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Goethes diplomatischer Feldzug gegen Friedrich II., der Fürstenbund und der Verlust Belgiens

Manfred: »Ja, ich wollte Ihnen vorhin erzählen, wie eigentümlich der Freiherr vom Stein in Friedrichs II. Fürstenbund-»Posse« verwickelt wurde.«

Hegemann: »»Posse«!? ich muß wirklich bitten …; Vom Fürstenbund las ich gerade gestern noch in der »Deutschen Tageszeitung« {Verw. auf Anmerkung}, daß er Friedrichs Wendung von preußischer zu national-deutscher Politik darstellt!«

Manfred: »Verzeihen Sie! Den Ausdruck »Posse« lieh ich von Ernst Moritz Arndt, dessen deutscher Patriotismus mir bisher zuverlässiger erschien als die »Deutsche Tageszeitung«. Arndt sagt in »Geist der Zeit«: »Eben der alte Friedrich der Weise und Gerechte, der hier (in der bayerischen Erbfolge-Sache) über Gewalt schrie, hatte jüngst Polen geteilt, welches ohne seinen Willen ungeteilt geblieben wäre. Der Fürstenbund war auch nur eine politische Posse gegen Österreich, ohne vaterländische Begeisterung und wirkliches Band der Treue und Not.««

Der Name Arndts, bei dessen Nennung mir Manfred eine kleine Urausgabe aus dem Jahre 1806 vorlegte, ließ mich verstummen. Manfred aber fuhr mit großer Seelenruhe fort:

»Es gibt da einen Gedankengang, der die Aufmerksamkeit wieder auf den treuen Lucchesini lenkt; sein neapolitanisches Zusammentreffen mit Goethe ist besonders bedeutsam, weil Lucchesini damals aus der nächsten Nähe Friedrichs II. kam, und weil er Goethe traf, gleich nachdem dieser mit seinem kühnen politischen Unternehmen gegen die Übergriffe Friedrichs endgültig gescheitert war.«

Hegemann: »Goethes politisches Unternehmen gegen Friedrich den Großen?! Mir wird ganz schwül!«

Manfred lachte: »Ja, das wird in Preußen meist mit Stillschweigen übergangen. Ich sprach unlängst mit einem der berühmten Berliner Professoren der Germanistik, der behauptete, noch nie etwas davon gehört zu haben (wie ja auch der Berliner Professor v. Ranke sich vorsichtig darüber ausschweigt). Und doch hat der Jenenser Professor Ottokar Lorenz der Goethegesellschaft längst ausführlich Vortrag darüber gehalten, und sogar bei Bielschowsky findet sich das Wichtigste über diese »Verschwörung«, wie Boisseré nach einem Gespräch mit Goethe es nannte. Ja, 1778 und 79, als Friedrich wieder gegen den deutschen Kaiser zu Feld zog und gleichzeitig seine Husaren auch ins Weimarische schickte, um Rekruten in preußische Dienste zu pressen, damals wurde Goethe Weimarischer Kriegsminister. »Hat er hunderttausend Mann?« fragte Friedrich II. einmal einen Unzufriedenen. Goethes Heer hatte nur sechshundert Mann, aber er fühlte aufs bitterste die Schmach der Vergewaltigung, die Friedrichs Nötigung zum Bürgerkrieg bedeutete, und er klagte, so laut er durfte, seinem Herzog Karl August über das »schaamvolle« dieser »Zumutung«. Vierzig Jahre später hörte der Herzog einmal den Reichsfreiherrn vom Stein, der lauter sprechen durfte, über Soldatenwerben außerhalb des eigenen Hoheitsgebietes folgendermaßen urteilen: »Wer in England und Frankreich solche Werbetrommel rühren wollte, der würde sogleich gefaßt und an Leib und Geld gestraft, auch wohl zwei, drei Jahre in ein Loch gesteckt, wo weder Sonne noch Mond hineinscheint.« Friedrichs eigene Verlobung mit einer englischen Prinzessin war zum Teil dadurch verhindert worden, daß der »Soldatenkönig wegen gewaltsamer Werbung in Hannover vom englischen Könige Georg II. eine Kriegserklärung erwarten mußte« {Verw. auf Anmerkung}. Von den Werbern Friedrichs, die ins Loch zu stecken untunlich war, erwartete Goethe obendrein: »sie werden mit List und heimlicher Gewalt eine große Anzahl der besten jungen Mannschaft wegnehmen« {Verw. auf Anmerkung}; er dachte vielleicht wie Egmont: »Ob sich der Nacken diesem Joche biegen, ob er sich vor dem Beile ducken soll, kann einer edlen Seele gleich sein«; jedenfalls entwarf er den Plan eines Bundes der kleinen Fürsten gegen die Übergriffe Friedrichs. Der Herzog Karl August betrachtete – wenn Bielschowsky recht unterrichtet ist – »den Bund als Mittel zur Wiedergeburt des Gesamtvaterlandes und zur Wiederbelebung seines beinahe erloschenen Gemeingeistes und seiner tief gesunkenen Gesamtkraft«. Goethes Mitarbeiter waren seine Freunde Wilhelm von Edelsheim, Dalberg und andere. Edelsheim war der badische Minister, von dem Goethe sagte: »ich kenne keinen klügeren Menschen«, und Dalberg war der spätere Erzkanzler des Deutschen Reiches; seit alter Zeit mußte bei jeder Kaiserkrönung der kaiserliche Herold rufen: Ist kein Dalberg da? worauf der anwesende Dalberg vom neugekrönten Kaiser den Ritterschlag empfing. Edelsheim setzte in Übereinstimmung mit Goethe die denkwürdigen Vierzehn Punkte auf, über die der neue Bund sich einigen sollte und von denen die Beteiligten Großes hofften. Dalberg wirkte besonders dafür: »daß der Fürstenbund ein Bund des Kaisers und des Reiches werde«; so lauten seine eigenen Worte, und ich könnte mir denken, daß der Reichsstädter Goethe, der 1765 so jugendfroh der Krönung des 1779 noch herrschenden Kaisers beigewohnt hatte, gerade für dieses kaisertreue Bestreben warmes Verständnis gehabt hat – und nicht etwa deswegen, weil er darauf wartete, »daß ihm der Kayser baronisiren wird« {Verw. auf Anmerkung}. Aber Friedrich II., der im großen diplomatischen Schachspiel von Kaunitz und der Pompadour, von den Russen und den Engländern besiegt worden ist, war stark genug, Goethe und die kleinen Fürsten matt zu setzen. Ihre Verschwörung wurde an Friedrich verraten. 1785 setzte Friedrichs Gesandter den Herzog Karl August »in eine gewisse Verlegenheit« (so sagt selbst v. Ranke) mit der Bitte, »ihm über die im Reiche herrschende Denkweise der Fürsten Auskunft zu verschaffen«. {Verw. auf Anmerkung}

»Friedrich war es vorbehalten gewesen, einen großen Lebensgedanken Leibnizens, die »deutschliebende Genossenschaft«, zunichte zu machen: er hatte die von Leibniz gegründete Berliner Akademie in eine französischliebende Genossenschaft umgewandelt. Das Geschick beschied dem großen Preußenkönig, daß er nicht nur Leibniz, sondern auch Goethe ein Bein stellen durfte. Leicht und schnell entwand Friedrich die Waffe, die man gerade gegen seine Übergriffe geschmiedet hatte, den Kleinen: Karl August, Goethe und anderen Fürstlein. Die schönen Vierzehn Punkte zergingen wie Seifenblasen und – nun setzt die preußische Geschichtschreibung ein! – Friedrich der Große wurde 1785 der ruhmreiche Gründer des Fürstenbundes; aber dieser friderizianische Bund war nicht ein Bund des Kaisers, sondern ein Bund gegen den Kaiser.

»Goethe muß sich lächerlich genug vorgekommen sein; er hatte sich viel zwecklose Schreibarbeit gemacht. Daß Goethe die umfangreichen Geheimakten der Verschwörung mangels eines Geheimschreibers eigenhändig geschrieben hat, wurde sogar vom Berliner v. Ranke vermerkt, der diese unliebsamen Ursprünge des »Fürstenbundes« schweigsam übergeht. Aber selbst als einen Kanzleischreiber hätte der Professor v. Ranke besser Goethe nicht zur Geltung kommen lassen, denn Goethe hat im Egmont offenbart, was solchen Schreibern für aufrührerische Gedanken gegen den Gewalthaber im Kopfe herumspuken: »Er soll keine Macht oder eignen Willen an uns beweisen, merken lassen, oder gedenken zu gestatten, auf keinerlei Weise«; so spricht im »Egmont« der Schreiber Vansen, der schon um 1778 für die »Verfassung« und gegen das »Über-die-Schnur-hauen« des Fürsten so beredt eintritt wie etwa zehn Jahre später ein revolutionärer Redner im Garten des Pariser Palais Royal.

»Und bitte bemerken Sie, nebenbei, aber als etwas besonders Wichtiges, daß Goethe die freiheitsdurstigen Reden des belgischen Kanzleischreibers ins Jahr 1568 verlegte, das heißt also an den Anfang jener tödlichen handelspolitischen Einkerkerung Belgiens, die 1648 im westfälischen Friedensdiktat gesetzlich festgelegt wurde und deren Aufhebung die weitsichtigen Kaiser Karl VI. und besonders Joseph II. erzwingen wollten; jene Einkerkerung Belgiens, zu deren Verlängerung sich das eifersüchtige England 1725 Friedrich Wilhelms I. und 1785 seiner alten Puppe Friedrich II. und der friderizianischen Fürstenbund-»Posse« bediente; (dieselbe Einkerkerung, die später durch die französische Revolution und durch Napoleon mit zorniger Befreiergebärde aufgehoben wurde, allerdings nur von 1792 bis 1815). Aber der tiefere Sinn dieser Dinge drang selbstverständlich nie über Friedrichs hohe Vernunftschwelle. Für ihn handelte es sich beim Fürstenbund nur um eine »Posse gegen Österreich«; für ihn ist der Fürstenbund nur der Vorgänger des Rheinbundes.

»Ein lächerliches Mißgeschick begegnete dem sechsbändigen Thomas Carlyle, der ein Verherrlicher Friedrichs II. sein möchte, ohne ganz mit der Art des Gewebes vertraut zu sein, das die preußischen Auguren über die friderizianische Blöße zu decken übereingekommen sind. Carlyle deutet ahnungslos die peinliche Wahrheit an, daß der Fürstenbund, wie Friedrich von Preußen ihn zur Waffe gegen den deutschen Kaiser umgestaltet hat, der Vorgänger des Napoleonischen Rheinbundes ist. (Daß Goethe das durchschaute, beweist der letzte Satz von Müllers Rede auf Friedrich II., die ins Deutsche zu übersetzen sich Goethe herbeiließ.) Heute gibt auch Friedrichs ungescheutester Lieb-Koser {Verw. auf Anmerkung} (II, 618-19) wenigstens schon zu, daß »ein Bund im Reiche, der seine Spitze gegen den Kaiser gerichtet hätte, seit Mazarins Rheinbund von 1658 nicht erlebt worden war«. Daraus folgert Koser (II, 602), daß Friedrichs II. Bund gegen den Kaiser »ein großer Wurf« war. Und davon waren nicht nur die Berliner Professoren und die Franzosen, sondern – wie ich Ihnen erklären werde – besonders auch die Engländer dankbar überzeugt.«

Manfred atmete tiefer und rief: »So ward der »teutsche Bund«. Kennen Sie den schönen »Hymnus«, mit dem Schubart aus der Ahnungslosigkeit seines Gefängnisses auf Hohenasperg Friedrich den Großen gefeiert hat?« {Verw. auf Anmerkung}

Ich kannte ihn nicht. Manfred fuhr fort: »Das Gedicht ist so schön, daß ich es Ihnen gerne vorläse, aber es ist lang. Doch hören Sie wenigstens, wie Schubart Friedrich den Großen als Schöpfer des Fürstenbundes feiert, und ermessen Sie, wie glücklich die preußischen Geschichtschreiber wären, wenn nicht der vom Schüler Friedrichs und Peiniger Schillers gefangengesetzte Schubart, sondern Goethe der Dichter folgender Verse wäre:

Da drangen sich Teutoniens Fürsten
In Friedrichs Felsenburg, wo der Riese
Sinnt auf dem eisernen Lager.
Sie boten ihm die Hand, und nannten ihn
Den Schützer ihrer grauen Rechte, sprachen:
»Sei unser Führer, Friedrich Hermann!«
Er wollt's. Da ward der teutsche Bund.

