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Manfred: »Da tun Sie, glaube ich, dem herrschenden Könige von Preußen, Kaiser Wilhelm II., unrecht. Oder zweifeln Sie etwa, daß Frankreich mit Lust Kaiser Wilhelm II. als »den Großen« feiern würde, wenn er Elsaß-Lothringen den Franzosen zurückgeben und sich dafür durch einen plötzlichen Überfall Österreichs schadlos halten würde, wie das beides Friedrich II. getan und sich deswegen gerühmt hat? Zweifeln Sie, daß das preußische Heer heute wie damals sich dem österreichischen überlegen zeigen würde? Glauben Sie, daß Wilhelm II. wie Friedrich II. in der ersten Schlacht ausreißen würde? Setzen Sie weiter den unmöglichen Fall, Wilhelm II. sei wie Friedrich II. ein ganz französisch denkender Mann und versammelte in Berlin französische Schriftsteller, etwa den in Paris fast gesteinigten Zola und andere, zahle ihnen Jahresgehälter und lasse ihnen andere Ehren zuteil werden, die Deutschen versagt blieben. Noch 1882 meinte der französische Geschichtschreiber Herzog von Broglie zornig: »Die französischen Geschichtschreiber haben nur mit einfältiger Dienstfertigkeit die Worte wiederholt, die Friedrich II. ihnen diktierte, und es ist weder nützlich noch lehrreich, diesen Geschichtschreibern Aufmerksamkeit zu schenken.« (Aus »Friedrich II. und Maria Theresia 1740–42« S. 9.) Wenn heute ein Nachfolger Friedrichs II. den Feinden Deutschlands ähnlich schmeichelte, wie der »große« König es tat, zweifeln Sie einen Augenblick, daß einem solchen herrlichen Könige die deutschfeindliche Presse der Welt zujubeln würde?«
Pfarrer Dietrich schwieg. Manfred fuhr fort: »Sie können es nicht bezweifeln, aber Sie meinen, daß über Friedrich II. dieser Jubel berechtigt war und daß es die Pflicht der preußischen Geschichtschreiber ist, in diesen internationalen Jubel einzustimmen. Zwar wäre heute ein Überfall Österreichs noch entschuldbarer als zur Zeit Friedrichs II., weil durch Preußens »Auflehnung gegen das gesamtdeutsche Gemeinwesen« Österreich heute ja endgültig vom Reich getrennt worden ist. Dennoch ist es ganz undenkbar, sich Wilhelm II. so ruchlos vorzustellen, daß er die friderizianischen Schändlichkeiten, die ihm so billig großen Ruhm einbringen würden, wiederholen könnte.«
Pfarrer Dietrich: »Vergessen Sie nicht, daß Friedrichs Anspruch auf Größe besonders auf seinem beispiellosen siebenjährigen Ausharren in tiefster Not beruht.«
Manfred: »Sie sprechen von den vier Jahren von Kolin bis zum Tode der Kaiserin von Rußland. Zweifeln Sie, daß, wenn Bismarcks böser Traum in Erfüllung ginge und heute Europa sich gegen das preußische Deutschland vereinte, daß Wilhelm II. mit England zum Bundesgenossen noch viel länger, und, wäre selbst nur Österreich Preußens Bundesgenosse, doch auch vier Jahre lang auszuharren vermöchte, bis irgend ein unerwartetes Ereignis die Sachen zu seinen Gunsten wendet, bis etwa die Russen aus Feinden zu Freunden werden oder meinetwegen die Indianer zugunsten der lieben Deutschen eingreifen. Und wenn nach vierjährigem Kriege auch nur die alten Grenzen erhalten blieben, zweifeln Sie, daß Wilhelms erschütternde »Größe« rückhaltlos bewundert werden würde? Wenn Wilhelm II. sich von allen diesen Dingen fernhält, so ist es nicht, weil er weniger »groß« wäre als Friedrich II., sondern weil er ihm sittlich überlegen, also durch edle »Konvenienz« gebunden ist; davon bin ich überzeugt.«
