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Paris, von Mittwoch, 3. Sept. an 1879.
Journal-Fetzen.
Heute habe ich mein englisches Gold im Palais Royal gegen französisches umgewechselt. Wieviel diese Zöllner und Sünder an mir profitieren, das sehe ich rein als ihre Sache an und gräme mich um die 10-20 Sous schon längst nicht mehr.
Warum hat es etwas so unsäglich Komisches, einen Menschen in ein Inodore hineingehen zu sehen? Wer beantwortet diese ästhetische Frage?
Vom Essen:
Bei Duval wird man nicht mehr satt;
Wohl dem, der's irgend anders hat –
Sonst muss sich sehr viel Brot im Magen
Mit Schnäfeli
Schnittchen. von Fleisch vertragen.
Giess Chablis drauf so viel du willt,
Der Hunger bleibt doch ungestillt.
Seither aber lernte ich Anderes und Besseres kennen und glaube, dass ich dem boeuf à la mode (neben der rechten Langseite des Palais Royal) treu bleiben werde. Besagter boeuf à la mode ist aber nicht mehr das alte Rendez-vous à vingt sous, sondern man gibt, vino compreso, leicht bis 4 Franken aus, die mich jedoch nicht reuen sollen.
Ich habe meinen ruhigen, abendlichen Schoppen entdeckt, hart beim Palais Royal auf einem kleinen Platze, wo nicht gefahren wird und man im Freien sitzt, sobald schönes Wetter ist, wie z. B. jetzt in diesen herrlichen Spätsommertagen. Sie glauben gar nicht, was heute im Louvre Rubens und Tizian für ein Kolorit hatten. Die grosse Santissima concepcion von Murillo löste sich völlig in Licht auf. Hätten St. und ich bei dem Riesenmurillo des Lord Dudley (dem Tod der heil. Klara) etwas von diesem Sonnenschein gehabt! Aber wir wollen dem Herrn danken, dass wir die Galerie Wellington und Dudley nur überhaupt gesehen haben.
In Theater gehe ich nicht, bis St. da ist, welcher u. a. das Servitut hat, mich in die Grand Opéra zu lotsen. Vielleicht mache ich vorläufig eine Ausnahme für Théâtre du Palais Royal, wo der spanische Pfeffer bekanntlich wild wächst. Ich muss den lieben Freund doch etwas orientieren können, wenn er eintrifft.
Einstweilen blute ich bei Antiquaren. Delauney ist freundlich und heiter geblieben, aber mit seinen Preisen etwas hinaufgegangen; er wird aber doch noch ansehnlich an mir verdienen. Was bis jetzt geschehen, ist nur Geplänkel, die grossen Kämpfe mit ihm kommen erst in den letzten Tagen, wie ein so alter Unterhändler, als ich bin, wohl weiss. Ich gebe anfänglich 20-30 Franken aus, fast ohne zu markten, dann folgen weitere Propositionen auf Zweidrittel und endlich auf noch weniger von dem anfänglich genannten Preise, aber für wichtigere Sachen. Wie unendlich viel angenehmer aber ist hier zu verhandeln als in London, wo die Antiquare phantastische alte Süffel sind, die gleich einen Eindruck machen wollen, indem sie für einen Dreck one pound ins Blaue hinein verlangen. Da wendet sich der Gast mit Grausen. Wenn in Paris etwas teuer ist, so weiss man doch warum.
Ich habe in London den unsträflichen Schluss gezogen, dass auch die Käufer manchmal reiche Süffel sein müssen. Da können sich denn die Seelen finden.
Nun bin ich geschlagene zwei Tage in Paris und (die Einfahrt ausgenommen) noch nicht bis zum Boulevard vorgedrungen, wohin doch jeder Zopf seine ersten Schritte lenkt. Morgen aber will ich doch einmal Rue Richelieu hinaufwandern und vor allem auch die neue Avenue de l'Opéra. Ich habe die klägliche Fassade vom Palais Royal hinauf angesehen und kann nicht sagen, dass sie sich aus einer Viertelstunde Entfernung besser ausnehme als in der Nähe. Palladio hätte mit dem halben Geld etwas anderes hingesetzt.