»Goethe, der versäumt hatte, Ähnliches zu schreiben, der statt dessen gegen »die immer bereitwilligen Krallen des schwarzen Adlers« geschrieben hatte, und Karl August, in dessen Namen die Verschwörung gegen diese Krallen angezettelt worden war, …; sie fühlten sich sehr unbehaglich. Sie saßen zwar noch nicht wie Schubart im Gefängnis, noch wurden sie wie Egmont »zur Warnung aller Verräter mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gebracht«; aber Goethe fürchtete, es habe »sich alles verbündet, um den Herzog ins Unglück zu stürzen«. Der Herzog zwar rettete sich leicht und schnell durch völlige Unterwerfung unter das preußische »System«; das fiel ihm nicht schwer: Goethe, der als Kriegsminister das Weimarische Heer von sechshundert auf dreihundert Mann verminderte, klagte oft über »die Kriegslust unserer Prinzen« {Verw. auf Anmerkung} und die »militärischen Maccaronis« Karl Augusts. Mirabeau unterhielt sich im Juli 1786 mit Ferdinand von Braunschweig »de la verve militaire et des fumées ambitieuses qui s'emparoient du Duc de Weymar, lequel aspiroit à entrer au service de Prusse«; zur Belohnung wurde Karl August bald sogar preußischer Generalmajor. Goethe unterwarf sich nicht, und Ottokar Lorenz spricht die beachtenswerte Vermutung aus, daß Goethes »gleichsam unterirdisches« Entweichen nach Italien und der bekannte merkwürdige Abschiedsbrief an den Herzog zum Teil aus politischen Gründen erklärt werden müssen.

»Aus Verona schrieb dann Goethe an den Herzog: »Manchmal wünscht ich denn doch zu wissen, wie es in Berlin geht und wie der neue Herr sich beträgt.« Was könnte für Goethe damals fesselnder gewesen sein, als in Lucchesini den Vertrautesten des alten Herrn zu treffen und von ihm zuverlässige Aufschlüsse aus »Friedrichs Felsenburg« zu erhalten? Ob Lucchesini im Gespräch mit Goethe die Schilderung wiederholt hat, die er am 19. Oktober 1780 in sein italienisch geführtes Tagebuch geschrieben hatte? Also gerade in den Tagen, in denen Friedrichs dissertation mit dem Ausfall gegen Götz und Goethe in der Öffentlichkeit bekannt geworden war; das Bild, das Lucchesini dort festhielt, erinnert nicht an Schubarts »auf dem eisernen Lager sinnenden Riesen«.«

Manfred las aus Lucchesinis Tagebuch vor: »»Nach der Mahlzeit ließ der König mich allein rufen. Ich fand ihn auf einem Ruhebette neben dem Feuer, von Büchern und Papieren umgeben. Bekleidet war er mit einem gefütterten Wams von rotem Sammet und einer Weste von Silber- und Goldbrokat.««

Hegemann: »Sie machen mich mit Ihren Zitaten ganz verwirrt. Ich habe gelernt, daß der Fürstenbund Friedrichs geniale Greisentat und der wichtige Vorläufer von Bismarcks Reichsgründung gewesen ist, weil Preußen sich 1785 zum ersten Male nicht mit den auswärtigen Feinden des Deutschen Reiches, sondern mit den deutschen Kleinstaaten verbündete.«

Manfred Ellis: »Ja, in den deutschen Schulen und der gleichgesinnten »Deutschen Tageszeitung« werden unbekümmert die Berliner Ungereimtheiten Rankes weitergelehrt, obgleich sie längst sogar vom »geistigen Leibregiment der Hohenzollern« preisgegeben wurden (so nannte der Berliner Professor Du Bois Reymond stolz, submiss und richtig seine Berliner Universität {Verw. auf Anmerkung}). Statt sich des patriotischen Kauderwelsches dieser subalternen Herren zu bedienen, empfehle ich Ihnen, doch lieber gleich über den Fürstenbund zu sprechen, wie der große Republikaner Friedrich II. selbst es tat. Er sagte über seinen Fürstenbund: »Deutschland ist eine Art Republik. Es war in Gefahr, seine republikanische Form zu verlieren; mich hat es gefreut dieselbe wieder hergestellt zu sehn.« {Verw. auf Anmerkung} Immer wieder versicherte Friedrich, er verteidige die »Freiheit«, die »germanische Freiheit« der deutschen Fürsten gegen den »Despotismus« des deutschen Kaisers. Daß er partikularistische Vorteile davon erhoffte, »das muß man verheimlichen wie einen Mord«, schrieb er an seinen Bruder Heinrich (Koser II, 527).

»Richtig ist sicher, daß Friedrich II. sich – wie sie sagen – 1784 zum ersten Male auch auf deutsche Hilfe besinnen mußte. Das Ergebnis seiner ewigen Rebellion gegen das Reich und seiner heillosen außenpolitischen Urteilslosigkeit hat Friedrich selbst nämlich am 5. Februar 1784 seinem vertrauten Finckenstein mit folgenden Worten geschildert: »Wir werden nicht eine einzige Macht finden, die uns auch nur den Schatten eines Bündnisses bietet, geschweige denn ein wirkliches Bündnis.««

Hegemann: »Hatte denn Friedrich keine Anlehnung an Rußland?«

Manfred: »Sie meinen, Friedrich II. müsse aus seinem russischen Vasallentum {Verw. auf Anmerkung} wenigstens einigen Vorteil gezogen haben? Nein, er war mit den Demütigungen zufrieden. Und es war ganz seine Schuld. Er war unfähig, die ihm in jeder Hinsicht überlegene Katharina zu begreifen. Diese noch heute »große« Herrscherin wollte weitsichtig zwischen Deutschland und Rußland eine Einigung über den damals noch nicht nationalisierten Balkan zustande bringen und gab dem deutschen Kaiser »anheim, wieviel von dem türkischen Gebiet er für sich selbst nehmen wollte«.

»Da sie die Perversität, mit der Friedrich II. jeden deutschen Machtzuwachs bekämpfte, noch unterschätzte, lud sie den König ein, sich seinerseits in Polen schadlos zu halten. Friedrich begriff nichts; er dachte nur an die fixe Idee seines Lebens, gegen den deutschen Kaiser zu kämpfen. »Um seine Defensiv(!)-Stellung gegen Österreich zu stärken, plante er die Aufnahme der Hohen Pforte in das preußisch-russische Bündnis«, so sagt Friedrichs Lieb-Koser und fährt fort: »Katharina gab entschieden ihr Mißfallen zu erkennen …; Gleichwohl ließ Friedrich, mit einem gewissen Eigensinn, man möchte sagen mit Verblendung, an einer liebgewonnenen Idee festhaltend, die Frage stellen, ob Rußland auch gegen ein einseitiges Verteidigungsbündnis zwischen Preußen und der Pforte etwas einzuwenden haben würde. Wieder wies der Vertreter Rußlands auf die entschiedene Abneigung Katharinas hin.« Koser, der das berichtet (II, 606), hält den »großen« König für einen feinen Politiker.«

Hegemann: »Bestätigt das alles nicht, was ich schon einmal betonte (vgl. oben S. 163), daß Friedrich bei der Erwerbung polnischer Gebiete, auch wenn sie ihm angeboten wurden, weise Maß zu halten wußte?«

Manfred: »Nein, es bestätigt nur, daß Friedrich II. jede Ausdehnung der deutschen Macht als das bekämpfenswerteste aller Übel betrachtete. Denn als er merkte, daß er Katharina, die damals Krim und Kuban für Rußland sicherte, nicht gegen den unternehmungslustigen deutschen Kaiser, dem sie ähnlich unschätzbares Neuland anbot, aufhetzen konnte, schrieb er eigenhändig in eine Denkschrift (19. XII. 1782): »Wenn schon die Türkei nicht zu retten ist, wird es den Versuch gelten, durch kriegerische Demonstrationen im Rücken der Russen und Österreicher (also Dolchstöße in den Rücken des Kaisers und Mehrers des Deutschen Reichs!) für Preußen eine Kompensation nach der polnischen Seite zu erzwingen.« (Nachträglich wollte er also sogar kämpfen um neue polnische Gebiete, die er vorher bei etwas mehr Einsicht umsonst hätte haben können.) So übersetzt Koser (II, 611) Friedrichs II. Lust auf neue polnische Erwerbungen, die so groß war, daß er ihr nur dann entsagte, wenn er durch dieses Opfer die Ausdehnung der deutschen Macht hemmen konnte. Das wenigstens gelang ihm. Dank Friedrich dem Großen ging Deutschland auf dem Balkane leer aus, und noch Bismarck war friderizianisch verblendet (oder weise genug, das Zu-spät zu erkennen?) und sagte, die Kornkammern des Balkans seien keinen Knochen eines pommerschen Grenadiers wert. Mitleidig muß man hoffen, daß es Deutschland gelingen möge, alle Pommern als fremden »Kulturdünger« auf die Weizengefilde Nord- und Südamerikas zu verschiffen, bevor sie auf dem Balkan für die vom »großen« König verdorbenen deutschen Kolonialhoffnungen vergebens bluten müssen. Die große Katharina, der nicht wie dem deutschen Kaiser ein »großer König« und Rebell im eigenen Lande jedes große Unternehmen zuschanden machte, erntete auch auf dem Balkan ungestört unvergängliche Erfolge, aber auf Friedrichs Bundesgenossenschaft verzichtete sie künftig.

»Friedrichs Verhimmler Koser sagt: »Friedrich unterschätzte Katharinas Begabung und Energie; er sah in ihr immer nur das eitle, launenhafte Weib, eine zweite Elisabeth, da er doch schon diese Elisabeth ohne Frage unterschätzt hatte.« Als wenn ein Friedrich umlernen sollte! Der unbescheidene Koser verlangt gar, Friedrich solle seine kindlichen englischen Vorurteile (vgl. oben S. 142-6) aufgeben und begreifen, was in England, dessen »Freiheit« er gerne lobte, vorging. Friedrichs zudringlicher Lieb-Koser (II, 521, 610) schreibt: »Der Hader der parlamentarischen Parteien …; war dem preußischen Selbstherrscher ebenso verächtlich wie unverständlich. Wenn die Kabinette kamen und gingen, sah er in allem nur den heimlichen Einfluß des ihm verhaßten Lord Bute.« Sogar »in Lord North hatte Friedrich den Fortsetzer und, ganz mit Unrecht, das Werkzeug des bösen Bute gesehen«. Goethe findet es widerlich, »über den großen Friedrich seine eigenen Lumpenhunde raisonnieren zu hören«. Ich auch. Seine »liebgewonnenen« Vorurteile überwand der verschlagene Friedrich II. erst, als die Engländer ihn 1784, wie 1756, wieder einmal brauchen konnten. Zweifeln Sie nicht an Friedrichs selbstlosem Reichspatriotismus von 1784.

»Ja, der große Friedrich verteidigte selbstlos den kleinen Herrn von Bayern, der gar nicht verteidigt sein wollte, gegen den Kaiser! er schützte die kleinen Fürsten! Er war ja derselbe Friedrich, der sich in seinem Testament von 1752 den Kopf zerbrach, ob er lieber Mecklenburg oder lieber Sachsen erobern wolle, und der schon vor dem Siebenjährigen Krieg (19. Februar 1756) seinen ältesten Bruder vorbereitete auf »das Vergnügen, Sachsen zu vernichten«, ein Vergnügen, das der republikanische König später als wenig erheiternd erkannte, dem er aber erst 1763 entsagte. Vielleicht auch dann nicht? Als der russische Gesandte 1766 ein Bündnis zwischen Preußen und Sachsen vorschlug, bemerkte er, wie der König »sich verfärbte«. (Vgl. oben S. 187).

