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Friedrich II. als der Vater der deutschen Romantik und die Freiheitskriege

Manfred kniff ein Auge zu und fuhr wieder ernst werdend fort:

»Statt seine sächsischen Eroberungspläne zu verwirklichen, hat Friedrich II. seit 1757 eine Selbstmord- Phraseologie entwickelt, die vielleicht nicht ganz bedeutungslos ist; an diese Phraseologie anknüpfend könnte man nämlich die literaturgeschichtliche Frage aufwerfen, ob nicht etwa Friedrich II. in viel bedeutsamerer Weise auf die Literatur der Welt und Deutschlands eingewirkt hat, als bisher angenommen wurde. Friedrich schrieb seine Selbstmordbriefe und »Verteidigung des Selbstmordes« etwa um dieselbe Zeit wie Rousseau die Selbstmordbriefe der »Neuen Heloise«. Es ist nicht durchaus unmöglich, aber es ist unwahrscheinlich, daß Friedrich von Rousseau angeregt wurde. Allerdings berichtet Rousseau in seinen »Bekenntnissen«, daß Grimm und Saint-Lambert, mit denen er sich damals aufs eifrigste brieflich zankte und vertrug, beide dem französischen Heere nach Westfalen gefolgt waren. Bei der kriegerischen Überwachung des Post- und Nachrichtendienstes ist die Möglichkeit, daß preußischen Husaren Briefe Rousseaus in die Hände gefallen sind, nicht ausgeschlossen. Aber ist es nicht wahrscheinlicher, daß Rousseau damals von den aufsehenerregenden und namentlich für französische Verbreitung bestimmten Selbstmordplänen Friedrichs II. gehört und etwa davon beeinflußt worden ist? Wenn das der Fall wäre, dann gewönne Friedrich plötzlich beinahe einen Ehrenplatz in der deutschen Literatur, er würde sozusagen der Großvater des Werther, dessen Selbstmord die folgerichtige Ausgestaltung der todesseligen Gedankengänge in Rousseaus »Neuer Heloise« darstellt. Und wäre sie auch verfehlt, diese Hoffnung, dem großen Preußenkönig etwas von der literarischen Bedeutung zu retten, die seine Bewunderer – zwar in anderem Sinne – für ihn in Anspruch nehmen möchten, so bleibt doch der tröstende Gedanke, daß dieser Kriegsheld gleichzeitig mit dem von ihm verachteten Propheten Rousseau die literarische Verwertbarkeit des Selbstmordes wieder zur Geltung gebracht hat, nachdem die Cato-Trauerspiele Addisons, Deschamps' und Gottscheds bereits an Wirksamkeit verloren hatten.

»Übrigens knüpfte Friedrich II. vielleicht nicht ausschließlich an westliche Beispiele an. Nein, vielleicht ist auch hier wieder seine innige Verwandtschaft mit urdeutschem Volksleben nachzuweisen, wie ich Sie Ihnen schon bei seinem Sammeln deutscher Volkslieder und seiner tatkräftigen Unterstützung der volkstümlichen Goldmacherkunst aufdeckte.« (Vgl. oben S. 249 und 289 ff.) »Wer müßte nicht bei Friedrichs II. immer aufs neue in gebundener und ungebundener Rede vorgetragenen, aber neckischerweise nie ausgeführten Selbstmorddrohungen an das prächtige Fastnachtsspiel: »Der sich neunmal mordende und das zehntemal dennoch wieder lebende Hanswurst« denken, mit dem Gottfried Prehauser seine dankbaren Wiener schon vor der Thronbesteigung Friedrichs II. entzückte? In Wien, das von Goethe »die Hauptstadt unseres Vaterlandes« genannt wurde, pulsierte – wie in Paris, und anders als im geknechteten Berlin – wahres Volksleben und Verständnis für die große und kleine Posse. Was hätte aus Wien der deutschen Bühne nicht geboren werden können, wenn diese kaiserliche Stadt nicht an ihrem Reichtum erstickt wäre, wenn sie nicht statt eines national begrenzten Theaters eine international herrschende Musik geboren hätte! International, wie es sich ziemt für die Hauptstadt des römischen Reiches und seiner vielsprachigen Stämme! Diese große deutsch-internationale Musik war dem suchenden Friedrich von Preußen verschlossen.« (Vgl. oben S. 95-98.) »Um so rührender ist es, wie er dann mit seinen philosophischen und sittlichen Lebensäußerungen so unverkennbar ganz an das weniger vornehme, aber seiner Veranlagung näher stehende Kasperle-Theater und an die volkstümliche Tragikomödie des deutschen Volkes anknüpfen wollte.

»Dem mag nun so sein oder anders – gewiß ist, daß Friedrich der Große fünfzehn Jahre vor dem jungen Goethe die Tat des Kaisers Otho laut bewundert und vor Goethe verstanden hat, daß der geschliffene Dolch »ein paar Zoll tief« in der Brust mehr für die literarische als die politische Wirksamkeit geeignet ist. Durch dieses Verständnis erhob sich Friedrich II. – da er meist von französischen Vorbildern abhängig ist, verdient es festgestellt zu werden – über jene am Hofe Ludwigs XIV. geduldeten, ja ermutigten Glücksspieler, die bei schlechten Spielerfolgen so wenig vor dem Selbstmorde zurückschreckten, daß der vertrauenswürdige Geschichtschreiber Lavisse für einen einzigen Winter vier adelige Selbstentleibungen – wirkliche, nicht literarische – festgestellt hat. Es scheint, als ob Ludwig XIV. hier ein willkommenes, wenn auch langsam wirkendes Mittel zur automatischen Beseitigung des überflüssigen oder gar aufsässigen Teiles seines Adels gesehen hätte. Wenige Jahrzehnte später half die ungeduldigere Volksherrschaft mit der Guillotine nach, ohne dabei die gekrönten Häupter auszuschließen. Es ist übrigens möglich, daß der große Ludwig auch gekrönten Häuptern die gelegentliche Selbstbeseitigung empfohlen halten wollte; wenigstens fragte er einmal morgens beim Aufwachen, nachdem er in der Nacht unvorsichtig gespielt und Millionen verloren hatte: »Bin ich noch König?«; und als er zehn Jahre lang den Kampf gegen ganz Europa ausgehalten hatte und unterlegen war, bot er 1712 seinem Feldmarschall Villars an: »Ich will mit Ihnen sterben oder siegen« und brachte – dadurch? oder durch Bolingbrokes großen Verrat? – den Sieg zu seinen Fahnen zurück. Der Gedanke, daß sich ein König durch Selbstmord den Freuden und Leiden seines Lebens entziehen dürfe, ist in der höchsten Not von einem Nachkommen Ludwigs XIV. abgelehnt worden. Ludwig XVI., der Schwereres durchgemacht hat als Ludwig XIV. und Friedrich II., rief einmal einem seiner Minister, den er entlassen mußte, mit Tränen zu: »Wie glücklich Sie sind! Wenn ich doch auch wie Sie meinen Platz verlassen dürfte!«; aber er beherrschte sich und ging später ohne mit der Wimper zu zucken auch in den Tod.« (Vgl. oben S. 69.)

Manfred machte noch andere Vergleiche, ein wahrer Totentanz, die allerlei Widerspruch wachriefen. Dann fuhr er fort:

»Aber nicht nur als Selbstmordsänger, sondern vielleicht auch als Freiheitssänger ist Friedrich II. ein Vorläufer der romantischen deutschen Dichtung. Friedrichs Anpassung der Phraseologie des Brutus und Cato an österreichisch-deutsche Verhältnisse, seine Aufrufe zum Freiheitskampfe gegen die »Tyrannei des Hauses Österreich«, mit der er seine Aufsässigkeit gegen den deutschen Kaiser bemäntelte, sind uns Nachfahren als Phraseologie der Tellsage vertraut. Auch die dichterische Verwendbarkeit der Tellsage hat schon Rousseau gewürdigt, – in seinem »Brief an d'Alembert über die Schauspiele« – bevor Goethe das Tell-Epos plante, und bevor Schiller von Goethe die Anregung zum Wilhelm Tell erhielt. Eine Beeinflussung Friedrichs II. durch Rousseau ist nicht erwiesen, obgleich Rousseau den Brief an d'Alembert mehrere Jahre vor Anfang des Siebenjährigen Krieges geschrieben hat.

