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Bevor ich von den sieben Gesprächen über das Königsopfer berichte, muß ich eine eigentümliche Unterhaltung kurz erwähnen, von der ich kurz vorher gegen meinen Willen Zeuge geworden war und die mir wie ein Schlüssel zu den überraschenden Gedankengängen der folgenden Gespräche erscheint. Ich arbeitete in einer seitlichen Büchernische der Ellis'schen Bibliothek, als Ellis mit einem französischen Gaste, wie auf der Suche nach einem Buche, in lebhafter Unterhaltung und ohne mich zu bemerken, den Saal von der Terrasse her betrat. Der Franzose war ein hoher Offizier, und ich hatte andeutungsweise erfahren, daß er Ellis im Zusammenhang mit den fast erbitterten Unterhandlungen besuchte, die damals zwischen England und Amerika geführt wurden und die sich um die international bedeutsame Frage drehten, ob Amerika trotz entgegengesetzter Vereinbarung den Panamakanal befestigen dürfe, für den es in der Republik Kolumbien einen Staatsstreich begünstigt und seit 1903 über anderthalb Milliarden Mark verausgabt hatte. Es soll 1913 weitsichtige Franzosen gegeben haben, die schon damals größten Wert auf die künftige Bewahrung eines guten Verhältnisses zwischen England und Amerika legten, während ich Grund hatte zu glauben, daß Ellis seinen Einfluß für freundschaftliche Beziehungen zwischen seiner Heimat und Deutschland einsetze, über das er manchmal fast allzu günstig urteilte. Die kurze Unterhaltung, deren unfreiwilliger Zeuge ich wurde und von der ich mich nach kurzem, halberstarrtem Zuhören geräuschvoll entfernte, verlief – ich erinnere mich fast jedes Wortes – wie folgt:
Der Franzose: »Mein Herr, ich bin sicher, daß Sie sich über die Rolle irren, die Deutschland in der künftigen Geschichte Europas zu spielen berufen ist. Ich wiederhole, gerade der größte Staatsmann, den Deutschland hervorgebracht hat, der eben von Ihnen gerühmte große Friedrich, hat diese Rolle vielmehr vollkommen richtig eingeschätzt, indem er sein Leben lang auf die Vernichtung der deutschen Kaisermacht drang, indem er Preußen kulturell nur als Vasallenstaat Frankreichs sehen und die westlichen Teile des Deutschen Reiches einschließlich Flanderns, Elsaß-Lothringens und der preußischen Besitzungen im Westen an die geistige Mutter Frankreich, die Trägerin aller kontinentalen Zivilisation, ausgeliefert sehen wollte.«
Manfred Ellis, der sich meines Wissens bis dahin noch ziemlich wenig mit Friedrich dem Großen beschäftigt hatte, lachte ungläubig und rief:
»Herr General, den Beweis für diese erstaunliche Behauptung bleiben Sie mir schuldig.«
Unterdessen schienen die Herren am Ziel ihres Besuches der Bücherei angekommen zu sein. Sie machten vor den Werken Friedrichs des Großen halt. Der Franzose sagte: »Hier haben Sie Friedrichs des Großen Histoire de mon temps in der Redaktion von 1746, Publikation aus den preußischen Staatsarchiven 4, 206. Erlauben Sie mir, Ihnen folgenden Satz vorzulesen.« Und der Franzose las Worte Friedrichs II., die ich nach der genannten Quelle folgendermaßen übersetze: »» Sie brauchen nur eine Landkarte in die Hand zu nehmen, um sich zu überzeugen, daß die natürlichen Grenzen Frankreichs bis zum Rhein reichen, dessen Lauf ausdrücklich gemacht zu sein scheint, um Frankreich von Deutschland zu trennen, um die Grenzen dieser Länder festzulegen und zu bestimmen, wo ihre Herrschaft aufhört.«« In Friedrichs des Großen eigener Sprache lauten seine Worte: » Il n'y a qu'à prendre en main une carte géographique pour se convaincre, que les bornes naturelles de cette monarchie semblent s'étendre jusqu'au Rhin, dont le cours paraît formé exprès pour séparer la France de l'Allemagne, marquer leurs limites et servir de terme à leur domination.«
Nach dieser Verlesung friderizianischer Worte schwieg Manfred wie überrascht oder verstimmt. Der Franzose fuhr fort: »Mein Herr, lassen Sie sich nicht irre machen durch den haltlosen Ehrgeiz der deutschen Nationalisten der letzten Jahrzehnte. Deutschlands prophetischster Staatsmann, der große Schüler Voltaires, hat mit dem unbeirrbaren Blicke des wahren »Realpolitikers« ( sic) die Unmöglichkeit, die innere Hohlheit der Träumereien von zentraleuropäischer Weltmacht und deutscher Kaiserherrlichkeit vorausgesehen. Dabei muß es bleiben und wird es bleiben. Nachdem Friedrichs des Großen Lebensziel, die Vernichtung der deutschen Kaisermacht, schon einmal erreicht worden ist, können die Ambitionen der Bismarckschen Schule nur ein vorübergehendes, schädliches Zurückfallen in einen glücklich überwundenen Zustand darstellen. Preußen darf nie vergessen, welche historische Rolle im Kampfe gegen den kaiserlichen Ehrgeiz der Zentralmächte ihm sein großer König zugedacht hat; seine eigene Tätigkeit schilderte Friedrich: »Den Franzosen verschaffe ich Nachricht über die Absichten des Kaisers, und ich dränge Frankreich, die Türken gegen Österreich zu mobilisieren.« So oder so ähnlich schrieb der große König in seinem politischen Testament von 1752, das einer seiner wärmsten preußischen Bewunderer »die großartigste Urkunde unter allen Kundgebungen seines Genies« genannt hat. Es war verhängnisvolle Verblendung Bismarcks, daß er seine Hände wieder nach Elsaß-Lothringen ausstreckte, das doch durch eigenhändiges Eingreifen Friedrichs des Großen 1744 uns Franzosen sichergestellt worden ist. Bismarck hat Friedrichs Testament mit Füßen getreten. Für Deutschland muß jedes Abweichen von den friderizianischen Grundsätzen Verderben bedeuten. Nur im Geiste Friedrichs des Großen kann Deutschland bestehen.«
Manfred schwieg nachdenklich. Schließlich antwortete er: »Mir sagte einmal der preußische Historiker Erich Marcks, der Bismarck gekannt hat: »Ich weiß nicht, ob ich aus einigen Äußerungen Bismarcks über den großen König mit Recht etwas wie eine leise Abneigung herausgehört habe; begreiflich wäre sie wohl««.