»Dennoch, wer dreist verblüffen kann, hat manchmal Erfolg. Der Freiherr vom Stein, der zur Zeit des Kartoffelkriegs einundzwanzig Jahre alt war, bekannte in seiner Lebensbeschreibung, daß er aus reichspatriotischer Begeisterung über Friedrichs II. Einschreiten für Bayern sich zum Eintritt in den preußischen Staatsdienst entschlossen habe. Der kritische Lehmann-Göttingen bezweifelt zwar die Zuverlässigkeit dieser vom alten Stein gegebenen Versicherung, berichtet aber dann weiter etwa folgendermaßen:

»»Als Stein aufgefordert wurde, in den Fürstenbundverhandlungen für Preußen als Gesandter tätig zu sein, lehnte er zuerst ab. Erinnern wir uns an Steins Äußerung über den österreichischen Dienst, {Verw. auf Anmerkung} so werden wir es nicht für ganz unmöglich halten, daß …; Rücksichtnahme auf Österreich mitwirkte. In dem lästersüchtigen Berlin ging man noch weiter und behauptete, er lehne aus persönlichem Ehrgeiz und aus Furcht vor dem österreichischen Hof ab. Das durfte er nicht auf sich sitzen lassen: sofort erklärte er, annehmen zu wollen.« So berichtet Lehmann.

»Aber lange hat es vom Stein nicht ausgehalten, für Friedrichs Fürstenbund gegen den deutschen Kaiser Ränke zu spinnen. Schon am 22. September 1785 bat er um Abberufung und erhielt sie. Nachdem er einen Einblick in Friedrichs II. Karten gewonnen hatte, konnte vom Stein kaum anders urteilen als Arndt, der 1805 folgende gewichtigen Worte über den Fürstenbund schrieb:

»»Auch hat der große König im Ernst nie daran gedacht, die teutsche Nation bildend und schützend um seine Adler zu versammeln und ein gemeinschaftliches Ziel der Politik und Bildung auszustecken. Es ist nichts lächerlicher, als ihm patriotischteutsche Ideen beilegen zu wollen. So patriotisch hat Richelieu und Louvois an Teutschland gedacht und darüber gesprochen, so patriotisch führt jetzt Bonaparte und Talleyrand, sein Knecht, und die teutschen Churfürsten, seine Knechte, den Namen Teutschland und Teutschlands Freiheit im Munde. So, denke ich, spricht auf dem Reichstage der Thiere der Wolf wohl zuweilen für die Freiheit und die heiligen Rechte der Hirsche …; Der Fürstenbund war auch nur eine politische Posse gegen Österreich, ohne vaterländische Begeisterung und wirkliches Band der Treue und Noth. Solches Band nur hält, weil es aber fehlte, so löste sich bald wieder auf, was durch keine lebendige Eintracht verbunden war von Anfang. Friedrich liesz wohl von teutscher Freiheit und Gerechtigkeit zuweilen ein Wort fallen, das unschädlich wie so viele Lügenworte mitlief und zu seiner Zeit das Seinige wirkte. Der König nach seinem Gemüthe eines vollendeten Despotismus haßte alles Nationale an einem Volke, weil es dem Despotismus entgegen strebt, und alles Föderative an den Teutschen. Die schnellste Kraft schien ihm die erste zu seyn, und deswegen war der Soldat, die vollkommenste Puppe, ihm der erste und würdigste Mensch im Staat.« So schrieb Arndt im Jahre 1805.«

Nach dem Vorlesen des Arndtschen Zitates erzählte mir Manfred folgendes: »Hören Sie dagegen, was der Chef des »geistigen Leibregiments der Hohenzollern« über Friedrichs »politische Posse« phantasiert hat. Ranke schrieb {Verw. auf Anmerkung}: »Womit sich König Friedrich von Anfang(!) seiner Regierung an getragen, aber ohne(!) es durchzuführen, die großen Interessen des Deutschen Reiches mit dem Bestand und Wachstum seines Staates zu vereinigen, das wurde jetzt (1784) möglich und dringend für beide Teile.« Es wäre fast begrüßenswert, man könnte Ranke Bestechlichkeit vorwerfen; aber nein, dieser große Aktenwurm litt an dem unverzeihlicheren Leiden der Blindheit. Es ist derselbe harmlose Ranke aus Berlin, der dreist annahm, »Friedrich habe den siebenjährigen Verzweiflungskampf dadurch auf sich geladen, daß er 1756 die Franzosen von Hannover fernhalten wollte«. Derselbe Ranke, dem Max Lehmann {Verw. auf Anmerkung} schlagend antwortete: »Als 1755 die beiden Westmächte haderten, ermahnte Friedrich die Franzosen, den Krieg ins Deutsche Reich zu tragen und Hannover anzugreifen (Pol. Corr. 11, 106), und als die Franzosen ihn selbst mit der Ausführung dieser Aufgabe belasten wollten, lenkte Friedrich ihre Aufmerksamkeit auf die österreichischen Niederlande: sie seien schlecht verwahrt, man werde das ganze Land in einem Feldzuge erobern können.««

Dann sprach Manfred von Friedrichs geheimer flandrischer Klausel im Westminstervertrag, von der am Ende des vierten Gespräches ausführlich die Rede ist. {Verw. auf Anmerkung} Manfred schien beinahe grimmig, als er fortfuhr: »Ja bitte, mein Herr, die österreichischen Niederlande, das heißt also Belgien, da ist die bittere Wurzel des Fürstenbundes, von der Ihnen Ihre harmlosen Lehrer aus der Rankeschule nichts erzählt haben, obgleich noch eine furchtbare Brechwurzel für Europa daraus werden kann.

»Ist Ihnen bekannt, daß Antwerpen nach der Entdeckung Amerikas der mächtigste Handelshafen des Deutschen Reiches wurde? ja, daß Antwerpen der bedeutendste Stapelplatz der Welt wurde? daß es mächtiger und reicher wurde, als Venedig je gewesen ist? daß Antwerpen 1585 von den Spaniern erobert wurde? daß der Welthandel dann nach Amsterdam überging? daß bald die Holländer nach Colberts Berechnung von den zwanzigtausend Handelsschiffen der Welt sechzehntausend im Besitz hatten? daß sie kurzsichtig genug waren, die Schelde zu schließen, um Antwerpen endgültig zu erdrosseln? und daß sie sich im Westfälischen Frieden ihre Unabhängigkeit vom Deutschen Reiche ertrotzten, um dafür bald nichts als Englands Vorwerk auf dem Festlande zu werden? daß ihnen dann um ihre Gottähnlichkeit bange wurde und sie den deutschen Kaiser wieder zu Hilfe riefen? Daraus entstand 1714 der berühmte »Barrieretraktat«. (Ich empfehle Ihnen zu diesem »Traktat« die Lektüre der Denkwürdigkeiten des damaligen französischen Regentschaftsrates Saint-Simon.) Wissen Sie, daß es so dem deutschen Kaiser (1714) gelang, »die Niederlande wieder ganz in seinen Besitz zu bringen«? Das sind die eigenen Worte Friedrichs II., aus seinen Mémoires de Brandebourg. Wissen Sie, daß dann sofort Prinz Eugen selbst in den wiedergewonnenen Niederlanden Statthalter des deutschen Kaisers wurde? Wissen Sie, daß Friedrich II. in seinen Mémoires den Prinzen Eugen den »Helden Deutschlands« nennt, daß er ihn in seiner Histoire de mon temps den »eigentlichen Kaiser« nennt? und daß dieser Kaiser nicht etwa – wie Friedrich II. das regelmäßig tat – mit seinen Handelsunternehmungen schmählich Bankerott erlitt, daß er vielmehr Triest (1719) erfolgreich zum Freihafen machte und dort mit seiner levantinischen Handelskompagnie Venedigs Handel für das Reich gewann? Wissen Sie, daß aber selbst der große Eugen nicht vermochte, die Schelde zu öffnen? dafür sorgten künftig nachdrücklichst die Engländer! Wissen Sie, daß der Kaiser diese Maßnahme zur Erdrosselung des deutschen Handels zu umgehen versuchte, indem er außerhalb der Schelde einen Hafen entwickelte? Kennen Sie folgende Stelle von Friedrichs II. Mémoires de Brandebourg: »Der Kaiser gab (1723) den Kaufleuten von Ostende Freibriefe zum Handel mit beiden Indien …; Frankreich, England und Holland, erregt über diesen Plan, der ihnen allen gleich schädlich war, vereinigten sich und verlangten die Unterdrückung der neuen Handelsgesellschaft; aber der Hof von Wien ließ sich nicht irremachen, sondern wollte seinen Plan mit Hochmut durchsetzen.« Wenn Sie als Deutscher etwa diesen »hohen Mut« würdigen, dann können Sie in Friedrichs Mémoires weiterlesen, daß Preußen sich gleich (1725) von Frankreich und England zu einem Bündnis gegen den »hochmütigen« Kaiser und den deutschen Handel gewinnen ließ. In der Schule hat man Sie wahrscheinlich gelehrt, diese preußische Verräterei am Reich habe damals nur ein Jahr gedauert; wenn Sie aber wissen wollen, warum sie bis 1740, 1756, 1778 und ganz besonders bis zum »patriotischen Fürstenbund« von 1785, und dann wieder bis 1795 und zum Zusammenbruch Deutschlands geführt hat, dann lesen Sie weiter in den Mémoires Friedrichs II. Er erklärt offen, daß Preußens Bündnis von 1725 mit den mächtigsten Feinden des Reiches »um so dauerhafter war, als es durch die besonderen Interessen der Bündnisschließenden gestützt wurde …; Frankreich und England wollten wirklich dem Hause Österreich zu Leibe. In dieser Absicht hoften sie, sich des Königs von Preußen zu bedienen, um dem Kaiser Schlesien (!) wegzunehmen«. So schrieb Friedrich II.

»Kein Wunder also, daß er fünfzehn Jahre später auf den Einfall kam, Preußen habe einen »Anspruch« auf Schlesien. Der Vater Friedrichs II. hatte noch nichts von diesem »Anspruch« gewußt und hatte 1726 schnell und reuig dem Bündnisse mit den Reichsfeinden den Rücken gekehrt. Aber Friedrich II. ist ihnen sein Leben lang treu geblieben. Des Teufels Mühlen mahlen langsam aber sicher. Friedrichs Bürgerkriege von 1740, 1744, 1756-63 und 1778 wird Deutschland vielleicht verwinden. Vielleicht« – Manfred sprach 1913 – »wird ein bleibender Erfolg aus dem glänzenden Taschenspielerstück, mit dem Bismarck das durch Friedrichs II. »schlesische« Kriege den Franzosen gesicherte Elsaß-Lothringen {Verw. auf Anmerkung} wieder in deutschen Besitz zurück escamotiert hat. Aber 1785 erzielte Preußen in seinem Kampfe für die französische Erwerbung Deutsch-Flanderns und gegen die Entwicklung des deutschen Handels entscheidenden Erfolg.

»Kaiser Josef II. hatte etwas von der Welt gesehen; er hatte auch das verödete Antwerpen an der verschlossenen Schelde besucht.

»Nachdem Österreich durch Friedrichs II. Eingreifen 1744 endgültig aus Elsaß verdrängt und an der Rückeroberung der lothringischen Stammlande des Kaisers verhindert worden, war Belgien für Österreich, das heißt also fürs Deutsche Reich, kaum mehr zu halten. Joseph II. suchte darum die Lösung der belgischen Frage in der Verwandlung des österreichischen Flandern in einen selbständigen Bundesstaat des Reiches bei gleichzeitiger Öffnung der Schelde.«

Hegemann: »... und bei gleichzeitigem Austausch Flanderns gegen Bayern! Nimmt man nicht im allgemeinen an, Friedrich der Große habe zum Segen Deutschlands gehandelt, als er den Kaiser verhinderte, Bayern zu erwerben.«

Manfred: »Die preußische Legende sieht in jeder Stärkung des deutschen Kaisers eine Schädigung – ja wessen? doch nur Preußens, Kleindeutschlands! Nicht Deutschland, sondern Frankreich wäre der Leidtragende gewesen, wenn Bayern in die Hand des Kaisers gekommen wäre, und wenn Bayern künftig nicht mehr hätte »Schulter an Schulter mit Frankreich kämpfen« dürfen; die bayrischen Kurfürsten haben jahrhundertelang als französische Bundesgenossen gegen den deutschen Kaiser gekämpft. Die preußischen Geschichtsklitterer müssen noch fleißig weiterklittern, bevor man ihnen glaubt, daß Bayerns Unabhängigkeit vom Kaiser der deutschen Sache genützt habe. Goethe schrieb 1786 über des Kaisers Absicht, Bayern gegen Flandern einzutauschen, an seinen Herzog: »... man wird gewiß den Kayser nicht gewähren lassen. Wer Frankreich bereden will, es könne ohne Schaden in den Umtausch von Bayern willigen, glaubt es selbst nicht, und kein vernünftiger Mensch wird es ihm glauben.« Ja! wenn Friedrich II. sich dem Austausch widersetzt hätte, damit nicht etwa das für die deutsche Macht so wichtige Flandern für Kaiser und Reich verloren gehe! statt dessen hat er alles Denkbare getan, um es den Franzosen zu verschaffen! {Verw. auf Anmerkung} und der wäre ein Narr, der bei Friedrich II. große deutschnationale Gedanken suchte. Friedrich II. hat in seinem Testament von 1752 das Wesen der preußischen Politik erklärt: »Schulter an Schulter mit Frankreich kämpfen, und so das Gegengewicht gegen die kaiserliche Macht bilden.« Dieses Verhältnis ist ihm auch später immer als das passendste für Preußen erschienen. Hätte der deutsche Kaiser Bayern erworben, dann hätten Frankreich und Preußen dem Erbfeinde Deutschland nicht mehr Widerstand leisten können. Dieses Unglück hat Friedrich II., und später – wie Ferdinand von Braunschweig erzählte – Friedrichs Nachfolger Lucchesini verhindert. (Vgl. unten S. 227.)