»Jeder deutschfreundlich Gesonnene wird begierig sein, etwas für den vielbezweifelten Ruhm des »merkwürdigen Fürsten« zu erfinden! Ich schlage daher vor, Friedrich den Großen zum Vater der deutschen Romantik zu ernennen. Er hat sich selbst oft den »Don Quichotte des Nordens« genannt, und ich bin bereit, für seine Befähigung zu dem von mir vorgeschlagenen Ruhmestitel auch anderweitiges, sogar überraschendes Beweismaterial beizubringen. Daß sich Friedrich II. auf seine alten Tage einen Moses nannte, der das gelobte Land der deutschen Literatur von fern sieht, ohne es selbst betreten zu dürfen, ist zwar eine scheinheilige Eulenspiegelei, weil Friedrich zur Genüge bewiesen hat, daß ihm nichts daran lag, das gelobte Land zu betreten oder Führer zu ihm zu sein.« (Vgl. oben S. 109.) »Aber warum dürfte man nicht sagen (wenn man für Friedrich II. gern eine literarische Stellung schaffen möchte), daß er mit seinen aufrührerischen Redewendungen gegen die angebliche »Tyrannei« der Kaiserin Maria Theresia etwas von dem romantischen » in tyrannos« der »Räuber« und von dem treuherzigen Unwillen der Schillerschen Teil-Schweizer gegen des »Landvogts Geiz und Wüterei« vorgeahnt hat? Keinem, der zu romantischem Unsinn aufgelegt ist, kann die nahe Verwandtschaft zwischen Preußen und der Schweiz – der Schillerschen und der wirklichen – entgehen! Zwar wollte bei Schiller, angeblich, »der Schwyzer treu und fest beim Reich beharren«; aber die Schweiz sowohl wie Preußen wollten lieber einen machtlosen als einen mächtigen deutschen Kaiser; beide zogen aus Mazarins Westfälischem Frieden Vorteil für ihre Unabhängigkeit vom Kaiser; beide stellten ihre Soldaten oft in den Dienst der Franzosen oder anderer fremder Mächte, ließen »mit unserem Blute ihre Kriege zahlen«; beide weigerten sich, »Sklaven Österreichs« zu sein, und erhoben sich gegen »die freche Stirne« der »Tyrannei Österreichs«. Zwar ließ Maria Theresia keinen alten Melchthal berauben, noch »den spitzen Stahl ihm in die Augen bohren«;und wenn auch Friedrich II. treu für des kleinen Holland alte Rechte auf Erdrosselung des deutschen Handels auf der Schelde (vgl. oben S. 210) gekämpft hatte, so mochten doch die Sachsen und Polen (oder Danzig und andere von Friederich II. in ihrer Neutralität verletzte Kleinstaaten) behaupten, die Worte des bösen Geßler: »dies kleine Volk ist uns ein Stein im Weg. So oder so; es muß sich unterwerfen«, ließen sich glaubhafter den Preußen als den Österreichern in den Mund legen. Und wenn gar die Schweizer grollten: »bis in das Innerste der Häuser dringen die Boten der Gewalt«, so möchte man, mit den spottlustigen Berlinern, eher an die verhaßten »Kaffeeschnüffler« Friedrichs II. als an die Boten Maria Theresias denken, – wenn man nicht gar daran denken müßte, mit welchem Grolle Goethe an Karl August von der »List und heimlichen Gewalt« »des Königs in Preusen Majestät« schrieb, die den Dichter zu dem »unangenehmen, verhaßten und schaamvollen Geschäft« zwang, von den Untertanen des Herzogs »eine Auswahl zu treffen und die Leute auszuliefern« an die bewaffneten preußischen Werber und als Rekruten zum Kampf gegen den deutschen Kaiser. Diese Zwangslage war es ja gewesen, die Goethe veranlaßte, eine Art Rütli-»Verschwörung« gegen Friedrich II. zusammenzubringen, um durch »eine Verbindung mit wohlgesinnten Mitständen, deren Ländern diesen oder ähnlichen Zumutungen ausgesetzt seyen, solchen Zumutungen sich standhafft widersezzen zu können«.« (Vgl. oben S. 190 ff.)

»Aber es ist ja das Wesen der Romantik, in Widersinn und Widerspruch zu schwelgen, und die »ungebundenen Geister« Deutschlands erwählten bald nach Friedrichs II. Tode die Hauptstadt des preußischen Drills zum Hauptquartier, wo infolge der Einmischung Napoleons sogar der Palais Prince Henri zur Begründung einer deutschen Hochschule benutzt werden konnte. Die Romantiker liebten Ruinen: in Berlin verdeckte seit 1786 keine französische Tünche mehr den geistigen Zusammenbruch Preußens, den Friedrichs II. donquichottische Schwärmerei für den Sonnenkönig von Frankreich und seinen Absolutismus herbeigeführt oder beschleunigt hatte – es wäre hart, hier von Friedrichs Hochverrat am deutschen Geist zu sprechen. Friedrichs Neffe wollte wieder den schroffen Stock des prügelnden preußischen Korporals mit der Teutschtümelei und mit der weinerlichen Religiosität Friedrich Wilhelms I. aussöhnen:

Er fühlet neu, was dort für Heil entsprungen,
Es steht das Kreuz mit Rosen dicht umschlungen.
Es schwillt der Kranz, um recht von allen Seiten
Das schroffe Holz mit Weichheit zu begleiten.

»So hatte Goethe im Dienste der Frau von Stein das Rosenkreuz verherrlicht. Die einflußreichen »Rosenkreuzler« scharten sich um Friedrich Wilhelm II., den Ormesus Magnus der fratres roseae et aureae, so daß sich auch diese Phase des Goetheschen Lebens in der preußischen Königsgeschichte treulich spiegelte. Die Rosenkreuzler feierten mit ihrem König die ausschweifenden Feste politischen Unsinns, die bei der Aufstellung der preußischen Legende übergangen wurden, obgleich sie den alchimistischen Versuchen Friedrichs II. in nichts nachstehen. Goethe hatte mit dem Dienste der Frau von Stein auch das Rosenkreuz weit von sich geworfen; Andeutungen sinnlicher Mystik genügten später, sehr heftige, sehr unjoviale Ekelanfälle bei ihm losbrechen zu lassen. In Berlin ersetzte der Neffe die Goldmacherei Friedrichs II. durch Geisterseherei und verwirklichte auch weitschweifig die deutschen Jugendträume des poetischen, aber impotenten Oheims, dessen einziges deutsches Gedicht in den Versen gegipfelt hatte: »Zum Zipfel, zum Zapfel, zum Scherber, zum Pfriemen, bei der Jungfrau Christinen zum Dachfenster rein«. Schrankenloses Unterrocks-Regiment vermählte sich leicht mit der Politik Friedrichs II. und Lucchesinis, und die Romantiker entdeckten schnell, daß die »Vaterlandsliebe« und das »Seid einig, einig, einig«, mit denen die Preußen wie die Schillerschen Schweizer ihren Abfall vom Kaiser und ihr: Los von Österreich! beschönigt hatten, recht eigentlich eine Einladung sei, »dem Reichspanier zu folgen, wenn der Heribann erging«. Bevor sie sich aber zu folgen entschlossen, vollendete Napoleon erst noch das Werk Friedrichs II., warf 1806 den deutschen Kaiser endgültig nieder und verwirklichte 1807 im Frieden von Tilsit für Preußen etwa die Bedingungen, die Friedrich II. vorgeschlagen hatte, als er sich vor dem Tode der Kaiserin Elisabeth ins Privatleben zurückzuziehen beabsichtigte.« (Vgl. oben S. 369 f.)

