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»Wie königlich ernst und wirklich würdig Ludwig XIV. den religiösen Fragen nachgegangen ist, zeigen nicht nur die Begebnisse mit Molières »Tartuffe«, sondern das steht auch auf dem Ruhmesblatt von Ludwigs Beziehungen zu Racine geschrieben. Denn Ludwig kannte ja nicht nur und beschützte nicht nur alle großen Schriftsteller seines Reichs, sondern die vorzüglichsten unter ihnen waren seine nahen Freunde. Welche Bedeutung und auch welche grimmige weltgeschichtliche Heiterkeit weht aus den Berichten über die Freundschaft Ludwigs mit Racine! Ludwig hat den jungen Racine entdecken helfen, der König hat Stücke von ihm gegen die Stimme der unfreundlichen öffentlichen Meinung verteidigt und – cave Canitz! es war keine friderizianische Verteidigung – mit Recht verteidigt und gehalten. Racines Character wird von Neueren in Frage gezogen. Der Strom der Welt, der den »Charakter« des Dichters bilden soll, brauste in Versailles gewaltiger als in Weimar; doch Racine wußte sich in die große Welt zu finden wie hundert Jahre später Goethe in das Treiben des Duodezhöfchens. Racinesche und Goethesche Stimmungen aus diesen beiden Zeitabschnitten sind verwandt: »Ich bin schon halb zum Höfling geworden, ein ziemlich langweiliges Geschäft für meinen Geschmack«, schrieb Racine (1663) nach einem »Lever« des Königs. Als wäre es über Goethe, schrieb ein Höfling über seinen Zeitgenossen Racine: »Für einen Mann, der aus dem Nichts kommt, hat er leicht das höfische Gebaren angenommen. Die Schauspieler hatten ihm eine falsche Vorstellung davon gegeben; dem hat er abgeholfen, und er läßt sich überall sehen, sogar neben dem Bette des Königs, wo er manchmal die Ehre hat vorzulesen, was er besser kann als irgendjemand«, besser vielleicht als de Prades, de Catt und andere Vorleser, denen Friedrich der Große vorlas. Im Jahre 1677, während Ludwigs XIV. zweitem Eroberungskriege, wurde »Phèdre« vollendet und von gehässigen Gegnern zu Falle gebracht; Racine zog sich von der Bühne zurück, kehrte zu den frommen Lehrern seiner Jugend, den bühnefeindlichen Jansenisten, zurück und heiratete eine fromme Hausfrau, die ihn glücklich machte und die (wie später die weniger fromme Christiane Vulpius) nicht einmal den Namen der sündhaften Trauerspiele ihres Gemahls kannte. Der König zahlte dem Dichter ein Jahresgehalt und machte ihn, als er der tragischen Muse ungetreu geworden war, zum königlichen Historiographen. Vorübergehend gelang es dem König und seiner Freundin, Frau von Maintenon, Racine zur Dichtkunst zurückzuführen. Auf ihre Bitten schrieb der Dichter 1689 und 1691 seine beiden geistlichen Stücke und verstummte, als das letzte, sein Meisterwerk, wieder – nicht beim König – aber bei der Partei der Frömmsten am Hofe Widerspruch fand und nur im engsten Kreise für Frau von Maintenon und den König gespielt werden konnte. Der breitere Erfolg des Stückes setzte erst 1699 ein, im Todesjahre Racines. Auch in der Würdigung dieser »Athalie«, des größten Trauerspieles, ist Ludwig XIV. seiner Zeit vorangegangen, obgleich er – oder soll man sagen: weil er? – eine ähnliche religiöse Umwandlung durchmachte wie vorher Racine. Während Racine zum Jansenismus seiner Jugend zurückkehrte, wurde der König streng katholisch. Trotzdem Racine diesen Gegensatz, vielleicht mehr als nötig war, betonte, blieb die Freundschaft zwischen Dichter und König unerschüttert. Seit 1696 hatte Racine eine Wohnung im Schloß von Versailles. In der enger werdenden Vertraulichkeit zwischen den drei Sechzigjährigen – Frau von Maintenon war drei Jahre älter als der König, Racine war ein Jahr jünger – sollen sich die so lächerlichen und die so traurigen Auftritte zwischen Dichter und König abgespielt haben, von denen man so oft hört. Aber Saint-Simons Unzuverlässigkeit ist hier nachgewiesen, obgleich seine Mitteilungen über Ludwig XIV. und Racine so gut erfunden sind, daß man sie nicht gern missen möchte. Gesetzt wirklich, der König habe – wie Georg Brandes meint – sich in früheren Jahren einmal etwas gegen Molière zuschulden kommen