»Wenn dagegen ein im Frieden aufblühendes Deutschland seine Waren durch die befreiten Auslaßtore eines nah befreundeten Belgiens leiten durfte, dann war für Deutschland vielleicht noch Hoffnung in dem großen Wettkampf gegen die »Seemächte«, das heißt gegen England, das aus Holland seinen festländischen Brückenkopf machte und das Festland in Flandern, also an der Schelde, wie an der Gurgel würgte.

»Goethe hatte recht, es war ein Triumph kaiserlicher Politik, daß es ihr gelang »die Franzosen zu bereden«. Ja, es war ein Triumph deutscher und festländischer Politik, als es dem Kaiser gelang, die Franzosen für die Befreiung der Schelde zu gewinnen. Selbst der Berliner Ranke gibt zu: »In den beiden Ereignissen, der Eröffnung der Schelde mit anfänglicher Connivenz von Frankreich, und der Förderung des Austausches der Niederlande mit Bayern durch Rußland, lag der Triumph der Politik des Fürsten Kaunitz.« Selbst v. Ranke kann nicht behaupten, der Kaiser habe mit der Öffnung der Schelde einseitig österreichisch-östliche Ziele verfolgt. Im Gegenteil, der deutsche Kaiser bekam, um mit v. Ranke zu sprechen, »seine vorwiegende Stellung in Europa, welche durch Preußen geschmälert war, zurück«. Aber, was hätte – in Berlin! – schrecklicher sein können als der Gedanke an die Wiederherstellung der deutschen Kaisermacht?! v. Ranke fährt darum fort: »Friedrich sah sich durch die Tätigkeit des Kaisers auf allen Seiten überflügelt …; Da war nun der Augenblick gekommen, mit den Reichsfürsten in Bund zu treten.« Wozu? »... um den Übergriffen von Österreich einen nachhaltigen Widerstand entgegenzusetzen.« Wehe dem deutschen Kaiser, der es wagte, mit Geschick großdeutsche Politik zu treiben, solange es einen Preußenkönig gab, den die Engländer »groß« nannten, weil er den deutschen Kaiser im Schach hielt und großdeutsche Politik verhinderte, oder weil er nach Bedarf – wie 1756 bis 1763 – auch gegen Frankreich ausgespielt werden konnte.

»Friedrich war, wie er selbst sagte, »außer sich«. Der deutsche Kaiser hatte es verstanden, die Franzosen für die gewaltige Tragweite seiner Pläne blind zu machen. Friedrich, der von Frankreichs göttlicher Berufung zum ewigen Kampf gegen das deutsche Kaisertum dankbar überzeugt war, erklärte die Franzosen geradezu für ehrlos, wenn sie auch nur daran dächten, ihrem Daseinszweck untreu zu werden. In seinen Briefen (1785) an Fink nannte er den Kaiser den »verteufelten Joseph« oder den »verfluchten Wiener Tyrannen« und fürchtet, »daß Frankreich in diesem Augenblick, der für seine Ehre entscheidend ist, es an Kraft fehlen lassen und sich schließlich ein Nasenbluten zuziehen wird. Was sind die Franzosen für Feiglinge, und wie kann ich allein (das heißt ohne die Franzosen) die germanische Verfassung verteidigen?« (10. II. 1785). Schon 1778 (10. VIII.), als Friedrich II. sich auch so leidenschaftlich bemühte, die Franzosen zu einem Einfall ins Deutsche Reich zu bewegen, hatte er an seine Vertrauten Fink und Herzberg geschrieben: »Jetzt ist der Augenblick, wo alle, die sich Deutsch nennen, zusammenstehen müssen, um die Verfassung und die Freiheit zu schützen, die von unseren Vorfahren durch den Westfälischen Frieden erworben wurden«, das heißt also durch den großen Kardinal Mazarin zwecks dauernder Schwächung der deutschen Macht.

»Das waren nur dieselben schwindelhaften Beteuerungen, wie sie Friedrich II. nach Bedarf seit 1740 stets zur Hand hatte. Hatte er 1740 doch, um die ahnungslose Maria Theresia über seine hochverräterischen Absichten irrezuführen, seinen Podewils gar angewiesen (Pol. Corr. I, 90 f.): »In Hannover, in Mainz muß man von dem patriotischen Herzen sprechen, das uns nottut, das uns fehlt! ich werde das Reich aufrecht erhalten, ich werde das erste Auftreten eines schwachen Kaiserhauses schützen …; In London muß man sagen, daß ich die Österreicher zwingen will, sich ›auf die Seite der Seeleute und der Religion‹ zu stellen.« Der echt preußisch begeisterte Droysen hat das »großartige politische Berechnung« genannt, und in dieser Phantasiewelt seiner Jugend lebte auch noch der erwachsene Friedrich von 1785. Er hatte beim Verfassen seiner vielen Geschichtswerke keine Zeit gehabt zu bemerken, daß die Franzosen dank dem glorreichen Siebenjährigen Krieg ihre Ansprüche auf Indien, Amerika und Weltmacht an ein England abtraten, das in der Diplomatie durch Leute vertreten wurde, die sich weder durch Friedrichs läppische Intriguen irremachen, noch durch seine philosophischen Herrschertugenden zur Bewunderung hinreißen ließen. Ranke wundert sich und schreibt: »Im Dezember 1784 erschien ein neuer englischer Gesandter, Sir James Harris – später Lord Malmesbury …; An sich keineswegs mit Friedrich befreundet, eher mit ihm zerfallen – er gehört zu den wenig zahlreichen Zeitgenossen, die Friedrich nicht bewunderten – meinte er doch in dem verwandtschaftlichen Verhältnis desselben zu dem holländischen Erbstatthalter ein Motiv zu sehen, um sich seiner Mitwirkung zu versichern.« (Der englische Bericht S. 168 ist von Harris.) So »versicherte sich« denn England »der Mitwirkung« Friedrichs, und Friedrich spielte brav die ihm zuerteilte Rolle.

»Wenn der nächste große Krieg, wie mein Bostoner Vetter Brooks Adams {Verw. auf Anmerkung} in seinen Büchern prophezeit, sich um Belgien dreht, und wenn dann England vor allem die Unantastbarkeit seines festländischen Brückenkopfes verteidigt, dann kann man ihm nur wünschen, daß es in Preußen einen mächtigen Parteigänger findet, der ebenso unentwegt für die belgisch-niederländischen Neutralitätsklauseln von 1839 eintritt, wie Friedrich II. für die »feierlichen Verträge« kämpfte, die der holländischen »Republik ihren Besitz und ihre Rechte sicherten«. So sprach Friedrich II. (8. XI. 1784) von der Verbarrikadierung, das heißt Vergewaltigung des damals noch deutschen Belgien, die den eifersüchtigen Holländern durch »die feierlichen Verträge« von 1648 und 1714 zugesichert worden und von den Engländern noch eifersüchtiger aufrechterhalten wurde. Friedrich II. machte kein Aufhebens davon, daß er selbst diese Verträge längst als Fetzen Papier behandelt hatte; als er nach 1744 das (im Austausch gegen die damit erloschenen schlesischen Ansprüche!!) ererbte Ostfriesland in Besitz nahm, hatte er die holländische Besatzung von Emden kurzerhand weggeschickt, obgleich ihr Besatzungsrecht auf demselben »feierlichen Vertrage« beruhte, der die Schelde und den Handel des deutschen Belgien erdrosselte. Als der holländische Gesandte in Wien auf die Heiligkeit dieses Vertrages pochte, antwortete ihm Fürst Kaunitz ganz offen: »Wir wollen diesen Vertrag nicht mehr«; aber dieses Wort wurde ihm von der preußischen Presse von 1785 (Dohm!) als schwarzes Verbrechen angekreidet!

»Der deutsche Kaiser erklärte im Juli 1784: »jedes Hindernis, das Holland der freien Schiffahrt fortan entgegensetzt, werde ich als eine Feindseligkeit, als eine Kriegserklärung ansehen. Über diese Angelegenheit noch zu verhandeln, ist einer großen Macht unwürdig.« Und der Berliner Ranke, der sich nicht darüber freuen darf, daß ein deutscher Kaiser dem Auslande gegenüber Würde zeigt, muß süßsauer zugeben: »Mit dem herrischen Geist, der aus dem Gefühl der Macht entspringt, verbindet sich in Joseph schlaue und kühl erwägende Berechnung der Schwäche des Gegners zu seinem Vorteil. Der Beistimmung Rußlands und – wie er meinte – Frankreichs sicher, glaubte er, Holland werde es nicht wagen, seiner Übermacht zu widerstreben.«

»Aber Holland wagte es doch! denn wenn ihm auch das erschöpfte England nicht mit Waffen helfen konnte, so fand England doch in Preußen wieder den lebenslänglichen Verräter der deutschen Sache, Friedrich »den Großen«, bereit – wie immer – zum Kampf gegen die Ehre und die Macht des Deutschen Reiches. Am 4. Oktober 1784 schrieb der Kaiser: »Wenn man auf mich schießt, so werde ich antworten.« Am 6. Oktober beschoß Holland, im Vertrauen auf Friedrich II. und die Engländer, das erste deutsche Schiff, das unter kaiserlicher Flagge die Schelde hinabfuhr; »und es geriet in die Gewalt der Holländer«, berichtet Ranke mit der Seelenruhe des wurmstichigen, preußischen Geheimrats.

»Als der Kaiser zur Verteidigung der deutschen Sache gegen Holland Truppen ins deutsche Flandern senden wollte, verweigerte Preußen ihnen den Durchzug. Dagegen wurden die holländischen Truppenwerbungen im Deutschen Reiche (also gegen den Kaiser!), die der Kaiser untersagte, vom deutschen Helden Friedrich im preußischen Hoheitsbereich gestattet. Der Kaiser stand also vor der Wahl zwischen einem neuen Bürgerkriege und kleinlautem Zukreuzekriechen vor Holland, das die deutsche Flagge beschossen hatte.