»Österreich rief die Deutschen zum Freiheitskampfe und brachte Napoleon 1809 bei Aspern die erste Niederlage bei, die er je erlitten. Karl Lamprecht schreibt in seiner »Deutschen Geschichte«: »Die deutschen Patrioten blickten tränenden Auges auf das alte, an Sieg und Ehren so reiche Österreich. Preußen hatte versagt: versagt im Baseler Frieden, tausendmal mehr versagt bei Jena und Auerstädt, da war Österreich die einzige Hoffnung geblieben …; Ungeheuer war die Wirkung des Widerstandes der Tiroler, soweit die deutsche Zunge klang …; Der Ton des Tiroler Aufstandes wurde zum Grundton auch der großen Jahre der nationalen Befreiung.« Von 1792 bis 1813 ist Österreich der Träger des deutschen Gedankens gewesen und hat deutsche Männer wie Heinrich von Kleist in seine Dienste gelockt. Aber es waren nur wenige Preußen, die sich nicht, wie Friedrich II. und Schillers Schweizer, geweigert hätten, »Ehre zu sammeln unter Habsburgs Fahnen«, und Napoleon demütigte Österreich, wie er Preußen gedemütigt hatte. Die politischen Hoffnungen der Deutschen waren so von Grund auf gegenstandslos geworden, daß sie der größte Deutsche, der König der deutschen Sprache – die Friedrich II. verhöhnt und die allein den Zusammenbruch überdauert hatte – für aussichtslos, ja verderblich erklärte. Goethe sagte 1809: »wie der Schiffbrüchige müßten wir uns an der Planke halten, die uns rettet, und die verlorenen Kisten und Kasten uns aus dem Sinne schlagen«. Aber den Romantiker reizt das Verlorene, und gerade das Aussichtsloseste lebt in der Romantik. Der preußische Nationalheld Friedrich II. hat sich immer wieder als den »Don Quichotte des Nordens« erkannt, wie gerne er auch Politiker und Eroberer gewesen wäre. Das Don Quichottische, das Aussichtslose, ist ja wohl das Wesen des Patriotismus der deutschen Romantik.

Traum der Sommernacht! Phantastisch
Zwecklos ist mein Lied. Ja, zwecklos
Wie die Liebe, wie das Leben,
Wie der Schöpfer samt der Schöpfung.«

Hier unterbrach ich Manfred, denn ich konnte nicht länger an mich halten: »Wollen Sie etwa auch die Freiheitskriege antasten und als zwecklos erklären?«

Manfred: »Ich wollte eigentlich nur Friedrichs II. Ruhm als Vorläufer der deutschen Romantik singen und mir nebenbei Goethes Widerwillen gegen die Freiheitskriege erklären. Aber Sie haben recht, ganz zwecklos waren diese »Freiheits«-kriege nicht. Sie haben zwar den Deutschen kein deutsches Reich und den Preußen weder die versprochene politische Freiheit im Innern noch die äußere Unabhängigkeit von Rußland erobert; aber sie sicherten den Deutschen endlich die »Freiheit des Rückens«, wie man es nannte, das heißt also – dank dem Feldmarschall von Gneisenau und dem Freiherrn vom Stein – die Befreiung des Heeres von der friderizianisch-preußischen Prügelzucht und die Einführung von – soll man sagen: echt französischer, ungeprügelter Männlichkeit? Über die friderizianische Heereszucht machte Manfred Ellis im sechsten Gespräche ausführliche, erstaunliche Mitteilungen. Das wäre ungerecht gegen uns Amerikaner! Vergessen Sie nicht, daß Gneisenau 1782-1783 in Amerika war. In G. H. Pertz' großem Werke über »das Leben des Feldmarschalls Gneisenau« können Sie nachlesen (S. 23 f.): Gneisenau gewann in den Vereinigten Staaten »feste Ansichten über die Natur und Leitung des Volkskrieges, des entschlossenen, durch kein Mißlingen gebrochenen, stets wiederauflebenden Kampfes aller waffenfähigen Männer im eigenen Lande und für den eigenen Herd, gegen geworbene Soldaten, die eine fremde Sache verfechten«. Das letztere bezeichnet recht eigentlich das friderizianische Heer, gegen dessen wichtigste Einrichtung Gneisenau seinen Aufsatz über das preußische Prügelwesen mit folgenden Worten schloß: »Dünkt die Proklamation der Freiheit des Rückens nicht möglich, nun so laßt uns Verzicht tun auf unsere Ansprüche an Kultur, und die Bewegungsgründe zum Wohlverhalten noch fernerhin im Holze aufsuchen, da wir sie im Ehrgefühl nicht zu finden vermögen.« Nur die Beseitigung des friderizianischen Prügelwesens machte das »deutsche Volksheer« möglich. Sie machte es möglich, daß Ernst Moritz Arndt in seinem denkwürdigen Briefe vom 2. Februar 1813 dem in preußischen Diensten stehenden General von Gneisenau verheißen konnte, daß »alles Freie und Hochgesinnte aus allen Grenzen Deutschlands sich ihm zugesellen werde« als »ein rechtes Gegengift jener militärischen Pedanterie und Verstockung, wodurch Deutschland dahin gekommen, wo wir eben noch waren«. Man könnte sagen: Voltaire hat 1806 endlich seine Niederlage von Roßbach wieder gutgemacht, und Voltairesche – und bitte also auch amerikanische – Geistesfreiheit hat über die Prügelwirtschaft Friedrichs II. gesiegt!«

Da war es an Professor Hobohm, lächelnd ein Auge zuzukneifen, und er sagte: »Schmerzlich für Pazifisten, aber vielleicht treffend ist das Wort Hans Delbrücks: »Die weltgeschichtlichen Abwandlungen in den Geschicken der Menschheit bewegen sich in den Angeln der Schlachten.««

Manfred entgegnete: »Für das geknechtete Preußenvolk scheint das wirklich einmal zutreffend gewesen zu sein. Wenigstens schließt Max Lehmann, Ihr anderer Gewährsmann, seine Schilderung der Rückständigkeit des friderizianischen Heeres (für die er, ebenso wie Freiherr von der Goltz in »Roßbach und Jena«, Friedrich den Großen im wesentlichen selbst verantwortlich macht) mit den Worten: »So schwer das Geständnis einem patriotischen Herzen wird, erst mußte das mit den Ansprüchen der absoluten Monarchie und den Aspirationen des Erbadels so eng verbundene friderizianische Heer auf dem Schlachtfelde unterlegen sein, ehe von einer Reform im Ernste die Rede sein konnte.« Somit wäre also der Freiheitskrieg der Preußen schon im Jahre 1806 gewonnen worden. Lehmann schildert aber gewissenhaft, daß die dann folgende innere Reform Preußens nur dadurch möglich wurde, daß Friedrich II. nicht vermocht und schließlich nicht mehr versucht hat, seine westlichen Provinzen unter das friderizianische Joch zu beugen. Weil, schon zu Friedrichs Zeit (und ohne »Angeln der Schlachten« à la Delbrück) »der Westen über die vornehmste Maxime der friderizianischen Staatskunst längst unwiderruflich weggeschritten war«, so weist Max Lehmann nach, wollte Friedrich II. diese westlichen Provinzen abstoßen, den Franzosen abtreten, gegen Sachsen oder Mecklenburg eintauschen, Emden an die Engländer verkaufen und so weiter. Er baute darum im Westen keine Festungen und richtete gegen seine eigenen Provinzen jenseits der Weser Zollschranken auf. Seine östlichen Provinzen besuchte er jährlich; die westlichen nur zweimal in den letzten dreiundzwanzig Jahren seiner Regierung. In diesen abzustoßenden westlichen Provinzen beseitigte er die fruchtlos gemachten Anläufe zur preußischen Heeresverfassung wieder und ließ die parlamentarischen Grundrechte der Stände und die Reste deutscher Geisteswelt bestehen, aus der heraus der Freiherr vom Stein beinahe ein neues, ein unfriderizianisches Preußen schaffen und den Staat retten konnte. Beinahe! es gelang nicht, denn die ostelbische Junkerpartei bekam Oberwasser und setzte die Entlassung des Freiherrn vom Stein und Hardenbergs durch, weil der eine etwas wie einen »preußischen Volksstaat« und der andere wenigstens »eine Revolution im guten Sinne« verlangte. Die Stein-Hardenbergschen Reformen ermöglichten zwar die »Befreiungskriege«. Aber in den »Angeln dieser Schlachten« schwang sich die Kerkertür der Reaktion und des friderizianischen Geistes wieder sicher ins Schloß und versperrte dieses Königliche Schloß – manche fürchten: für immer, andere glauben, daß die Märzluft von 1848 oder der Wind der »Neuen Ära« Bismarcks die reaktionären Kerkertüren wieder aufgeblasen habe. Ich wage nicht zu urteilen.

»Immerhin scheint wohl nicht in dem von Friedrich vergewaltigten und entwürdigten Osten, sondern im Westen die Wiege der Reformen und der »Freiheitskriege« gestanden zu haben.

