der Bedeutung eines groben bäurischen Kerls; gebräuchlicher die Form Waggis. in ordinärster Volkstracht mir über die Schulter, und nachher sagte das alte Weib, welches die Portiere macht: questo è il conte! Der wahre »Graf« Ridolfi. Soviel ich weiss, schützt das Gesetz die Majorate längst nicht mehr und wahrscheinlich lebt besagter Wackes von den Mieten, denn ich stieg die Treppe bis oben hinauf und fand bedenklich plebejische Namen und Begangenschaften an den Glockenzügen.
Schreiben Sie Geymüller gelegentlich, ich hätte zu Bergamo, Via Pignolo No. 68 im Hof eines reizenden Frührenaissancebaues zwischen den obern Bogen ein Tondo mit einem in Steinfarbe gemalten Kopfe gesehen, welcher fast unmöglich jemand anders als den Bramante vorstellen könne; der bekannte Kopf in der Schule von Athen müsse von vorn aus so ausgesehen haben. Wenn ich nicht mir hätte sagen müssen, dass ich nur eine grässliche Karikatur hervorbringen würde, ich hätte ihn gezeichnet. In der oberen Stadt sieht man durch mehr als ein pompöses Vestibül hindurch auf die lombardische Ebene oder auf die prachtvollen Bergzüge um Bergamo hinaus; ein solcher Ausblick ist sogar auf ein herrlich gelegenes Bergdorf gerichtet, welches genau die Mitte der Perspektive einnimmt. Mehr als einmal findet sich der Witz, dass jenseits von der Strasse ein Garten liegt, der demselben Eigentümer gehört wie der Palast und in der Hauptaxe eine Nische oder Grotte hat; wendet man sich im Vestibül gegen die Tür, so sieht man jenseits diese Dekoration. Ich will gern glauben, dass sich die Leute oft krumm gelegt und Hunger gelitten haben, um solche bellezze zu bauen.
Gestern nachmittag fuhr ich nach Brescia, wo die Paläste, zumal im östlichen Stadtteil, noch um einen beträchtlichen Grad pompöser sind als in Bergamo. Aber ich muss überall meine Hauptmühe auf die Malerei wenden, kann jedoch, was Architektur betrifft, nur sagen: L'Italie est à peine entamée. Eine enorme Fülle von originalen Motiven von der frühsten Renaissance bis zum spätesten Barock bietet sich hier dar, ohne dass ich weiss, ob ein einziger reisender Architekt für Brescia irgendwelche Zeit und Musse übrig gehabt hat. Von Kirchen gar nicht zu reden, welche in einzelnen Stadtteilen ganz dicht aufeinander sitzen, und jede hat etwas! und nun wird neben dem Kreuzgang von Madonna delle Grazie noch eine halbgotische Nebenkirche gebaut. Besagten Kreuzgang sollten Sie aber sehen! 16. Jahrhundert und von guten Formen, und weil er zu länglich geraten wäre, zog man in der Mitte ein Stück Halle quer hindurch, was deliziös wirkt. Man sieht von Anfang an das Ganze.