»Sie werden sagen, es wäre unter diesen Verhältnissen Pflicht des Kaisers gewesen, gegen Friedrich II. und die anderen Reichsfeinde zu kämpfen. Aber Friedrich hatte unterdessen vermocht, die Franzosen gegen das Reich zu hetzen. Der französische Minister Vergennes, der bis dahin die Holländer zum Nachgeben zu bewegen suchte, erklärte plötzlich, »daß Frankreich die Holländer, jetzt seine Verbündeten, nicht der Übermacht des Kaisers überlassen dürfe«. Ein kaiserlicher Versuch, die holländische Beleidigung und den preußischen Aufruhr zu bestrafen, hätte plötzlich zu einem langwierigen europäischen Kriege von der Art des Siebenjährigen werden können.«

Hegemann: »Ich kann immer noch nicht glauben, daß Sie nicht die Bedeutung der Schelde-Frage übertreiben, und daß Sie nicht etwas gar zu willkürlich das Ausland und vor allem England in die ganz innerdeutsche Frage verwickeln wollen, ob 1785 die österreichische Übermacht in Deutschland durch die Erwerbung Bayerns vermehrt werden durfte oder nicht.« Auf diesen Zweifel antwortete Manfred:

»Als Friedrich II. die holländische Besatzung aus Emden vertrieb, hatten die Engländer vielleicht deshalb keinen Finger gerührt, weil sie vermuteten, daß sie nichts sicherer vor dem Wettbewerb des Hafens von Emden beschützen könne als dessen Übergang in preußischen Besitz. Preußen handelte ja nur in Rekruten, in sonst nichts. Sie hatten es, vielleicht auch deshalb, für überflüssig gehalten, diesen entwicklungsfähigen Hafen aufzukaufen, als Friedrich ihn 1745 an England verschachern wollte. (1744 hat Friedrich Emden den Holländern angeboten). {Verw. auf Anmerkung} Die Engländer hatten richtig geurteilt. »Jedes Handelsunternehmen Friedrichs II. ist bisher unweigerlich fehlgeschlagen«, so berichtete 1773 Lord Malmesbury an seine Regierung {Verw. auf Anmerkung}, und das galt auch für Friedrichs ungeschickte Versuche in Emden, gleichviel, ob sich die Gründungen dort »Ostasiatische Kompagnie« oder »Bengalische« oder »Levantinische Kompagnie« nannten. Die Engländer waren sogar nicht erschrocken, als Friedrich II. vertrauensvoll den Kaufmann Dahrl anstellte, von dem ihm Minister Fredersdorf am 8. Juli 1754 schrieb: »Er obligieret sich, in 2 jahr (von) Hambourg, Altona (und) Meist gantz Holland den Spanischen Handel nach Stettin zu Schaffen. Er Bittet sich aber aus, seine propositiones so geheim als Möglich zu halten …; Mein Fieber hatt mir Verlasen, allein Meine Brust und übeler Husten nebst die Schmertzen, so ich drauf habe, inquiettieren Mich, ich bin ein Elender Köther …;« und so weiter. Ob der preußische König mit seinem vertrautesten Fredersdorf »so geheim als möglich« über seine »Hemeroiden« oder über Handels- »propositiones« kokelte, war den Engländern höchst gleichgültig. Mit dem Weitblick des großen Spielers hatten sie Anfang der fünfziger Jahre sogar klein beigegeben, als Friedrich der Große es sich einfallen ließ, für seine »Baby Flotte« – so spotteten die Engländer – die Freiheit der Meere zu verlangen. Sie ließen ihm seinen Willen und ließen ihn dann Amerika und Indien »in Deutschland« erobern – für England. Ähnlich haben die Engländer jetzt (1913) uns Amerikanern gestattet, den Panamakanal zu befestigen, wider unser Versprechen. Die Engländer werden schon wissen, wozu sie uns bald einmal brauchen können.

»Aber ganz anders beurteilten die Engländer im Jahre 1784 die Dinge, als der deutsche Kaiser die Befreiung seiner flandrischen Provinzen in Angriff nahm und sich für die »Doctrin von der unbeschränkten Freiheit der Meere« einsetzte. »Nie waren die Entwürfe des Kaisers höher gegangen«, schreibt Ranke und erläutert, wie der Kaiser Rußlands und Frankreichs Hilfe gewann, und wie die Engländer durch ihre amerikanischen Kriege erschöpft waren: »Die Gegensätze von Europa gruppierten sich um das kleine Ereignis auf der Schelde.« In diesem entscheidenden Augenblick hielten die Engländer eine »große und bedeutende« Maßnahme für notwendig. Und mit der Begeisterung des Harmlosen schreibt der Berliner Ranke über den Fürstenbund: »Es war noch einmal ein großes und bedeutendes Werk, das da unter den Auspicien Friedrichs zustande kam. Geht man demselben auf den Grund, so ist das Wesentlichste eine Vereinbarung zwischen Brandenburg und Hannover. Georg III. fühlte zugleich als König von England in allgemeinen (!) und als Churfürst von Hannover in deutschen Beziehungen die Notwendigkeit einer Verständigung mit Friedrich.« Und Friedrich der Große, dem die Freiheit der Meere plötzlich höchst gleichgültig war, verband sich zur Rettung der »Freiheit von Deutschland« mit den deutschen Fürsten »auf altdeutsches, fürstliches Ehrenwort« (diese Worte stehen im preußischen Vertragsentwurf, vergleiche Preuß, IV, 165 f.).

»Und der englische Gesandte in Berlin erklärte, daß die »neue germanische Liga« ein »Prinzip der Wiedervereinigung zwischen England und Preußen darstelle« (Koser, II, 619). Und der Berliner Treitschke jubelt: »Niemals hat Friedrich der Große fremden Mächten eine Scholle deutschen Landes verheißen, niemals seinen Staat für ihre Zwecke mißbrauchen lassen.« {Verw. auf Anmerkung}

»Die Schelde blieb geschlossen! Holland (und Frankreich!!) zahlte dem Kaiser 10 000 000 Gulden Buße. Und Bayern blieb französisch und schoß 1806 Viktoria! Und Friedrich ist ein großer deutscher König! Und Treitschke und Ranke sind große »Historiker«!

»Es gibt einen vielgelesenen deutschen Roman von Brachvogel, »Friedemann Bach«. Darin läßt sich der große König Lessings »Nathan« vorlesen, bis ihm »glühendes Feuer innerster Erschütterung in seinen Adern loht.« Dann ruft der große König: »Lessing ist ein deutscher Genius, dem ich mich beuge! Zu seinen Füßen sollten die Franzosen betteln um einen Funken seines hohen Geistes! Wo lebt der Mann? Er soll gleich nach Berlin, ich muß ihn bei mir haben!« Dann kommen die Minister des großen Königs; »die Konferenz galt dem letzten großen Gedanken in Friedrichs Leben, dem Fürstenbunde, in welchem er durch das Gleichgewicht und die Solidarität der monarchischen Interessen den europäischen Kontinent vor künftigen Kriegen bewahren, die Völker zur Entwicklung ihres materiellen Wohles führen wollte.« Die Gründung dieses wichtigen Fürstenbundes unterbricht der König und gibt den Befehl, sofort den großen Komponisten Friedemann Bach herbeizuschaffen. Dann geht der große König, »ohne ein Wort zu sprechen, langsam nach dem Zedernzimmer und schloß sich ein …; Er ergriff einen Band Predigten und sank auf einen Stuhl. Vor Tränen konnte er die Schrift kaum lesen.« Dies und viel Ähnliches steht wörtlich in dem deutschen Volksbuche »Friedemann Bach«. In Wahrheit hat sich Friedrich um diesen Tonsetzer kaum je gekümmert. Aber über F. Bachs damals berühmteren Bruder, der sich über schlechte Behandlung durch Friedrich beklagte, schrieb der große König im Mai 1755 an Fredersdorf: »bac ligt! (Bach lügt) er hat ein-mahl im consert hier gespilet, nuhn Krigt er Spiritus«. Können die preußischen »Historiker« nicht viel besser »lügen« als bac und hat der Spiritus sie nicht viel ärger benebelt? Die von Arndt 1805 klipp und klar festgestellte Wahrheit, daß Friedrichs Fürstenbund nichts »Großes« sondern »nur eine politische Posse gegen Österreich« war, ist von den preußischen »Historikern« mehr als hundert Jahre verschleiert worden. Heute können diese Herren in ihren »wissenschaftlichen« Werken, von denen sie wissen, daß kein Mensch sie liest, die Wahrheit ruhig zugeben, denn sie sind ja sicher, daß die Irreführung der öffentlichen Meinung gründlich und unheilbar ist, und zur Irreführung der öffentlichen Meinung ist die »Wissenschaft« in Preußen ja wohl da (vgl. S. 216 f.).

»Nachdem Friedrichs fieberhafte Bemühungen, sich durch schlechtberechnete Handelsunternehmen zu bereichern, alle »unweigerlich fehlgeschlagen« waren, und nachdem er durch niederträchtige Quertreiberei auch die Entwicklung des deutschen Handels verhindert hatte, kam ihm auf seine alten Tage der Gedanke, daß Armut eine Tugend sei. Er war ja Philosoph und liebte Aprilscherze! Bewundernd schreibt Ranke darüber:

»»Mit einer Art von moralischem Schwung (!), wie es seiner Jugend eigen war, spricht Friedrich der Große sich einmal in einem Briefe (1.! IV.! 1782) an den vertrauten Herzog von Braunschweig über den seit der Eroberung von Ostindien zunehmenden Reichthum von England aus. Er findet denselben schädlich für die Nation und für die Regierung: denn dadurch werde Luxus und Käuflichkeit befördert, die früher gewiß achtungswürdige politische Haltung gehe verloren. ›Ich ziehe‹, so schreibt er, ›unsere Einfachheit und unsere Armuth den Reichthümern vor. Unser Schmuck sei Ehre, Muth und Uneigennützigkeit. Man muß den Menschen in dem Menschen suchen; nicht in den Äußerlichkeiten, die ihm nicht gehören.‹ – Er ist zufrieden mit sich, daß er seine Kräfte der Gesellschaft, der er angehöre, gewidmet, Gerechtigkeit geübt, Ordnung erhalten und die Armee in den Stand gesetzt habe, durch den sie anderen überlegen sei.« So berichtet von Ranke in »Die deutschen Mächte und der Fürstenbund« S. 185.

»Wenn der König trotz dieser philosophischen Entsagungsstimmung doch wichtige Maßnahmen für die Entwicklung des preußischen Handels traf, so dienten sie vor allem der Verbreitung der Religion und der Volksaufklärung. So befahl er am 10. Juli 1779, daß die kleinen Heiligenbilder wohlfeiler verkauft werden, und daß ihre Fabrikanten sich erkundigen müßten: »welche Heilige die Leute am liebsten hätten; die müßten am meisten gemacht werden« (Preuß, 111, 49). Seine Königliche Akademie ließ der königliche Aufklärer einen schwunghaften Handel für die Volksaufklärung entwickeln. Er hatte 1744 seiner Akademie das ausschließliche Privileg gegeben, sein Volk mit Kalendern zu versehen, die zur Hauptlektüre des gemeinen Mannes wurden und – die, wenn man dem Königlichen Historiographen Preuß glauben darf, noch dummer waren als in anderen Ländern. Preuß (III, 242 f.) berichtet, daß erst 1779 ein Versuch gemacht wurde, den Aberglauben aus dem volkstümlichen Kalender der Akademie auszumerzen. »Die Königliche Akademie der Wissenschaften«, so schrieb sie selbst, »konnte nicht länger zusehen, daß der gemeine unwissende Mann durch ungegründete Wetterprophezeiungen, durch unnütze Angabe der Tage, die man ehedem zum Aderlassen, Schröpfen, Kinderentwöhnen und dergleichen, wiewohl ganz ohne Grund, für vorzüglich gut gehalten hat, und durch mehr albernes Zeug, hinters Licht geführt würde.« So schrieb die Akademie. Aber Preuß berichtet weiter: »Es traf leider ein, daß die neuen, vernünftigen Kalender nicht gekauft wurden, und daß man sich genöthiget sahe, im folgenden Jahre den alten Unsinn herzustellen, namentlich die sogenannten ›Erwählungen‹, das heißt die Zeichen, wann gut Baumfällen, gut Haarabschneiden, gut Kinderentwöhnen, gut Purgiren, gut Aderlassen, sehr gut Aderlassen, gut Schröpfen, gut Säen und Pflanzen, bös Arzneibrauchen, gut Brechen, gut Schwitzen sei. Die Akademie büßte für ihre wohlwollende Absicht die Hälfte ihrer sonstigen Einnahme ein.«

»Andere Einkünfte hatte der große Friedrich seiner Akademie nicht gegeben; so »führte sie« denn weiter, für Geld, nach ihrem eigenen Ausdruck »den gemeinen, unwissenden Mann durch albernes Zeug hinters Licht.« So blieb es bis nach dem Tode Friedrichs des Großen als Ergebnis seiner sechsundvierzigjährigen Tätigkeit für die geistige und wirtschaftliche Verarmung seines Volkes, und, wie ich Ihnen eben auseinandersetzte, führen die preußischen Geschichtsprofessoren das Verdummungswerk der friderizianischen Akademie bis auf den heutigen Tag getreulich fort.«