»Diese Freiheitskriege haben den Engländern die Weltherrschaft gesichert, gegen die der unbesonnene Napoleon das festländische Europa zum Kampfe aufrief; und – diese Freiheitskriege haben auch im Osten der freien Herrschaft der russischen Knute einen großen Dienst geleistet. Kurz, die Deutschen haben wieder wie unter Friedrich II. brav für die große Politik Englands kämpfen dürfen, um selber Opfer kleinstaatlichen Nationalitäten-Wahnsinns zu bleiben und die Einverleibung in das russisch-borussische Ödland zu erleben, vor der Goethe warnte und der er die Angliederung an die Staaten des geistreichen Napoleon vorzog.«

Hegemann: »Sie halten die Verständnislosigkeit Goethes für die Begeisterung der Freiheitskriege nicht für einen Makel an seinem Ruhme?«

Manfred: »Durfte Goethe nicht sicher sein, daß nach den Taten, die er und die andern von Friedrich II. verachteten großen Deutschen vollbracht hatten, Deutschland nie wieder in die Schmach zurücksinken könne, in die Friedrich II. es gestürzt hatte? Durfte Goethe zweifeln, daß die größere Gefahr den Deutschen nicht von Frankreich, sondern von Preußen drohe?«

Hegemann: »Ich verstehe Sie durchaus nicht.«

Manfred: »Nachdem die Deutschen einmal Goethe erlebt haben, können sie niemals wieder ganz so tief gedemütigt werden, wie Friedrich II. sie gedemütigt hat. Die Franzosen mochten imstande sein, das deutsche Finanzwesen unter französische Aufsicht zu stellen, wie Friedrich II. die preußischen Finanzen unter französische Aufsicht gestellt und in die Hände französischer Unterbeamter gelegt hat.« (Vgl. oben S. 179 f.) »Es war unter Napoleon und unter Bismarck sogar noch möglich und mag es in Zukunft wieder sein, daß Deutsche gezwungen werden, gegen Deutsche zu kämpfen, zum Vorteile Frankreichs, Englands oder Italiens, wie Friedrich II. das zum Beispiel 1740 bis 1745 erzwang, als die Franzosen Elsaß dank der preußischen Hilfe erobern konnten. Aber es war nach dem Siege Napoleons unmöglich und wird, dank Goethe, auch in Zukunft unmöglich sein, daß je wieder ein König, der deutsch weder sprechen noch denken kann, sich in so anmaßender und feindlicher Weise in das deutsche Geistesleben einmischt wie Friedrich II., und auch sein Nachfolger, mit französischer Akademie, französischem Theater und preußischer dissertation und preußischem Religionsedikt, es gewagt haben – sicher nicht, wenn Napoleon siegreich geblieben wäre, wie es Goethe hoffte. Aber der Sieg verblieb den Romantikern und – wenn Sie wollen – dem friderizianischen Preußen und dem »Don Quichote des Nordens«, der im Geiste Richelieus für Deutschlands Zerstückelung gegen Napoleons Universalmonarchie kämpfte. Wäre es damals nach dem Willen Goethes und Napoleons gegangen, dann wären die Vereinigten Staaten Europas gesichert gewesen. In dem geeinten Europa hätte das Goethesche Deutschland, durch geistiges Gewicht und durch seine Masse, eine machtvollere Rolle gespielt, als nach der Niederlage Napoleons dem russifizierten, vorbisrnarckischen Preußen beschieden war. – Sie zweifeln, daß Goethe richtig urteilte, als er die größere Gefahr für Deutschland nicht von Napoleon, sondern vom wieder russisch gewordenen Preußen drohen sah? Was könnte aber deutschfeindlicher, was könnte weniger Goethesch sein als Preußen, wie es sich nach dem Sturze Napoleons entwickelte, und wie es zum Beispiel Erich Marcks in seiner Lebensbeschreibung Kaiser Wilhelms I. der Nachwelt schildert? Erich Marcks, dessen Urteil ja in Preußen nicht ohne Gewicht ist, sprach gewiß nicht mit leichtem Herzen von der in Preußen herrschenden, »hitzigen Feindschaft gegen alle Forderungen und Menschen der neuen Zeit, dem System des dumpfen Druckes und Zwanges, dem vergeblichen Ringen mit den vorwärtstreibenden, gesellschaftlichen und staatlichen Kräften des Tages«. Was könnte Un-Goethescher sein als das? »sie rufen die Dummheit und Finsternis zu Hilfe; ich den Verstand und das Licht«, sagte Goethe 1823 von den Monarchisten seiner Zeit.«

Hegemann: »Meines Wissens gilt gerade die Spannkraft, mit der Preußen unter Bismarck wieder auferstanden ist, als der Beweis für die Gewalt des friderizianischen Gedankens. Hätte Preußen ohne das friderizianische Erbe so erstaunlich siegen können?«

Manfred: »Vor den erstaunlichen Siegen des großen Napoleon lag Frankreich politisch tief danieder. Die Zeit von den Niederlagen Ludwigs XIV. bis zu den Siegen Napoleons war etwa von derselben Dauer wie die Zeit politischer Zerrissenheit und Machtlosigkeit Deutschlands, die mit dem Tode Prinz Eugens und den friderizianischen Bürgerkriegen begann und mit dem Aufsteigen Bismarcks endete. Wieso bedurfte Bismarck des friderizianischen Erbes in einem anderen Sinne als Napoleon des Erbes Ludwigs XV. bedurfte? Eine der ersten Taten Bismarcks war sein Bruch mit der friderizianischen Politik der Feindschaft gegen Österreich, das er 1866 schonte und zum Bundesgenossen machte, was Friedrich II. nicht wollte, obgleich er es so leicht gekonnt hätte.« (Vgl. oben S. 367 u. 156.)

 

Gegen diese Auffassung Manfreds erhob der Berliner Historiker Hans F. Helmolt folgenden Einwand: »Daß Bismarck das tat, nachdem er Österreich niedergeworfen und ausgerechnet seiner deutschen Rolle entkleidet hatte, das wird von Innen schamhaft verschwiegen. Ja, so läßt sich schließlich alles vertreten, indem man es einfach auf den Kopf stellt,«

Manfred: »Nach Bismarcks Verurteilung der »seltsamen Bescheidenheit, daß man sich nicht entschließen kann, Österreich für eine deutsche Macht zu halten«, und nach seinem dichterischen Bekenntnis: »Ich erkenne in Österreich den Repräsentanten einer alten deutschen Macht, die oft und glorreich das deutsche Schwert geführt hat« (vgl. oben S. 156), wäre der unsittliche »Entkleidungs«-Akt, von dem Sie, mein sonst verehrter Herr Professor Helmolt, da sprechen, wirklich ein so »ausgerechnet« dummer Schildbürgerstreich, daß es zu Ehren Bismarcks weise wäre, davon recht »schamhaft zu schweigen«. Bismarck rühmte Österreichs »Glück, fremde Volksstämme zu beherrschen, welche in alter Zeit durch deutsche Waffen unterworfen wurden«. Augenscheinlich halten Sie, Herr Helmolt, im Gegensatz zu Bismarck, die Unterwerfung unter deutsche Waffen für ein Unglück und wünschen den unter deutsches Joch Gebeugten schleunige Befreiung. Da Sie ja deutsche und preußische Waffen, deutsche und preußische Kultur gern für dasselbe halten, muß ich Ihnen übrigens beistimmen, sehr geehrter Herr Professor Helmolt.«