»Ich habe einmal den französischen Gesandten Alfred Dumaine aus eigener Anschauung und ganz unparteiisch mit großer Anerkennung von »den wirklich glänzenden Eigenschaften« Kaiser Wilhelms II. sprechen hören. Dumaine rühmte am Kaiser eine »außerordentliche Befähigung zu schneller geistiger Aneignung gesteigert durch umfassende Lektüre und eine Aufmerksamkeit, die beständig ihre Kenntnisse zur Geltung zu bringen sucht«. Dumaine nannte Ihren Kaiser »einen ausgezeichneten Plauderer, der weit besser als die meisten anderen Herrscher jedem etwas Persönliches, Unmittelbares zu sagen versteht, der einen Gedanken zu entwickeln, eine Ansicht vorzutragen weiß und sich freut, wenn der Angeredete antwortet«. Dumaine meinte: »Kaiser Wilhelm versteht es immer einzurichten, daß die Leute, mit denen er redet, sich geschmeichelt fühlen.« Beinahe wörtlich wie der französische Gesandte 1926 über Wilhelm II. schrieb der englische Gesandte Harris (Malmesbury) 1776 über Friedrich II.: »Ich kenne keinen Mann, der so die Gabe der Unterredung besäße wie der König von Preußen, oder der sie so zu gelegener Zeit und so am rechten Orte anzuwenden verstände. Es ist unter den russischen Gästen gewiß nicht einer, der nicht von der Leutseligkeit und Güte des Königs ganz geblendet nach Petersburg zurückkehrte.« Als 1908 Professor Peabody von seinen Austauschvorlesungen über »Soziale Ethik« aus Berlin nach Boston zurückkehrte, sagte er mir: »Der Kaiser ist ein Charmeur.« Andererseits erzählte mir Dumaine auch von geradezu empörenden Taktlosigkeiten des Kaisers, von allerlei minderwertigen Scherzen, von der Hohlheit der vorgetäuschten Kenntnisse, und von seinem Beifallsbedürfnis, seinen Bemühungen, die Welt durch irgend etwas Unerwartetes in Erstaunen zu setzen. Wenn ich mir das heute überlege, scheint mir die Ähnlichkeit mit Friedrich II. verblüffend. Besonders ist mir ein Zug in Erinnerung, den Dumaine hervorhob. Er erzählte von einem Briefe, den Wilhelm II. 1878, noch als Kronprinz, an eine junge Dame schrieb; da heißt es (ich zitiere nach dem Französischen): »Für Dich nur wird dieses heiße Herz stets schlagen, bis es die Kugel trifft, die ihm ein Anarchist bestimmt.« Wie Wilhelm sein Märtyrertum ins Auge faßte und gleichzeitig Kapital für ein galantes Abenteuer daraus zu schlagen versuchte, ja, das ist doch ganz die Art, wie Friedrich II. seine Selbstmorddrohungen gleichzeitig poetisch und diplomatisch auszuschlachten versuchte. (Vgl. oben S. 349 bis 364.) Aber wieviel zurückhaltender ist doch überall Wilhelm II. verglichen mit dem großen König! wieviel weniger dichtet und komponiert er! wieviel fleißiger reist er! wieviel mehr läßt er in wichtigen Entscheidungen schließlich doch Besserunterrichtete zu Wort kommen! wieviel zahmer ist seine Verurteilung der neuen deutschen Literatur verglichen mit Friedrichs II. dissertation]! Für mich besteht kein Zweifel, Wilhelm steht sittlich höher und ist »größer«. Nur war zur Zeit Friedrichs II. die öffentliche Meinung urteilsloser oder wurde schärfer unterdrückt als heute. Mir äußerte unlängst der Präsident der Harvard Universität, Professor Lowell, sein Erstaunen über die Schrankenlosigkeit der deutschen Pressefreiheit: »Ein Blatt wie der ›Simplicissimus‹ würde in keinem anderen Lande geduldet werden.« Die Matinées du Roi de Prusse, die 1766 etwas Simplicissimus-artig gegen den »großen« König veröffentlicht wurden, waren ein lebensgefährliches Unternehmen und wurden meist nur in geheimen Abschriften verbreitet. Eine Simplicissimus-artige Behandlung Friedrichs des »Großen« würde in Deutschland wahrscheinlich heute noch nicht geduldet, während Wilhelm II. fast unbeschränkt verspottet werden darf. Es lebe also Kaiser Wilhelm II. der »Größte«!«