Diese Unterhaltung hatte ein mir schmerzliches Nachspiel. Mich hatte etwas wie Kummer und Enttäuschung bei all den unerwarteten Mitteilungen über den von mir verehrten König Friedrich gepackt. Daß seine Handelsgesellschaften erfolglos waren, konnte ich glauben. Ich war kein Kind mehr und war längst von tiefem Zweifel über preußisch-bürokratische Leistungen auf praktischen Gebieten erfüllt. Aber ich hoffte wenigstens zu finden, daß Manfred die Bedeutung der kaiserlichen Handelsunternehmen in Flandern übertrieb. Ich war begierig, ob sich nicht etwa die ganze belgische Angelegenheit, die Manfred mir als englischen Geniestreich gegen das Deutsche Reich geschildert hatte, in englischen Augen wesentlich anders darstellte. Ich suchte darum Aufschluß in der Encyclopaedia Britannica, neben deren fünfunddreißig gewaltigen Lederbänden in Manfreds Bücherei die deutschen Konversations-Lexiken ein recht ärmliches Gesicht schnitten. Dieser englischen Encyclopaedia, für deren Verkauf in Amerika eine riesenhafte Werbearbeit geleistet wird, wurde drüben während des Krieges einseitig englischfreundliche Darstellung nicht nur von Deutschfreunden vorgeworfen. Ich durfte also hoffen, auch über die belgische Angelegenheit eine Darstellung zu finden, die nicht etwa österreichischer Eigenliebe schmeichelt, sondern die Ereignisse im Rahmen der englischen Weltpolitik zurechtrückt. Leider aber bestätigte alles, was ich fand, die von Manfred gemachten Mitteilungen. Das Folgende ist die wörtliche Übersetzung von Stücken, die ich mir zusammenstellte aus den Aufsätzen über: Schelde, Antwerpen, Ostende, Ostend-Company, Französische Revolution, Indien, Spanien und anderes, alle in der Encyclopaedia Britannica:

»Die Schelde, an der Antwerpen liegt, ist nur 250 Kilometer lang, von denen aber 207 Kilometer schiffbar sind. Unterhalb Antwerpens gehören beide Ufer den Holländern. Auch Gent, vom dreizehnten bis fünfzehnten Jahrhundert Brennpunkt des deutsch-niederländischen Handels, war, ebenso wie Brüssel, auf die Schelde als Zugang zum Meere angewiesen …;

»Nach der Versandung des Zwyn und dem Niedergang von Brügge begann Antwerpens Aufstieg. Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts siedelten die ausländischen Geschäftshäuser von Brügge nach Antwerpen über. 1560 erreichte Antwerpen die Höhe seines Wohlstandes. Mehr als tausend ausländische Kaufleute hatten dort Niederlassungen. Der venezianische Gesandte Guicciardini berichtet, daß manchmal an einem einzigen Tag fünfhundert Schiffe einliefen und daß auf den Landwegen wöchentlich zweitausend Lastwagen in die Stadt kamen. ›In Antwerpen war der Umsatz in vierzehn Tagen so groß wie in Venedig im ganzen Jahr‹. 1576, im Jahre der ›spanischen Wut‹, wurden sechstausend Antwerpener Bürger niedergemetzelt. 1585 wurden alle Protestanten verbannt. Der Todesstoß traf Antwerpen im Jahre 1648 mit der Schließung der Schelde durch den Frieden von Münster …; Ostende wurde 1604 nach dreijähriger Belagerung von den Spaniern erobert und fast gänzlich verwüstet, aber schnell wieder aufgebaut. Am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts schien Ostende den Weg wirtschaftlichen Gedeihens betreten zu haben, als Kaiser Karl VI. es zum Sitze seiner Ostindischen Kompagnie machte. Aber das Eingreifen mächtiger Nachbarn, vor allem Englands und Hollands, sorgte im Wiener Vertrag von 1732 dafür, daß dieser Aufschwung ein Ende nahm …; Schon im Jahre 1717 hatten die Holländer an der afrikanischen Küste ein reichbeladenes Schiff der Ostender Handelsgesellschaft und die Engländer ein anderes bei Madagaskar gekapert. Aber die Ostender ließen sich nicht einschüchtern. Trotz Hollands Widerstand verlieh ihnen Kaiser Karl VI. im Dezember 1722 einen Freibrief, worauf die Anteile der Gesellschaft bis zu fünfzehn Prozent über par stiegen. Die Gesellschaft hatte Faktoreien in der Nähe von Madras und am Ganges. Die Aussichten der Gesellschaft waren sehr verheißungsvoll, aber ihre Gründer hatten nicht mit der Eifersucht der Holländer und der Engländer gerechnet. Die Holländer beriefen sich auf den Westfälischen Frieden von 1648, in dem der König von Spanien den Bewohnern der südlichen Niederlande den Handel mit den spanischen Kolonien verboten hatte. Der Übergang der spanischen Niederlande an Österreich (1713) beseitigte, so behaupteten die Holländer, diese Beschränkung nicht. Als dann aber die spanische Regierung nach einigem Zögern einen Handelsvertrag mit Österreich schloß und die Gesellschaft von Ostende anerkannte, war die Antwort ein Verteidigungsbund, der in Herrenhausen im Jahre 1725 von England, Holland und Preußen geschlossen wurde. Angesichts dieses gewaltigen Widerstandes sah sich der Hof von Wien gezwungen, in den Verträgen von Paris 1727 und Wien 1732 nachzugeben, und die österreichischen Niederlande wurden verdammt, vom Handel mit den beiden Indien bis zum Jahre 1815 ausgeschlossen zu bleiben …; Als 1727 die Ostender Gesellschaft, zuerst nur auf sieben Jahre, zu Untätigkeit verurteilt wurde, verloren eine Anzahl ihrer Beamten ihr Brot. Von ihrer genauen Vertrautheit mit dem Osten wußte Herr Henry Koning in Stockholm Vorteil zu ziehen, als er sich dort im Jahre 1731 einen Freibrief für die ›Schwedische Kompanie‹ verschaffte …; Nachdem die Ostender Gesellschaft stets gegen schwere Widerstände zu kämpfen gehabt hatte und fast nur durch den Wunsch der österreichischen Regierung, am ostindischen Handel teilzunehmen, lebendig erhalten worden war, ging sie endlich im Jahre 1784 (!) bankerott …; Die Schließung der Schelde erfuhr eine Milderung nur während der französischen Herrschaft von 1795-1815 und in der Zeit, als Belgien ein Teil der Niederlande war, 1815 bis 1830. Den tiefsten Punkt seines Niederganges erreichte Antwerpen im Jahre 1800, als die Bevölkerung auf vierzigtausend sank. Napoleon erkannte die strategische Bedeutung Antwerpens und gab zwei Millionen für den Ausbau des Hafens …; Berauscht von seinen Siegen (Valmy und so weiter) hatte sich der französische Nationalkonvent (1792 bis 1795) dem Feuer der Propaganda und Eroberung hingegeben. Der Scheldefluß war bis dahin für den Handel geschlossen gewesen durch alte Verträge, an denen England und Holland als neutrale Mächte beteiligt waren. Ohne sich auch nur mit dem Schein von Verhandlungen aufzuhalten, erklärte die französische Regierung am 16. November 1792, die Schelde sei in Zukunft offen. Am 19. November bot ein Beschluß des Konventes allen Völkern, die für ihre Freiheit kämpften, mit anderen Worten: den Unzufriedenen aller Nachbarstaaten, französische Hilfe an. Mit besonderer Tollheit benahm sich der Konvent gegen England, wo Pitt, trotz wachsenden Widerwillens gegen die Revolution, ernstlich strebte, den Frieden zu erhalten. Die französische Eroberung der Niederlande und die Anzeichen, daß Frankreich dieses Land annektieren wollte, machten Pitts Bemühungen sehr schwierig. Aber die französische Regierung unterschätzte die Macht Großbritanniens …; Nach 1815 hielten die Holländer an ihrem Recht der Zollerhebung, das bis auf den Frieden von Münster im Jahre 1648 zurückging, noch hartnäckiger fest, nachdem sich Belgien im Jahre 1830 von dem vereinigten Königreich der Niederlande getrennt hat. Die Londoner Konferenz vom Jahre 1839 setzte den an Holland zu zahlenden Zoll auf einundeinhalb Gulden für die Tonne fest.«

Soweit war ich mit meinen Auszügen aus der Encyclopaedia Britannica gediehen, als Manfred mich bei der Arbeit überraschte und auslachte.

Manfred: »Wenn Sie sich mit der Schelde-Frage beschäftigen wollen, dürfen Sie den wichtigsten Aufsatz, den über meinen väterlichen Freund Baron Lambermont nicht vergessen. Lambermont ist der Befreier Belgiens und des nordwesteuropäischen Festlandes. Lambermont tat, was Kaiser Karl VI. und Kaiser Joseph II. infolge der kurzsichtigen Niedertracht Preußens nicht vermochten, und was dem französischen Nationalkonvent und dem Kaiser Napoleon nur vorübergehend gelang.«

Manfred schlug den sechzehnten Band der Encyclopaedia Britannica auf und las vor:

»»Auguste Lambermont (1819-1905) hat als einer der ersten Belgier erkannt, wie wichtig es sei, den Handel seines Landes zu entwickeln …; Die Zölle, die von den Holländern auf die Schiffahrt der Schelde gelegt wurden, erwürgten den belgischen Handel …; Von 1856-1863 widmete Lambermont fast seine ganze Kraft der Beseitigung dieser Beschränkung. 1856 machte er einen Feldzugsplan und verfolgte ihn mit unermüdlicher Ausdauer, bis er ihn sieben Jahre später in einer internationalen Vereinbarung durchgeführt sah. Einundzwanzig Mächte und Staaten waren auf der Tagung vertreten, die in dieser Angelegenheit in Brüssel 1863 gehalten wurde. Am 15. Juli wurde der Vertrag, der die Schelde befreite, unterzeichnet. Für diese Leistung wurde Lambermont baronisiert …; Belgien kaufte das holländische Zollrecht, und jede von den Mächten, die aus seinem Handel Vorteil zogen, steuerte zu der Kaufsumme bei. Die Schiffahrt auf der Schelde wurde damals frei erklärt …; Seit dem Jahre 1863 hat sich die Lage Antwerpens völlig geändert, und kein Hafen Europas hat seitdem größere Fortschritte gemacht als die alte Stadt an der Schelde.««

Nach dieser Verlesung aus der Encyclopaedia Britannica sagte Manfred: »Ein großer Mann, der Baron Lambermont! Aber wenn man ihn gebührend bewundert hat, darf man nicht vergessen, daß es ihm nur deshalb gelang, die festlandfeindliche Politik Friedrichs des Großen über den Haufen zu werfen, weil die Engländer ihrer nicht mehr bedurften. Vor dem belgischen Wettbewerb ist ihnen heute nicht mehr bange, und ihren festländischen Brückenkopf sicherten sie sich rechtzeitig durch die »Neutralitätserklärung« von Belgien und Holland im Jahre 1839. England ist in der großen Politik großartig und niederträchtig wie ein großer Liebhaber, der, weil er stark ist, geliebt wird, wie niederträchtig er auch sein mag. England kann Irland, Indien oder Transvaal vergewaltigen oder China vergiften, und wird schließlich gar geliebt dafür. So haben die Engländer auch Belgien zweihundert Jahre lang mißhandelt; aber wenn der prophezeite europäische Krieg um Belgien ausbricht, wette ich, wird Belgien auf englischer Seite stehen. Denn der Starke verdient geliebt zu werden. Der Schwächling, der Weltpolitik machen will, ist verächtlich. Und wie der Schurkenstreich des pathologischen Schwächlings klingen mir die Pläne der »Alldeutschen«, die heute Ansprüche auf Belgien zu verlauten wagen. Nachdem Deutschland hundert Jahre lang nicht verstand, sein Belgien zu befreien, nachdem Deutschland hundertfünfzig Jahre lang die festlandfeindliche Politik Friedrichs II. gutgeheißen hat, nachdem Belgien sich endlich selbst befreien mußte, klingen heute deutsche Ansprüche auf Belgien wie die Ansprüche des Unwürdigen, den eine edle Frau verließ und mit Recht verachtet.«