London begehrt nicht schön zu sein, aber Paris, die grosse Kokette unter den Städten, will schön sein und ist es. Und doch sehe ich von anno Louis Philippe 1843 her meine liebe alte unregelmässige Rue Sainttonnerez Natürlich in spasshafter Schreibart für Rue Saint Honoré, wie weiter unten das »Louis sähs« für Louis XVI. gern wieder.
Heut abend war ich bis zur Grossen Oper, nicht um hineinzugehen, sondern um auf den Stufen einfach abzuhocken und den Figaro zu lesen. Man gibt jetzt noch Massenets »Roi de Lahore« dort, allein ich war nicht als Musiktier, sondern rein nur als Architekturtier hingegangen.
Carpeaux' Gruppe la danse Vor der Grossen Oper. hat mich jetzt erst ganz bezaubert, so vieles ich auch gegen den Stil usw. einzuwenden hatte. Das Leben, das einem aus dem Steinpfeiler entgegendringt, ist allmächtig; man hat das Gefühl: wäre nicht Einhalt geboten worden, wer weiss, was noch alles aus dem Pfeiler hervorgesprudelt wäre! Bei den übrigen Gruppen ist man dieser Sorge völlig ledig; die waren alle froh, als sie fertig waren.
Hernach ging ich den Boulevard entlang bis zur Madeleine. Gott strafe mich, aber die Säulen, aus lauter kleinen Steinen zusammengesetzt, sehen gestrickt aus wie Strümpfe; die Horizontalen übermeistern völlig die Kannelüren.
Im Restaurant bei der Madeleine sass u. a. ein altes provinziales Ehepaar. Es war rührend zu sehen, wie vor dem Aufstehen Baucis dem Philemon seinen Strohhut und seinen Stock über den Tisch reichte.
Der Luxor-Obelisk sah mich ganz ernst an. Ich fürchte, er hat mir wegen seiner Schwester in London einiges in unangenehmem Ton mitzuteilen.
Er stehet stolz auf Plac' Konkorden,
Wo Louis sähs enthauptet worden.
Das Wetter ist jetzt seit drei Tagen himmlisch schön und juliwarm, so dass ich anfange, frevlerweise auf einen ganzen schönen September zu hoffen. Warum nicht? Es steht ja 1879 überhaupt alles auf dem Kopf.
5. Sept., abends 8 Uhr.
Soeben Ihren Brief erhalten. Ihr Bummel nach Rheinweiler etc. gibt mir wahre Hoffnungen, indem ich die Rebenresultate zusammenhalte mit meiner Theorie von einem schönen und warmen September. Heute habe ich im Louvre über Lionardos Bild der heil. Anna mit Maria, Kind und Lamm einen lehrreichen Diskurs mit einem einsichtigen Kopisten gehabt, der das Gemälde à fond kannte und sich gerne mitteilte, und werde allgemach klar über das grosse Rätsel. Die Gioconda habe ich jetzt auch mit andern Augen angesehen als früher. Der ganze Kopf ist unvollendet, und wenn man einigermassen ahnen will, wie er werden sollte, so muss man von der wundervollen vollendeten rechten Hand ausgehen; da sind all die schwarzen Schattentöne unter Lasuren verschwunden und zu wirklicher Karnation geworden, während sie im Kopf noch völlig unversöhnt vorhanden sind. Was die verrückte Landschaft betrifft, so glaube ich, dass Lionardo schon in Florenz das Unmögliche von überhängenden Felsen usw. liebte, wie die Werke seines Mitschülers Lorenzo di Credi beweisen; von Mailand aus wird er dann an die Seen und etwa ins Tessin gekommen sein, allwo ihm Hören und Sehen verging. Und darauf entstand dann jenes Traumgebiet von Felsen und Seen, das er dann auch im Bild der heil. Anna vorbringt. – Rafael, der die Gioconda so gut kannte und in der Madalena Doni nachahmte, hat sich doch wohl gehütet, dem Lionardo auch auf den landschaftlichen Geissenwegen nachzugehen.
Es ist aber doch schön, dem ewigen Steinkohlennebel und häufigen Dreckwetter entronnen zu sein, und ich begreife, dass Engländer, sobald sie können, gern nach Paris gehen, allwo ich sie scharenweise wiederfinde. Welch ein Abstand gegen die vereinzelten und verdriesslichen Franzosen in London. Was in London so empört, ist, dass das Dreckwetter plötzlich und ohne allen besonderen Anlass hereinbricht, bloss, weil man eben in England ist.