Nachdem diese gutmütige kleine Auseinandersetzung keinen der Streitenden bekehrt hatte, sagte Manfred: »Bismarck hat auch Friedrichs II. Forderung, der Rhein müsse Deutschlands Grenze werden, nicht anerkannt.« (Vgl. oben S. 34 f.). »Was wäre geworden, wenn 1870, bei der verspäteten Rückeroberung des Elsaß, die Österreicher den Preußen in den Rücken gefallen wären, wie Friedrich II. den Österreichern in den Rücken fiel, als sie sich des Elsaß 1744 siegreich bemächtigten? 1744 war es noch nicht zu spät; damals wäre die deutsche Eroberung einwandfrei und wäre sicher zu halten gewesen; daß sie 1870 vielleicht unweise und sicher sehr gefährlich war, ist das nicht das friderizianische Erbe, für das Bismarck dankbar sein soll? – Sie haben die Welt gesehen und wissen etwas von dem Wesen der großen Kolonialreiche wie England, Amerika oder auch Frankreich (das ein Gebiet von der Größe der Vereinigten Staaten von Amerika und eine wahre Hauptstadt sein eigen nennt); Sie wissen, wie blind die politische Selbstzufriedenheit der Deutschen, wie gefährlich ihre politischen Hoffnungen geworden sind. In der Tat, auch Bismarck ist durch die friderizianische Erbschaft schwer gehemmt worden: als er seit 1879 im Geiste der kleinlichsten Zollkriegspolitik Friedrichs II. den wirtschaftlichen Zusammenschluß mit Österreich-Ungarn verhinderte. Was, glauben Sie, wäre aus den Vereinigten Staaten von Amerika geworden, wenn man den Farmern der Oststaaten erlaubt hätte, durch Zölle und Frachtsätze Schranken gegen das billigere Getreide des mittleren Westens zu errichten, wie Bismarck die preußischen Landwirte gegen das Getreide Ungarns und des Balkans beschützte? Es ist nicht auszudenken: Pennsylvania und New York würden heute Heere gegen Illinois und Nebraska unterhalten und auf dem Lake Michigan und den anderen großen Seen, die heute kein Kriegsschiff kennen, hätten vielleicht schon schwere Panzerschiffe Seeschlachten geschlagen. – Sind Sie nicht zufrieden, daß ich Friedrich den Großen als Vorläufer des Werther, der »Räuber«, des »Wilhelm Tell« und der deutschen Romantik und als Pfleger des deutschen Volksliedes und der faustischen Alchimie preise, soll ich ihn gar noch als Politiker bewundern?«

Hegemann: »Ja, Sie müssen wenigstens seine Verdienste als Meister der inneren Politik anerkennen.«

Manfred: »Im Siebenjährigen Kriege klagte Friedrich II., keine Zeit für die innere Verwaltung Preußens zu haben; gerade damals hatte er besonders viel Zeit für seine halbgescheiten Nachahmungen Voltairescher Dichtungen. Innere Politik verlangt hingebende, geduldige Arbeit, etwas, das Friedrich dem Großen niemand, der ihn näher betrachtet hat, zumuten wird. Bismarck hat sich einmal beklagt: »Die Gewohnheit Friedrichs des Großen, in die Ressorts seiner Minister und Behörden und in die Lebensverhältnisse seiner Untertanen einzugreifen, schwebt Wilhelm II. zeitweise als Muster vor. Die Neigung zu Randbemerkungen in dessen Stile war während meiner Amtszeit so lebhaft, daß dienstliche Unbequemlichkeit daraus entstand.« Aber was Bismarck in seiner eigenen Amtstätigkeit mißfiel, meinte er bei Friedrich dem Großen rechtfertigen zu können, weil »die Geduld, mit welcher er sich vor definitiven Entscheidungen über Rechts- und Sachfragen unterrichtete, die Gutachten kompetenter und sachkundiger Geschäftsleute hörte, seinen Marginalien geschäftliche Autorität gab«. Ohne Zweifel wollte Bismarck hier dem heute« (Manfred sprach im Jahre 1913) »herrschenden Könige den Vorwurf machen, er habe weniger Geduld und darum weniger Autorität als Friedrich II. Auf diesen Vorwurf hätte Wilhelm II. mit Recht folgendermaßen antworten können: »Ich verstehe das Wesen meines großen Ahnherrn besser, als Ihnen, mein lieber Bismarck, das möglich ist, und ich weiß deshalb, daß nichts Friedrich dem Großen fremder war als die von Ihnen gerühmte langweilige ›Geduld, mit welcher er sich vor definitiven Entscheidungen über Rechts- und Sachfragen unterrichtet‹ haben soll, wie Sie zu behaupten wagen. Zeigen Sie mir doch bitte, als Beispiel, mein verehrter Herzog von Lauenburg, wo Sie in der doch nicht ganz belanglosen Frage der Absetzung eines Kanzlers bei meinem erlauchten Vorfahren auch nur einen Funken von dieser Geduld finden, die für Handlanger geeignet sein mag, die sich aber für große Könige nicht schickt. Oder ist Ihnen etwa unbekannt, was mir Professor Dr. Hintze gelegentlich meiner Einführung in die preußische Verwaltungsgeschichte mitgeteilt hat, daß der entschlossene Lobredner Friedrichs II., Exzellenz Gustav Schmoller, an dem, was er verwegen den ›willkürlichen und ungerechten Akt der Kabinettsjustiz des Großen Königs‹ nennt, zu nörgeln wagt, ›der in dem Prozeß des Müllers Arnold gegen den Herrn von Gersdorff in seiner übergroßen Bauernfreundlichkeit das dem letzteren günstige, völlig begründete Urteil umstieß, eine Anzahl Richter und auch den damaligen Großkanzler und Justizchef Fürst kassierte‹? verstehen Sie, Herr von Bismarck!: auch einen Fürst und Kanzler einfach kassierte? und statt kassieren sagte Friedrich der Große zu ihm: ›Halt er das Maul‹ und ›Ich jage Sie zum Teufel‹. Sie behaupten, Friedrich der Große habe vor › definitiven Entscheidungen die Gutachten kompetenter und sachkundiger Geschäftsleute gehört‹; da übertreiben Sie tendenziös, denn er hörte, bevor er den Kanzler Fürst hinauswarf, nur das Gutachten eines in Rechtsfragen unbewanderten Majors und versicherte, daß er einem Soldaten mehr Vertrauen schenke als den juristischen Perücken. Sie beklagen sich, daß Ihre ›Vorstellungen, die Sie wegen meiner Randbemerkungen im Stile Friedrichs des Großen, verfügender oder kritisierender Natur‹ an mich zu richten wagten, ›keine gnädige Aufnahme fanden‹; ich hoffe, Sie verstehen jetzt die Gründe dieser Ungnade.« So etwa hätte echt friderizianisch und trotzdem völlig zutreffend Ihr Kaiser Wilhelm II. auf die nörgelnde Bemerkung Bismarcks antworten dürfen.

»Gewiß, die Friedrichanbeter behaupten, ihres Königs Verhalten in der Angelegenheit Fürst und Müller Arnold sei zwar ein Mißgriff Friedrichs, aber eine Ausnahme gewesen. Doch es lassen sich viele Beweise dafür finden, daß Bismarcks bereits ziemlich kritisches Urteil über Friedrich II. noch immer zu günstig ist. Daß Friedrich auch bei anderen Gelegenheiten unstatthaft in die Rechtspflege eingriff, beweist Ihnen zum Beispiel Preuß (Urk. III, 20), der berichtet, wie Friedrich 1785 eine vom Gerichtshof zuerkannte dreijährige Festungsstrafe trotz der gewichtigen Gegengründe des Gerichtshofes in Todesstrafe verwandelte. Preuß berichtet auch, wie listig der Gerichtshof den königlichen Eigensinn unschädlich machen mußte, »damit das Erkenntnis nicht dem Könige zur Bestätigung eingereicht zu werden brauchte und ähnliche Eingriffe in die Justiz vermieden würden«.

»Beinahe noch peinlicher wirken die 13 Briefe, die Friedrich der Große noch 1786 wegen eines »Küchenschreibers« verfaßte (Preuß, III, 206 ff.). »In der Untersuchung«, sagt Preuß, »konnte der Küchenschreiber Röber keiner Untreue beschuldigt werden.« Aber Friedrich wollte nicht nachgeben. Dreizehnmal schrieb er Briefe, in denen er versicherte, sein Küchenschreiber habe »gestohlen«, »viel gestohlen«, »entsetzlich gestohlen«, »ganz abscheulich viel gestohlen«, und der weise König war wie ein Kobold darauf erpicht, den Küchenschreiber, gegen den sich nichts nachweisen ließ, dennoch »mit der Karre bestraft« zu sehen.

»Daß Friedrich II. ernstzunehmende juristische Studien gemacht oder Einsicht besessen hätte, ist ein Wahn, der sich auf Schritt und Tritt widerlegen läßt. Vgl. das gesondert erscheinende Gespräch über »Napoleon oder der »Kniefall vor dem Heros««.