Hegemann: »Sie haben mir über Goethes literarische und diplomatische Feldzüge gegen Friedrich II. unerwartete Enthüllungen gemacht, und in der Encyclopaedia las ich über den Kampf des französischen Nationalkonvents um die Befreiung Belgiens. Ist es nicht eine eigentümliche Neckerei der Weltgeschichte, daß Goethe dann bei Valmy schließlich doch gegen die Befreier desselben Belgiens focht, dem er im Egmont ein Freiheitslied sang?«

Manfred: »Bei Valmy war Goethe vorsichtiger Beobachter. Nach Herzog Ferdinands schmählichem Rückzug aus der Kanonade erklärte er am Wachtfeuer: »Von hier und von heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus.«

»Was mir Gewißheit gibt, daß Goethes Veröffentlichung seines Aufsatzes »Literarischer Sanscülottismus«, aus dem ich Ihnen vorlas (vgl. S. 113-20), durch die schmachvollen Ereignisse von 1792 und 1795 ausgelöst wurde, ist die Entwicklung seines Verhältnisses zum Herzog Ferdinand von Braunschweig, wie es in der »Kampagne in Frankreich« geschildert wird. Goethe war bereit gewesen, die Schrullen und Anmaßungen des Rechthabers von Sanssouci zu übersehen, aber die Ereignisse von 1792 und 1795 hatten bewiesen, daß auch der Tod des eigensinnigen alten Herrn der verderblichen Reichsfeindschaft Preußens kein Ende gemacht hatte; das Verhalten Preußens seit dem Tode Friedrichs II. war derart, daß selbst Herzog Ferdinand von Braunschweig, der bis dahin noch unerschütterlich zu Preußen gestanden hatte, erbittert den Rücken kehrte. Diese Erbitterung gegen Preußen brachte Goethe und Ferdinand von Braunschweig zusammen und erklärt die Worte Goethes: »Er hatte mich eigentlich niemals geliebt, das mußte ich mir gefallen lassen; er gab es zu erkennen, das konnt' ich ihm verzeihen; nun aber war das Unglück eine milde Vermittlerin geworden, die uns auf teilnehmende Weise zusammenbrachte.«

»Diese politische Sinneswandlung des Herzogs von Braunschweig bedeutet für Goethe als Politiker eine schmerzliche Genugtuung von nicht geringem Werte; aber da sein Landesherr, der Herzog von Weimar, sich durch die geographische Lage seines Landes, durch Neigung und verwandtschaftliche Beziehungen unlöslich an Preußen gekettet glaubte, mußte Goethe schweigen. »Was er schreiben dürfte, mag er nicht schreiben, und was er schreiben möchte, wird er nicht schreiben«, läßt Goethe einen Einsichtigen über den Verfasser der »Kampagne in Frankreich« sagen. Die Deutung, die schon Ottokar Lorenz Goethes Worten über den Herzog von Braunschweig gegeben hat, wird noch überzeugender, wenn man die Berichte liest, die Mirabeau und Lord Malmesbury über Unterhaltungen mit dem Herzog von Braunschweig gemacht haben, von denen die eine den Herzog vor, die andere nach seiner Abkehr von Preußen zeigt, das heißt vor und nach dem Unglück, das Herzog Ferdinand und Goethe »zusammenbrachte«. Lassen Sie mich Ihnen vorlesen, was der Jenenser Professor Lorenz scharfblickend zur Erklärung dieses Zusammenkommens sagt: »Der Herzog von Braunschweig gehörte zu der Zeit, als der erste Versuch gemacht wurde, den Fürstenbund (Goethes) zu gründen, zu den offenen Gegnern. Den ursprünglichen Weimarischen und Dessauisch-Badischen Absichten setzte er von vornherein den Gedanken einer Anlehnung an Preußen entgegen, und er war es auch, der den König in dem Vorhaben unterstützte, den Bund den Interessen Preußens dienstbar zu machen. Als der Herzog zuerst durch den Fürsten von Dessau in das Geheimnis der kleineren Fürsten eingeweiht worden war, erklärte er diese Art von Verbindung einfach für politische Träumereien. Es scheint fast, als ob er dabei den Einfluß von Männern habe tadeln wollen, die ihm nicht praktisch und erfahren genug vorkamen.« Das wäre also geradezu gegen Goethe gerichtet gewesen.

»Die Haltung, die Ferdinand von Braunschweig als preußischer General und als »praktischer und erfahrener« Politiker gegen die Fürstenbund-Träumereien Goethes, Dalbergs, Edelsheims einzunehmen versuchte, findet sehr vornehmen Ausdruck in folgenden Worten, die Mirabeau gleich nach dem Tode Friedrichs II. aus dem Munde des Herzogs gehört hat – adelige Worte, die vielleicht einmal Widerhall finden werden: »Glauben Sie mir,« (der Herzog sprach von den zweifelhaften Aussichten des neuen Königs von Preußen) »ich kann Ihnen bis zu einem gewissen Grade als Thermometer dienen; denn wenn ich merke, daß sich keine Aussicht auf eine feste und würdige Regierung bietet, und daß also die Tage des Hauses Brandenburg gezählt sind, dann werde ich nicht der letzte sein, der sich zurückzieht. Ich habe niemals einen Pfennig vom König von Preußen erhalten …; ihm zu dienen legt mir große Opfer auf …; Ich bin unabhängig. Ich möchte gerne meine Verehrung für das Gedächtnis Friedrichs des Großen beweisen; ich bin durchaus bereit, mein Blut zu vergießen für die Vollendung seines Werkes; aber an der Zerstörung dieses Werkes werde ich nie mitschuldig werden, auch nicht durch meine Anwesenheit. Ich werde also dem Schicksal der preußischen Monarchie nur so lange folgen, als ihre Regierung Weisheit und Würde zeigt …;«

So sprach Ferdinand von Braunschweig; es gibt Worte Bismarcks, die ähnlich klingen.« {Verw. auf Anmerkung}

Hegemann: »Warum wollen Sie in diesen Worten Ferdinands etwas anderes lesen als seine Versicherung, daß er Friedrich den Großen für einen besseren König hielt als seinen Nachfolger?«

Manfred: »Ferdinands Worte richteten sich weniger gegen den neuen preußischen König, der entschlossen mit der friderizianischen Politik der Feindschaft gegen den deutschen Kaiser gebrochen hatte, als vielmehr gegen Lucchesini, der als treuer Fortsetzer der Politik Friedrichs II. stark genug gewesen ist, Preußen in die verhängnisvolle friderizianische Bahn zurückzudrängen.

»Die Ereignisse von 1792 überzeugten schließlich auch Ferdinand von Braunschweig, daß es bei der preußischen Regierung Weisheit und Würde nicht gab. Gewiß, 1794 hörte Malmesbury aus dem Munde des Herzogs bittere Klagen über den König von Preußen, der den Herzog verließ »dans une situation incroyable«. Aber: »Der Herzog fügte hinzu, daß während der Belagerung von Mainz Lucchesini ihm gesagt habe: ›Wenn dies vorbei ist, müssen wir so wenig als möglich tun und das übrige für die Österreicher lassen‹; daß aber damals gerade der Augenblick gewesen wäre, in dem gehandelt werden mußte; daß die deutschen Heere je 60 000 Mann zählten, während die Franzosen im ganzen nur 70 000 Mann stark waren; daß, wenn die Preußen und Österreicher damals vorgegangen wären, der Feldzug ruhmreich geendet hätte, daß aber Lucchesinis Niedertracht, welcher Lord Beauchamps nicht gewachsen war, es hintertrieben hat. Die Herzogin, in deren Anwesenheit all dies gesagt wurde, bemerkte: ›Du scheinst Preußen bis zum Widerwillen satt zu sein.‹ ›Das ist sicher,‹ antwortete der Herzog, ›nie ist jemand niederträchtiger behandelt worden als ich; in der Öffentlichkeit begegnen sie mir mit Höflichkeit, damit sie mich im geheimen um so besser vernichten können‹.« »Anmut und Freundlichkeit …; ohne mich im mindesten zu fördern« war der Vorwurf, den Goethe gegen Lucchesini erhoben hatte. Lord Malmesbury läßt den Herzog von Braunschweig mit den Worten schließen: »Bischofswerder hatte seine Einstimmung gegeben, daß Bayern in den Besitz Österreichs übergehe, aber Lucchesini hat mir erklärt, daß dies nie geschehen würde, solange er Einfluß besitze.«

»Ja, Lucchesini war seines Meisters Friedrich würdig!«

Hegemann: »Sie erwähnten Goethes Behauptung: »Wer Frankreich bereden will, es könne ohne Schaden in den Umtausch von Bayern willigen, glaubt es selbst nicht, und kein vernünftiger Mensch wird es ihm glauben.« Aber war Goethe nach dem Fehlschlagen seiner kaiserfreundlichen Fürstenbundpläne nicht zu sehr Partei, als daß man seinem Urteil trauen dürfte? Muß nicht ein Unbefangener heute anders urteilen? Was sagen z. B. die führenden deutschen Historiker? glauben die nicht, daß die Rettung Bayerns durch Friedrich ein Segen war?«

Manfred mußte lachen, als er mir antwortete: »Goethe sagte vorsichtig genug: »Kein vernünftiger Mensch wird es glauben«! Daß also die führenden preußischen »Historiker« es glauben, dessen können Sie sicher sein. Und »Rettung« Bayerns ist genau das Wort, das zum Beispiel Friedrichs nie errötender Lieb-Koser gebraucht, wenn er sich über die »große politische Niederlage des Kaisers« freut.

»Wieviel richtiger aber Goethe urteilt als die preußischen Geschichtsklitterer, das können Sie ebenfalls bei Koser (II, 520, 616 f.) nachlesen; er schreibt: »Nach der Thronbesteigung Ludwigs XVI. sprach Broglie, der Leiter der geheimen Diplomatie Ludwigs XV., es aus, daß Frankreich in dem Bündnis mit Österreich zu einer Macht dritten oder vierten Ranges herabgesunken sei, daß es gelte, den hitzigen und kriegerischen Sinn des Kaisers Joseph zu dämpfen, die alten Beziehungen zu Preußen wieder aufzunehmen.« Vor dem Schicksal, das den Franzosen durch den jungen deutschen Kaiser vorbereitet wurde, haben dann die treuen Minister Finckenstein und Hertzberg ihren großen König von Preußen mit beweglichen Worten gewarnt. Koser schreibt wieder, ohne zu erröten: »Sie erklärten dem König, durch den Austausch von Bayern gegen Belgien werde der Kaiser sich in den Stand setzen, das Elsaß und sein Stammland Lothringen zurückzuerobern«! Fürchterlich! das war im Januar 1785. Als dann im Februar die Zeitungen den bayrisch-belgischen Tausch als fertige Tatsache meldeten, begannen Friedrichs II. Wutausbrüche gegen den »verteufelten Joseph« und die »ehrlosen«, »feigen Kanaillen« von Franzosen, die es gegen den deutschen Kaiser »an Energie fehlen lassen« (vgl. oben S. 208). So »muß ich Klugheit und Tätigkeit verdoppeln und unausgesetzt die verhaßten Pläne im Kopfe haben, die dieser verfluchte Joseph mit jedem Tage neu erzeugt«, schrieb damals der große König, und in der Tat nur durch »verdoppelte Tätigkeit« konnte er den Franzosen Elsaß-Lothringen retten. Als er dann »Bayern gerettet« hatte, schrieb er dankbar ergriffen (21. II. 85): »Ich preise den Himmel vom Grunde meiner Seele«. Die Not Frankreichs lehrte ihn beten. Und wahrlich, er hatte Grund, Gott zu danken. Hatte er noch ein Jahr vorher klagen müssen: »Wir werden nicht eine einzige Macht finden, die uns auch nur den Schatten eines Bündnisses gewährt«, so standen jetzt plötzlich »die zwei großen Westreiche dem Fürstenbund wohlwollend zur Seite«. So berichtet, stets ohne zu erröten, Koser und fährt fort: »Wie England aus den besonderen dynastischen Rücksichten seines Nebenlandes Hannover, so hieß Frankreich den Fürstenbund gut nach allen Überlieferungen seiner an der Erhaltung der reichsfürstlichen Libertät interessierten Politik.««