Ich stand auf und ging hinaus.
Ohne den Namen des französischen Gastes nennen zu dürfen, brauche ich nicht zu verschweigen, daß er gelegentlich des Friedensdiktates von 1918 eine für Deutschland gefährliche Rolle gespielt und beinahe vermocht hat, Friedrichs des Großen Forderung des Rheines als natürlicher Grenze Deutschlands noch über das schon von Friedrich selbst durchgesetzte Maß hinaus zu verwirklichen. Die in den folgenden sieben Gesprächen mitgeteilten Ausführungen Manfreds deute ich mir großenteils als Reaktion, der sich vielleicht etwas wie Ärger beimischte, gegen die friderizianische Prophetie; ihre Mitteilung aus französischem Munde hatte ihn augenscheinlich überrascht und auf eine unliebsame Lücke in seiner Bildung aufmerksam gemacht. Jedenfalls erhielt Ellis am folgenden Tage von der deutschen Buchhandlung Detken und Rocholl an der Piazza del Plebiscito eine umfangreiche Sendung staubgrauer Drucksachen über Friedrich den Großen. Einige Tage später fand das erste von den sieben Gesprächen über das Königsopfer statt, bei dem mich Ellis mit allerlei Enthüllungen über meinen Lieblingshelden zu necken anfing.
Das erste Gespräch brachte noch verhältnismäßig wenig über Friedrich den Großen und das friderizianische Preußen, und selbst das Wenige, wie es im folgenden zusammengefaßt mitgeteilt wird, ist nur leicht und hängt so lose mit diesen wichtigen Gegenständen zusammen, daß es vom eiligen Leser füglich übergangen wird. Dasselbe trifft auf die später mitgeteilten Auszüge aus dem dritten Gespräche zu.
Ganz weglassen kann ich diese einleitenden Gespräche aber nicht, weil sie mit ihren eigentümlichen Hinweisen auf den Iphigenien-Mythos gleichsam die Bühne aufschlagen für die anschließenden Erörterungen über die Friedrich-Legende. »Sind doch«, so hatte ich Ellis schon früher einmal spotten hören, »beide, Iphigenie und Friedrich, Königskinder, die auf Befehl des eigenen Vaters oder später auf eigenen Wunsch der Staats raison geopfert und durch Eingreifen höherer Mächte (Dianas, oder des deutschen und später des russischen Kaisers oder der heiligen Elisabeth) gerettet werden! Hat doch Friedrich II. selbst eine Iphigenie gedichtet! Hat er doch selbst das hehre Ideal männlicher Keuschheit (das vom Urbild der deutschen Iphigenie, von Frau v. Stein, ihrem Dichter Goethe zehn Jahre lang beinahe mit Erfolg empfohlen wurde) am eigenen Leibe viel besser als Goethe verwirklicht! Hat doch Goethe gleichzeitig gegen Friedrich den Großen intriguiert und an »Iphigenie« gedichtet! Diese Dinge sind untrennbar. Bedenken Sie auch: als Friedrich 1754 und 1755 seine feinsinnigen Aufträge für den Ankauf von Gemälden in Paris, »Tisiens, Veronesse und Corege« erteilte, verlangte er ausdrücklich »hübsche große Tableau de galerie, aber keine die Bilder »huntzfotiesche heilige, die Sie Märteren«, statt dessen wollte er das Bild einer »Ifignie en aulide«, da ihm Iphigenies Märtyrertum also augenscheinlich angenehmer war als das »hundsföttischer« Christen.«
Das erste der hier aufgezeichneten Gespräche begann verheißungsvoll genug. Manfred Ellis schilderte seine ersten preußischen Erlebnisse und den Eindruck, den im preußischen Gymnasium die Behandlung der Goetheschen Iphigenie auf ihn gemacht hatte. Wie sein aus seiner Studentenzeit stammendes Lustspiel »Iphigenie« beweist, hat er früh angefangen, sich mit dem Geschick dieser vom Opfertode geretteten Königstochter zu beschäftigen.