lassen, hätte er nicht in der ausgiebigsten Weise – oder soll man sagen: in der rührendsten oder in der lächerlichsten Weise – für diese Sünde gegen den Heiligen Geist (ich spreche von Molière) Buße getan? Kann es etwas eigentümlich Scherzhafteres geben als den Sonnenkönig, der 1685 religiös und – durch die Widerrufung des Ediktes von Nantes – einer der größten Christenverfolger aller Zeiten wurde und der im selben Jahre trotz des schimpfenden Grolles der Liselotte und trotz des erbitterten Widerspruches seiner anderen Verwandten die alte, hugenottische und vielverleumdete Witwe des Possendichters Scarron heiratete und dann dreißig Jahre lang in nie geschmälerter ehelicher Eintracht mit ihr regierte. Denn Frau von Maintenon regierte ja mit, wie sehr sie es auch mit unnachahmlichem Takt zu verheimlichen suchte, daß der große König, der vor allem keine Weiberröcke in der Politik duldete, mit ihr eine Ausnahme zu machen geruhte. Der König arbeitete acht bis neun Stunden täglich (meinte er gar: »ich habe keine Zeit – Dichter zu sein«?); alle Ministersitzungen wurden in ihrem Zimmer abgehalten. Freitags kamen keine Minister, aber statt ihrer wurde oft Racine gebeten. Da soll denn einmal der König den Dichter gefragt haben: »Wie kommt es nur, daß seit Molière keine guten Lustspiele mehr geschrieben werden?« Und Racine soll wie ein zerstreuter Gelehrter geantwortet haben: »Was dürfte man für die französische Bühne noch hoffen, nachdem der Geschmack des Volkes durch die unanständigen Stücke Scarrons rettungslos verdorben worden ist?« Hierauf soll die greise Königin, verwitwete Scarron (die Begräbniskosten des ersten Gemahls sind unbezahlt geblieben), errötet und Racine verlegen verstummt sein, und nach einigem Schweigen soll Ludwig den Dichter gefragt haben, ob er wirklich an diesem Abend noch arbeiten gehen wolle. Racine soll die Ungnade des Königs, der ihm künftig kein Wort mehr gegönnt hätte, nicht verwunden haben und bald darauf vor Kummer gestorben sein. Über die Ursachen dieser Ungnade gibt es noch einen anderen Bericht – Voltaire und die Schulbücher haben ihn übernommen –, der aber auch als irrig oder mindestens als sehr zweifelhaft nachgewiesen ist. Ludwig XIV. soll in den Händen der Frau von Maintenon eine Denkschrift über die Leiden des niederen Volkes gefunden haben, die auf ihren Wunsch von Racine verfaßt war. Als der König den Namen des Verfassers – den sie zu verschweigen versprochen hatte – erfuhr, soll er gerufen haben: »Meint Racine, weil er ein großer Dichter ist, könne er auch Minister sein?« und der Kummer über die königliche Ungnade soll Racines Tod beschleunigt haben, wie ja auch der große Vauban vor Gram gestorben sein soll, nachdem sein bedeutender Vorschlag für gerechtere Verteilung der Steuern dem König mißfallen hatte. Heute weiß man, daß die gelegentlichen Abkühlungen der Freundschaft zwischen Ludwig XIV. und Racine nur die Festigkeit oder den Eigensinn zur Ursache hatten, mit denen Racine seine religiöse jansenistische Überzeugung gegen die katholische des Königs betonte, und daß die Freundschaft trotzdem gedauert hat, und zwar bis zum Tode des Dichters, der bis zuletzt alle daraus erwachsenden Vorteile genoß. Boileau, ein anderer bedeutender Dichter aus dem Freundeskreise Ludwigs XIV., berichtet, daß der König bei der Nachricht vom Tode Racines so traurig wurde, »daß die Höflinge Lust bekämen zu sterben, wenn sie hoffen dürften, der König würde sie dann ähnlich auszeichnen«.
»Die Betrachtung der größten Zeit der französischen Literatur beweist also, daß ein König der Literatur Segen bringen kann. Wenn Friedrich II. sich rühmt, der deutschen Literatur den größten Dienst erwiesen zu haben, indem er sich geistig expatriierte (das heißt auf deutsch wörtlich: indem er geistig »verelendete«) und den Absentismus, der sich auf wirtschaftlichem Gebiete als eine der größten Gefahren erwiesen hat, auf geistigem Gebiete nachahmte, so mag das bei seiner Veranlagung und seiner mangelhaften Erziehung das Beste gewesen sein, dessen er fähig war, aber Ludwig XIV. hat Besseres vermocht.«