Ich starrte völlig irregemacht in Kosers preußisches Standardwerk, auf dessen 1400 Großoktavseiten alle diese beschämenden Dinge zu finden sind. Da entzifferten plötzlich meine schon flimmernden Augen den Satz, mit dem Kosers Abschnitt über den Fürstenbund schließt, und mit neuaufflackernder Hoffnung las ich meinem Gastgeber folgendes vor: »»Der unbestreitbare diplomatische Sieg Preußens wirkte in der Gloriole einer nationalen Tat auf die Gemüter schier berückend. Sein ›Übergewicht in allem‹, um Goethes Ausdruck zu wiederholen, war aufs neue erhärtet; ›auf seiner Kraft ruhend‹ blieb Friedrich dem nachwachsenden Geschlechte nach dem Goetheschen Bilde ›der Polarstern, um den sich Deutschland, Europa, ja die Welt zu drehen schien‹.««

Manfred wiederholte das letzte Wort:

»»... schien«. Hinter diesem Schein stand die »Posse«, die Ernst Moritz Arndt brandmarkte (vgl. oben S. 190) und über die Kaiser Joseph treffend schrieb: »Auf Grund absurder Fabeln hat man genug Dumme zusammenzubringen vermocht, um einen sogenannten Bund für die deutsche Freiheit gründen zu können«.«

Hegemann: »Aber Goethe war kein Dummer! Etwas muß sein Vergleich Friedrichs mit dem Polarstern doch bedeuten!«

Manfred: »Das tut er auch. Und Goethe war der letzte, den Friedrichs » absurder Bund für die deutsche Freiheit« »dumm« gemacht hätte. Die größte politische Anstrengung, die Goethe je auf sich nahm, ist ja gerade durch Friedrichs absurden Bund nichtig geworden. Darum geht die »Hinters-Licht-Führung«, mit der Koser Goethes Segen für diesen reichsfeindlichen Bund vorzutäuschen sucht, selbst über das Maß hinaus, das bei einem überlieferungstreuen friderizianischen Akademiker als selbstverständlich erwartet werden muß (vgl. oben S. 216 f.). In den beiden Sätzen des elften und siebzehnten Buches von »Dichtung und Wahrheit«, die Koser für die Zwecke seiner Geschichtsklitterung verquickt, spricht der eine von »Friedrich dem Zweiten« und verwahrt den Ruhm der »Größe« für Katharina von Rußland. Sehr mit Recht, denn Goethe spricht gerade von den siebziger Jahren, in denen Friedrichs »des Zweiten« Abhängigkeit von der »großen« Katharina unheilbar geworden ist. Das zweite Goethewort, mit dem Koser seine Leser »hinters Licht führt«, braucht nur in seinem Zusammenhange gelesen zu werden, um als Spott Goethes über Friedrich und seinen Lieb-Koser deutlich zu werden. Denn Goethe erzählt von seinen Straßburger Studientagen (1770, also sechzehn Jahre vor dem Fürstenbund), von seinem »Entschluß, die französische Sprache abzulehnen und uns mehr als bisher mit Gewalt und Ernst der Muttersprache zu widmen«, und Goethe spricht dabei noch manches kräftige deutsche Wort. Nach diesen Bekenntnissen beginnt Goethes gutmütiger Spott auf den unbekehrbaren Franzosenfreund Friedrich mit folgenden Worten: »Blickten wir hingegen nach Norden, so leuchtete uns von dort Friedrich, der Polarstern, her, um den sich Deutschland, Europa, ja, die Welt zu drehen schien. Sein Übergewicht in allem offenbarte sich am stärksten, als in der französischen Armee das preußische Exercitium und sogar der preußische Stock eingeführt werden sollte. Wir verziehen ihm übrigens seine Vorliebe für eine fremde Sprache, da wir ja die Genugtuung empfanden, daß ihm seine französischen Poeten, Philosophen und Literaturen Verdruß zu machen fortfuhren und wiederholt erklärten, er sey nur als Eindringling anzusehen und zu behandeln« und »dem nach französischer Cultur strebenden Könige fehle es an Geschmack«. Bitte erinnern Sie sich, daß diese Anmerkungen zu Friedrichs Niederlage auf geistigem Gebiete und zu dem »Übergewicht des preußischen Exercitiums und sogar des preußischen Stocks« gleich nach 1806 geschrieben wurden, also nachdem alle Welt längst erfahren hatte, daß es sich selbst unter dem alten Régime Frankreichs als unmöglich erwies, französische Soldaten auf friderizianische Weise zu mißhandeln {Verw. auf Anmerkung}, und nachdem auch das »preußische Exercitium« durch Napoleons neue Taktik überrannt und der »preußische Stock« längst von Gneisenau als menschenunwürdige Jämmerlichkeit im Zusammenbruche der friderizianischen Anmaßungen geopfert worden war.

»Aber Goethes Spott über des »Polarstern« Friedrich fixe Ideen trifft nicht nur Friedrichs Francomanie und Prügelzucht. Für Goethe hatte sich Friedrichs Wesen immer unverrückbarer als »eigensinnige, voreingenommene, unrektifizierliche Vorstellungsart« enthüllt. Daß dieses durch Friedrichs literarische Untaten angeregte Wort Goethes, dessen Segen Koser für Friedrichs kaiserfeindlichen Bund erschleicht, genau auch auf Friedrich als Politiker paßt, hat bitterer noch als Goethe der Fürst Kaunitz erfahren, dessen lebenslänglicher Kampf für Deutschlands alte Ansprüche auf Elsaß-Lothringen, Belgien und koloniales Neuland im Osten nicht zuschanden geworden wäre, ohne Friedrichs stets bereite Unterstützung jedes Reichsfeindes.

»Kaunitz, dessen genialem deutsch-französischem Bündnis ein berufenster französischer Urteiler nachsagte, es habe Frankreich, den gefährlichsten Nachbarn Deutschlands, »zu einer Macht dritten Ranges herabgedrückt« {Verw. auf Anmerkung}, erklärte über Friedrich II.: »Nicht in scharfsinniger Voraussicht oder gesunder Staatskunst sind die Beweggründe des Königs von Preußen zu suchen, sondern in seinem persönlichen Charakter, seiner Stimmung, seiner mürrischen Einsamkeit, seinem Menschenhaß, seiner steten Verachtung sittlicher Pflichten, in der Abnahme seiner Gesundheit, in seinen persönlichen, unversöhnlichen Feindschaften.««

» Wer Friedrich II. mit einem Fixstern vergleichen will, wird gut tun, an seine fixe Idee des unversöhnlichen Kampfes gegen jede Ausdehnung deutscher Macht zu denken und auch daran, daß Friedrich vielen Vaterlandsfreunden, die innerhalb und außerhalb Preußens seinen Tod erwarteten, wie ein verhängnisvolles Gestirn gar zu lange zu beharren schien.

»Seien wir uns doch klar darüber: er beharrt noch heute. Dank Friedrich dem Großen ist Deutschland aus der großen Politik ausgeschieden wie vorher schon Frankreich, dessen schleichende Krankheit, den Absolutismus die »großen« Hohenzollern auf Preußen übertrugen.

»Joseph war der letzte deutsche Kaiser. Nachdem seine großartigen Versuche in Belgien und auf dem Balkan durch Preußen hintertrieben wurden, hat Deutschland noch für Rußland und England kämpfen oder, bei strenger Beschränkung auf seine engsten festländischen Ziele, sogar noch einmal das von Friedrich den Franzosen verschriebene Elsaß-Lothringen besetzen und, wie 1878, den »ehrlichen Makler« spielen dürfen. Wenn aber, wie etwa unter Friedrichs II. überlegenem Nachfolger, {Verw. auf Anmerkung} Wilhelm II., wieder deutsche Hände nach der großen Politik der Welt ausgestreckt werden sollen, dann wird sich Deutschland ein »Nasenbluten zuziehen« (vgl. oben S. 208), von dem ich als Freund Deutschlands hoffen will, daß es weniger erschöpfend und trotzdem auf Liebhaber dieser Dinge ebenso romantisch-heldisch-erhaben wirken möge wie das Nasenbluten, das sich Frankreich zuzog, als es unter Napoleon den gegen England verlorenen Kampf noch einmal aufzunehmen wagte. Auf St. Helena sind Napoleon fast ebenso viele neue »Gedanken« eingefallen wie dem Pensionär von Friedrichsruhe. Auf diesen, Ellis besonders lieben Gedankengang ist er verschiedentlich zurückgekommen. Zusammenfassendes findet sich in dem Gespräche »Napoleon, Oedipus und Friedrich der Große«, das gesondert in Buchform erscheint.

»Nichts wirkt befruchtender auf die Denktätigkeit eines Staatsmannes mit »liebgewonnenen Ideen« (vgl. oben S. 198-200) als ausgiebige Ferien. Die erstaunliche englische Verfassung macht es den Staatsleuten nach begangenen Fehlern viel bequemer, in Ferien zu gehen, als die absolutistischen Verfassungen des Festlandes, wo die »Königsopfer« nicht als Ministerwechsel, sondern – etwas leichtfertig und willkürlich – als Trauerspiele aufgefaßt werden, oft mit unzähligen Leichen.«

»Auch läßt sich Beifall freier spenden, Mißfallen deutlicher äußern und Kritik zweckmäßiger üben, wenn die davon Betroffenen sich nicht in den Heiligenschein der von Gottes Gnaden verliehenen »Größe« hüllen, sondern als Führer einer Partei an- und abtreten. Als Goethe in Berlin mit Widerwillen »über den großen Menschen seine eigenen Lumpenhunde raisonnieren hörte«, war er der Letzte, dem diese Größe über Kritik erhaben dünkte. Besuchte er doch Berlin gerade als »Verschwörer« gegen diese »Größe«. Aber Goethe empfand Ähnliches wie Lessing, der in Preußen »eine vorteilhafte Bedienung (das heißt Anstellung) von sich wies, weil nach seiner Versicherung der König von Preußen keinen, ohne abhängig zu sein und (abhängig) zu arbeiten, bezahle. Aus eben dem Grunde hatte er die Professur in Königsberg ausgeschlagen; besonders weil der Professor der Beredsamkeit alle Jahre einen Panegyrikus zu halten verpflichtet wäre«. {Verw. auf Anmerkung} Kann es etwas Widerlicheres geben als diese preußische »Bedienung«, diese Professoren, die »alle Jahre einen Panegyrikus« auf Friedrich den Großen halten, die ihn gar als großen Staatsmann preisen und ihm dann aus ihrem beschränkten, rechthaberischen Unverstand heraus in den entscheidendsten Dingen »verblendetes Festhalten an liebgewordenen Ideen«, »Unrecht«, mangelndes Verständnis und »Eigensinn« nachweisen, wie das Koser und andere »Lumpenhunde« Friedrichs II. tun und dann wieder den vorschriftmäßigen »Panegyrikus« herleiern. Als Goethe in genauer Einschätzung der friderizianischen »Denk«-Freiheit versicherte: »Ich hab' in preußischen Staaten kein laut Wort hervorgebracht, das sie nicht könnten drucken lassen«, {Verw. auf Anmerkung} zog er die Grenze des Druckbaren enger als die »Lumpenhunde«, die noch heute auf den »Panegyrikus alle Jahre« verpflichtet sind. Als Goethe die Hauptstadt »des großen Menschen« nach kurzem Besuche für immer verließ, scheint er Ähnliches empfunden zu haben wie Lessing, der elf Jahre vorher (1. II. 1767) an Friedrichs Heldensänger Gleim schrieb: »Ich hoffe, es soll mir nicht schwerfallen, Berlin zu vergessen. Meine Freunde daselbst werden mir immer teuer werden, immer meine Freunde bleiben; aber alles übrige, vom Größten bis zum Kleinsten – doch ich erinnere mich, Sie hören es ungern, wenn man sein Mißvergnügen über diese Königin der Städte verrät. – Was hatte ich auf der verzweifelten Galeere zu suchen?«

»Aus diesen Worten geht für jeden preußischen »Historiker« eindeutig hervor, daß Lessing in Friedrich den »Größten« und daß er in Friedrichs Hauptstadt die »Königin der Städte« erkannt hat. In dieser »Königin der Städte« durfte Friedrichs junger Vertrauter Lucchesini etwa ebenso viele Jahre weilen, als dem von Friedrich zum Verfasser »ekelhafter Plattheiten« ernannten Goethe dort Stunden vergönnt waren. Armer Goethe! Glücklicher Lucchesini!«


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