»Ist es unter diesen Umständen erstaunlich, daß die vielgerühmte friderizianische Neuordnung der Rechtspflege großenteils im Anlaufe stecken blieb? Der tüchtige Sohn des Heidelberger Naturrechtslehrers Cocceji, den Friedrich II. nicht berief, aber als Justizminister vorfand, war zwar, wie Carlyle nett sagt, ein wahrer Herkules im Reinigen der preußischen Justizställe. Aber sein Entwurf eines Corpus juris Fridericianum blieb Fragment, sagt Gustav Schmoller, der auch zugesteht, daß Coccejis Zivilprozeßordnung im Codex Fridericianus »ihr Ziel nicht erreicht hat, indem sie wesentlich auf dem Papier blieb«. Auch Coccejis gelehrtes Werk über das Naturrecht blieb unvollendet. Die »willkürliche und ungerechte« Kassierung des Kanzlers Fürst hatte dann die erfreuliche Folge, dem tüchtigen Nachfolger Carmer im neununddreißigsten Jahre der Regierung Friedrichs II. Gelegenheit zur Verwirklichung guter Gedanken zu geben, die »nur«, wie Schmoller zugesteht, »damals in der Färbung des omnipotenten Polizeistaates auftraten«. Der gewiß nicht tadellustige Schmoller fährt fort: »Indem man, wie Carmer, von den schlesischen Bauernprozessen ausging, wollte man gleichsam alle Rechtsprechung in ein summarisches Vergleichsverfahren verwandeln, machte die Parteien und Advokaten mundtot …; Jedenfalls wirkte die Reform nur so lange günstig, …; als man im Richterstand eine irdische Vorsehung anzuerkennen geneigt war. Als diese Bedingungen im neunzehnten Jahrhundert schwanden …;, da mußten die preußischen Rechtszustände als veraltet und unhaltbar erscheinen, besonders gegenüber dem rheinisch-französischen Verfahren.« So muß sich selbst Friedrichs Verehrer Schmoller vor Napoleon verbeugen. Dem berühmten preußischen Landrecht, dessen Entwurf noch gerade vor dem Tode Friedrichs II. veröffentlicht zu werden anfing, wirft der große Savigny vor, daß es die Höhe und Schärfe der Prinzipien des Römischen Rechts aufgebe und doch auch nicht das individuelle Leben voll vergegenwärtige, ein Vorwurf, dessen Berechtigung auch Schmoller zugibt.«

Hegemann: »Sie sehen nur die Fehler. Vergessen Sie nicht die Lichtseiten. Denken Sie zum Beispiel an das, was Schmoller die »musterhafte Ordnung der Finanzen« Friedrichs des Großen genannt hat.«

Manfred: »Schmoller ist so bereit Friedrich zu loben, daß er mich nur zu fesseln vermag, wo er zugestehen muß, daß Lob unmöglich ist. Lassen Sie uns sehen, was das Handwörterbuch der Staatswissenschaften über Friedrichs II. Finanzen zu sagen hat. Der große Artikel »Finanzen« im Handwörterbuch ist zwar nicht von einem Berliner geschrieben; aber der rühmlich bekannte süddeutsche Gelehrte von Eheberg, der ihn schrieb, sagt vielleicht die Wahrheit.« Manfred blätterte und las von Zeit zu Zeit einen Satz vor: »Wie auf allen Gebieten der Staatsverwaltung, so war eben auch auf dem der Finanzverwaltung Friedrich II. der höchste Leiter. Die frühere Behördenzentralisation ging mehr und mehr verloren und wurde durch die Provinzialverwaltungen und besondere selbständige Finanzorgane beschränkt, die direkt mit dem Könige verkehrten. Auf die Dauer wäre ein solcher Zustand unhaltbar gewesen« …; »Von 1766-86 war die Verwaltung der Accise, Zölle und Monopole einer eigenen Verwaltung unter französischen Beamten der ›Regie‹ unterstellt worden; Friedrich Wilhelm II. beseitigte aber die höchst unpopuläre Einrichtung. …; Erst 1787 wurden die bis dahin provinziell verschiedenen Tarife einheitlicher gestaltet.« Das klingt anders als Schmoller. Wenn man Friedrich II. als Finanzverwalter zu verstehen sucht, bekommt man das Bild eines alten Geizhalses, der aus Mißtrauen und Bosheit gegen die Erben absichtlich und unwillkürlich die Übersichtlichkeit der Geschäfte verschleiert, der hier eine Stange Goldes vergräbt oder in einen Strumpf steckt und dort eine Rolle Taler in die Matratze einnäht. Nach seinem Tode hat es Jahre gedauert, bevor es möglich war irgendwelchen Überblick über den »unhaltbaren Zustand«, wie von Eheberg es nennt, zu gewinnen. Bismarck deutet im zweiunddreißigsten Kapitel seiner »Gedanken« an, daß vielleicht Friedrichs II. »Eitelkeit gegen Ende seiner Regierung degenerierte«, so daß er vielleicht absichtlich diese Unordnung gesteigert hat, damit »die Nachwelt den Unterschied zwischen seiner und der folgenden Regierung merken möge«. Wie verworren die Dinge waren, die Friedrich II. hinterließ, geht recht heiter daraus hervor, daß noch heute von zwei so angesehenen Gelehrten wie von Eheberg und von Schmoller der erste den allmählichen »Verlust der früheren Behördenzentralisation« beklagt, während Schmoller zugesteht: »Die staatliche Zentralisation hat ihre Grenzen. Dies Prinzip der Unifizierung und Bevormundung hat der friderizianische Staat überspannt. Die Bürger, die Bauern blieben unselbständig, es mangelte an freier, genossenschaftlicher Organisation auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens«. Wenn dann Schmoller trotzdem sagen zu dürfen glaubt: »Volkswirtschaftlich und finanziell steht Friedrich der Große auf der Höhe seiner Zeit«, so trifft das eben nicht zu, denn damals wurde in der ganzen Welt im Sinne der englisch-französischen Aufklärung gearbeitet und in manchen Ländern viel ernsthafter als in Preußen. Hören Sie wieder von Eheberg: »Die Grundsteuerreform Karls VI. in der damals österreichischen Lombardei und die Steuerrektifikationen unter Maria Theresia und Joseph II. stellen, wie (der Berliner) Adolf Wagner mit Recht hervorhebt, das Wichtigste dar, was zur Herbeiführung einer allgemeineren und gleichmäßigeren, direkten Besteuerung vor dem neunzehnten Jahrhundert in einem Großstaate Europas geschah.« Aber die preußischen Geschichtschreiber haben den Mut zu behaupten, Deutschland mußte vor Maria Theresia gerettet werden, um an friderizianischem Wesen zu genesen.«

Hegemann: »Aber Sie müssen doch zugeben, daß Friedrich wenigstens eine mustergültige Sparsamkeit übte.«

Manfred: »Ich kann den Erbauer des »Neuen Palais« nicht sparsam nennen. Friedrichs eigentümliche Sparsamkeit hat Manfred im fünften Gespräch eingehend erörtert.Aber er hatte die fixe Idee seines Vaters, möglichst viel Edelmetall aufzuspeichern; mit diesen der Volkswirtschaft entfremdeten Schätzen gedachten diese »großen« Preußenkönige dann umso erfolgreicher gegen Kaiser und Reich kämpfen zu können.

»Man weiß, wie Friedrich II. im Jahre 1775 berechnete ( Oeuvres IX, S. 183), daß seine Ersparnisse es ihm 1778 wieder erlauben würden, mit seinem rühmlich geprügelten Heere gegen die deutsche Kaiserin zu marschieren; und er hat es dann ja auch mit großen Unkosten versucht. Nennen Sie das Sparsamkeit?«

Hegemann: »Es ist traurig, wie Sie dem großen König alles abstreiten wollen. Ein paar Federn müssen Sie ihm doch lassen.«

Manfred: »Mir scheint, er muß sie alle lassen, denn sie gehören ihm nicht.«

Hegemann: »Denken Sie an seine großartige innere Kolonisation, die auch Goethe anerkannt hat, als er dem Kolonisatoren Friedrich dem Großen im zweiten Teil des »Faust« ein Denkmal setzte.«

Manfred: »Ich kann mir gar nicht denken, daß der große alte Goethe, der die Bedeutung der Besiedelung Westamerikas erkannte, beim zweiten Teil des Faust noch an die Lappalien Friedrichs II. gedacht hat. Der lobredende Berliner Professor Schmoller läßt alle Hohenzollern zusammen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert nur 30 000 bis 40 000 Kolonistenbauern und 100 000 Kleinbauern und Häusler ansiedeln.«

Hegemann: »Wollen Sie diese treue Kleinarbeit nicht ehren? Sie dürfen nicht erwarten, daß man im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert schon die Siedler millionenweise und die Städte hundertweise aus der Erde stampft, wie das im neunzehnten Jahrhundert in Amerika möglich war.«

Manfred: »Millionen von Siedlern jedes Jahr wie bei uns, das vielleicht nicht. Aber Städte hundertweise, warum nicht? Im dreizehnten Jahrhundert gründeten die Engländer in Südfrankreich allein zwanzig Städte, und gleichzeitig gründeten die Deutschen in Böhmen allein hundert Städte. Sie rühmen Friedrichs II. Kleinarbeit. Jedes Ding hat seine Zeit. Damals wurde die Welt verteilt, und ein genialer Fürst mit einem großen Heere hätte damals etwas Großartigeres leisten können als mit wahrscheinlich unverhältnismäßigem Kapitalaufwand ein paar tausend Bauernhöfe auf minderwertigem Boden zu schaffen. Friedrich II. wollte der »immerwährende Generalleutnant der Reichstruppen« seines Schattenkaisers, Karls VII., »Marionette« von Frankreichs Gnaden, sein; hätte er sich statt dessen mit Geist und Kraft zum Generalleutnant Maria Theresias gemacht, wie vor ihm Prinz Eugen es getan hatte, dann hätte er den Deutschen ein Stück des verlorenen Kolonialreiches der Habsburger zurückerobern und wie Faust sprechen können:

Eröffn' ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.

.. .. .. .. .. .. .. .. ..

Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.

»Für die Millionen deutscher Ansiedler, die in die Fremde gehen mußten, war kein deutsches Siedlungsland gesichert worden; sie wurden »Kulturdünger« fremder Kolonialreiche. Statt dessen 140 000 Bauern in zwei Jahrhunderten! und jedermann soll vor Bewunderung über diese Leistungen ersterben.

»Vor den Toren des damals noch großen Deutschen Reiches warteten die unendlich fruchtbaren Ländereien des Balkan und dahinter Kleinasien auf deutsche Siedler; wäre das nicht alles ebenso unvermeidlich und fast automatisch den Deutschen zugefallen wie Sibirien den Russen, wenn nicht der große König der Preußen ohne staatsmännischen Fernblick lieber im eigenen Vaterlande »gerauft hätte, um sich einen Namen zu machen«, wie er es nannte? Ohne Friedrich II. wären die Ansprüche, wie sie Joseph II. 1781 auf die Walachei westlich der Aluta, auf Teile Albaniens und Serbiens, auf Bosnien und die Herzegowina in seinen Verhandlungen mit der höchst bereitwilligen Katharina von Rußland erhob, leicht durchsetzbar gewesen, jedenfalls viel leichter als heute, wo derartige kolonialpolitische Ziele zu spät für richtig gehalten werden sollen. Ohne Friedrich II. wäre jedenfalls Maria Theresias Ansiedlungstätigkeit im Osten von höchster staatsmännischer Bedeutung gewesen; verglichen damit scheint mir Friedrichs II. vielgerühmtes kolonisatorisches Bemühen eine verhältnismäßig belanglose innere Angelegenheit. Maria Theresia erhob Siebenbürgen zum Großfürstentum; dort wohnen heute 250 000 Deutsche, und es würden dort zehnmal so viele Deutsche wohnen, wenn die friderizianischen Bruderkriege das Denken der Machthaber nicht überwiegend auf Krieg und Kriegsrüstung und das Denken der Untertanen auf Flucht vor den Machthabern gelenkt hätte.«

Hegemann: »Ich glaube Sie übertreiben.«

Manfred: »Lesen Sie Nettelbecks Lebensbeschreibung. Dieser berühmte Preuße schildert, wie die Bürgerssöhne seiner Vaterstadt vor der »heillosen und unmenschlichen Art« und den »grausamsten Mißhandlungen« der preußischen »militärischen Fuchtel« flohen, wie die holländischen Kolonien »eher deutsche Kolonien« zu nennen und wie zum Beispiel in Surinam »die Plantagenbesitzer großenteils seine näheren oder entfernteren Landsleute« waren. Deutsche Kraft ist in heilloser Weise vergeudet worden. Vergessen Sie nicht, daß der Nationalitäten-Wahnsinn der Splitter-Natiönchen, der heute den Balkan verheert, erst im neunzehnten Jahrhundert ausgebrochen ist und wahrscheinlich als Folge des Versagens deutscher Kulturmacht gedeutet werden muß. Wenn in Deutschland die menschliche Würde Goethes und des Freiherrn vom Stein nicht doch schließlich von der Menschenverachtung und Prügelwirtschaft erdrückt worden wäre, wenn es in Deutschland statt friderizianischer »Rauflust« ein gebildetes Königtum, wenn es ein in Goetheschem Sinne gebildetes Deutschland gegeben hätte, wie kann man zweifeln, daß der Balkan mit derselben Unvermeidlichkeit deutsch geworden wäre, mit der die Elsässer und Lothringer französisch, oder wenn Sie vorziehen, die sibirischen Stämme russisch wurden?

»Statt die kolonisatorischen Leistungen der Hohenzollern zu bewundern, sollte man vielleicht einmal die Gegenrechnung aufmachen und sich über die Wirkungen klar werden, welche die Flucht vor preußischer Militärsklaverei und die zeitweise Entvölkerung des Landes, wie sie Professor Max Lehmann in den westlichen Provinzen zahlenmäßig feststellte, für die Entwicklung Preußen-Deutschlands gehabt hat. Es kann wohl kaum Zweifel sein, daß es die Tüchtigeren waren, die flohen und in der Fremde Plantagenbesitzer wurden. Was zurückblieb und sich der preußischen Barbarei unterwarf, ist wahrscheinlich doch gerade der geeignetste Nährboden für den »preußischen Lakaiengeist« gewesen (wenn ich mich eines von Theodor Storm während seiner Potsdamer Zeit geprägten Ausdruckes bedienen darf), der vielleicht erstaunliche Leutnants ins elsässische Zabern schicken, aber keine kolonisatorischen Eroberungen machen kann.

»Und was wäre es viel, wenn Sie auch das ganze von Friedrich II. so teuer erkaufte Schlesien als deutschen Neugewinn rechnen dürften?

»Was sind alle diese preußischen Errungenschaften verglichen mit den nie wieder gutzumachenden Opfern, die der preußischen Eigenbrötelei gebracht worden sind. Man vergißt viel zu leicht, daß der sechsundvierzigjährige Bürgerkrieg, den Friedrich II. als Krieg der Waffen oder der Diplomatie oder als Handelskrieg gegen den deutschen Kaiser führte, daß dieser furchtbare innere Verwüstungskrieg Deutschland aus der Reihe der Großmächte gerade in dem Augenblick strich, in dem die Umwälzungen in Frankreich für ein einmütiges Deutsches Reich die Zurückeroberung der verlorenen Provinzen und, während des Kampfes zwischen England und Frankreich, die Erwerbung der fehlenden Kolonien leicht oder wenigstens möglich gemacht hätte. Man macht sich nicht recht klar, daß Deutschland heute eines der großen Weltreiche sein könnte ohne die diplomatischen und poetischen Unschicklichkeiten und Eitelkeiten dieses hysterisch rasenden Preußen-Rolands Friedrich II.«

Manfred, der warm zu werden begann, lachte und rief: »Ereifere ich mich nicht, als wäre ich selber ein Deutscher? Aber kann man es denn ruhig ansehen, wie die Deutschen mit ihrem »großen König« hereingefallen sind? Ist das fairplay?« Manfred lachte wieder und fuhr, wieder gleichmütig, fort: »Jedenfalls scheint mir Lord Macaulay in seinem kurzen »Versuch über Friedrich den Großen« der von Herrn Thomas Mann aufgestellten Forderung heroischen Humors besser zu genügen als Carlyle in seinen sechs Bänden. Hören Sie, wie Macaulay Friedrichs II. »heroische Schwachheiten« würdigt.« Manfred hatte Macaulays » Essays« in der Hand und las übersetzend folgende auf den Siebenjährigen Krieg bezügliche Stelle vor:

»»Es ist schwer zu sagen, ob das Tragische oder das Komische vorherrschte in den eigenartigen Auftritten, die sich damals abspielten …; Der große König ist umgeben von Feinden, er trägt Verzweiflung im Herzen und hält Gift in Bereitschaft, aber ihm entsprudeln Hunderte und Hunderte von Versen, Göttern und Menschen ungenießbar, der schale Bodensatz der Voltaireschen Quelle, das schwächliche Echo der Muse Chaulieus …; Wir kennen kaum ein ähnlich überraschend groteskes Beispiel der Stärke und Schwäche der menschlichen Natur als den Charakter dieses trotzenden, wachsamen, entschlossenen, scharfsinnigen Blaustrumpfes, halb Mithridates, halb Trissotin, der sich mit einer Unze Gift in der einen Tasche und einem Bündel schlechter Verse in der anderen einer Welt von Feinden entgegenstemmt.««

Thomas Mann, dem wohl Macaulays leichte Art von der Not des Königs zu sprechen ebenso bedenklich schien wie mir, sagte nicht ohne Nachdruck: »Damals standen Völker in einer Kopfzahl von beiläufig hundert Millionen gegen ungefähr fünf Millionen; vierzehn Fürsten gegen einen; siebenhunderttausend Mann Truppen gegen zweihundertsechzigtausend.«

Manfred: »Ja, das wird oft betont, – als ob Friedrich der Welt getrotzt hätte wie Ludwig XIV. oder Napoleon – obgleich es doch höchstens auf eine sehr kurze Frist, nach dem englisch-französischen Vertrag von Kloster Zeven, zutrifft; und selbst damals nicht, weil damals ja gerade die Russen sich auf verfrühte Gerüchte vom Tode der Kaiserin zurückzogen. Damals schien Friedrich für einige Wochen in der Luft zu hängen. Aber es schien doch nur so. Die englische Regierung sah in Friedrich die tüchtige Puppe, deren sie sich bediente, um »Amerika in Deutschland zu erobern« wie der allmächtige Pitt es nannte, – von Indien, dem Kronjuwel der Engländer, das nebenbei damals auch noch den Franzosen entrissen wurde, schwieg Pitt; diese englische Regierung hat den Vertrag von Kloster Zeven nie anerkannt; sie war keineswegs gewillt, den brauchbaren Preußenkönig so früh zu entlassen. Friedrich, statt allein zu stehen, war im Gegenteil seiner allseitigen Unentbehrlichkeit so sicher, daß er die neuen britischen Geldangebote so lange unbeantwortet ließ, bis er seine Hoffnung in französische Gefolgschaft zurückkehren zu dürfen gescheitert sah.« (Vgl. Koser, II, 125.) »So blieb er denn nach wie vor der General der ersten Großmacht der Welt, eine Rolle, die ja schließlich vorteilhafter war als wieder für die Franzosen zu marschieren, die 1745 auf sein Gesuch um vier Millionen Taler Unterstützung ihm nur etwa die Hälfte bewilligen wollten. Immerhin, er »entsagte den Franzosen« {Verw. auf Anmerkung} ungern und schrieb nur mit Bedauern gleich nach Roßbach an die Schwester Wilhelmine: »Ich muß Ihnen mitteilen, daß neue Vereinbarungen, die ich mit den Engländern getroffen habe, es mir unmöglich machen, einen Sonderfrieden mit den Franzosen zu schließen.««

»In Englands und Frankreichs weltgeschichtlichem Kampfe um die Herrschaft der Welt wählte Friedrich unbekümmert um deutsche Vorteile und Aussichten jeweils die Partei, die seinem preußischen Partikularismus Vorteil zu verheißen schien. Während des österreichischen Erbfolgekrieges war er zweimal für die Franzosen marschiert. In l'Histoire de mon temps erklärt Friedrich, daß er mit den finanziellen und militärischen Leistungen der Franzosen unzufrieden war, und rühmt die Engländer, für die er seit 1756 marschierte, folgendermaßen: »Von allen Völkern Europas ist das englische das wohlhabendste; sein Handel umfaßt die ganze Welt, seine Reichtümer sind übermäßig, seine Hilfsquellen fast unerschöpflich«... »gestützt auf diese Reichtümer konnte der König von England Heere aus der Erde stampfen und die entlegensten Winkel der Erde mit Krieg überziehen.«

»Und es war nicht nur vorteilhaft, für die Engländer zu kämpfen, sondern es wurde notwendig, denn Friedrich hatte noch unbekümmert gegen die Herrscherinnen Frankreichs, Rußlands und Österreichs gewitzelt und gedichtet, als vom Grafen Kaunitz in Paris dem Witzigen bereits der Boden unter den Füßen weggenommen worden war.« Hier warf Thomas Mann nachdenklich ein: »Ja, Friedrich verachtete und brüskierte sie alle drei bis zur vollkommenen politischen Unklugheit. Laut, bei Tische, in Gegenwart der Lakaien, nannte er sie »die drei ersten Huren Europas«, obgleich oder vielmehr weil er wußte, daß den Spionen der fremden Höfe keine seiner Bemerkungen entging.« Manfred: »Ja, Friedrich war eigentümlich witzig, und als er endlich merkte, was ihm in Paris zugestoßen war, dachte er, mit seinem Übergang zu England und Rußland einen geschickten Gegenzug zu machen, und war doppelt betrogen, einmal, indem er damit gerade – zur Freude des wirklich gewandten Kaunitz – den bis dahin fehlenden Anstoß lieferte, der Frankreich endgültig dem Kaunitzschen Bündnis in die Arme trieb, und zum anderen, indem die Zarin, die von Friedrich gleichzeitig der Welt als »Hure« vorgestellt und als preußische Bundesgenossin in Anspruch genommen wurde, sich plötzlich zurückzog, weil sie sich von England nicht zur Bundesgenossin Friedrichs » prostituieren« lassen wolle, wie sie sich ausdrückte. Die Einzelheiten über diese Glanzleistung friderizianischer Diplomatie kann man in den Veröffentlichungen aus den preußischen Staatsarchiven heute in überraschender Ausführlichkeit nachlesen. Die Absicht solcher, für Friedrichs Bild scheinbar ungünstigen Veröffentlichungen ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen und so zu zeigen, wie groß Friedrich II. gewesen sein muß, daß er solche Torheiten begehen durfte. Die Torheit sieht jeder; die durch sie bewiesene Größe Friedrichs zu sehen, ist Preußen vorbehalten.«

Thomas Mann: »»Friedrichs Verteidigung«, sagt Ranke, »gab ihm ein hohes Ansehen in der europäischen Staatenwelt. König Friedrich wurde, indem er sich verteidigte, zum großen Mann des Jahrhunderts.««

Manfred: »Und ganz ähnlich wie der Berliner Ranke sang der Gefangene auf Hohenasperg und wurde zur Belohnung dafür aus dem Gefängnis geholt:

Sieben Jahre flog Friedrich
Wie der Rachestrahl Gottes im Wettergewölk
Unter seiner Feinde
Schwarzen Scharen umher.

.. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..

Der Rauch von Friedrichs festen Städten
Wirbelte mit dem Jammergeächz
Der Säuglinge und Kranken gen Himmel,
Daß Engel ihr Antlitz bargen und trauerten.
Aber der Held stand mit der Rache gezücktem Schwerdt.

.. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..

Ja, so stand er sieben Jahre im Felde des Todes,
Hehr und frei, und groß, wie ein Gott.

»Das blutige Hin- und Herspringen, mit dem Friedrich II. die ersten dreiundzwanzig Jahre seiner Regierung ausfüllte, nennt man in Preußen stolz den ersten, zweiten und dritten Schlesischen Krieg,– das klingt würdevoll nach geschichtlicher Vergangenheit; in Reuß jüngerer Linie ist man stolz darauf, daß man einen Heinrich XXVII. als Alleinherrscher aller Reußen verehren darf – als ob die greulichen querelies allemandes, die Friedrich vom Zaun brach, für die Deutschen nicht die durchaus einheitliche Bedeutung hätten, daß sie Deutschland schwächten und im Kampfe um die verlorenen Provinzen und um den »Platz an der Sonne« unterliegen ließen, im Augenblick, wo noch Hoffnung war. Tacitus hat die Weisheit Richelieus und des Westfälischen Friedens vorweggenommen, für die Friedrich II. kämpfte; Tacitus sagte: »Mögen die Deutschen nie aufhören, sich zu beneiden und zu bekriegen!« Ausland und Inland wird sie deswegen bewundern.«


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