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Voltaires Mißhandlung

»Es wäre ungerecht, dieses »vorsintflutliche Tier« ausschließlich im preußischen Adel zu suchen. Waren doch, als Stein seine Anklage erhob, selbst in England kaum hundertfünfzig, in Frankreich kaum hundert Jahre verflossen, seitdem dort Herren vom Adel tätlich gegen berühmte, also bürgerliche Schriftsteller, ich denke an Dryden und Voltaire, vorgegangen waren, und zwar – wie ja auch Antonio gegen Tasso nicht den Degen zog –, indem sie sich selbst zurückhielten und ihre Opfer durch gemietete Leute prügeln ließen, also ähnlich, wie es Friedrich II. später mit den Vertretern der Kölner und Erlanger Zeitungen machte. Noch 1830, als Goethe sagte: »Ein deutscher Schriftsteller – ein deutscher Märtyrer! Sie werden es nicht anders finden«, glaubte er sich damit trösten zu können, daß es in England und Frankreich auch nicht besser gewesen sei, wobei er auf die Schicksale der Molière, Voltaire und Rousseau und auch Byrons hinwies, den böse Zungen aus England vertrieben hatten.

»Zur Zeit des Goetheschen Besuches in Berlin, die ja auch die Zeit der angestrengtesten politischen Bemühungen Goethes gegen Friedrich II. ist, waren die von Preußen beeinflußten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse womöglich noch unerfreulicher als die später vom Freiherrn von Stein geschilderten. Goethes politische Mißerfolge gaben ihm die Überzeugung, daß auch das ernstlichste Bemühen der Wohlgesinnten unter den bestehenden Verhältnissen aussichtslos sei. Nicht lange vor seiner Flucht nach Italien schrieb er: »Wer sich mit der Administration abgibt, ohne regierender Herr zu sein, der muß entweder ein Philister oder ein Schelm oder ein Narr sein.« Das ist eine Bankerotterklärung jenes bürgerlichen Gemeinsinns, dessen kräftige Entwicklung die Vorbedingung aller bürgerlichen Freiheit, alles würdigen politischen Lebens der »freien« Länder ist, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, den Friedrich der Große geprägt hat, als er vom »freien England« sprach. Dieses Opfer seiner Gesinnung ist Goethe nicht leicht geworden; klagte er doch gerade in jener Zeit, wenn auch nur im stillen, bitter über die Art, wie im staatlichen Leben »gepfuscht wird«, und über »die Kriegslust, die wie eine Krätze unseren Prinzen unter der Haut sitzt« …; »Ich habe auf dies Kapitel weder Barmherzigkeit, Anteil, noch Hoffnung und Schonung mehr. Befleißige Dich (der 1785 geschriebene Brief ist an v. Knebel gerichtet), das Kreuz auch auf Dich zu nehmen und mir nachzufolgen.« Goethe sprach von dem »Teufel des Unverstandes, des Unbegriffs und der Unanstelligkeit von manchen Menschen«, und er hatte schon damals – beinahe wie H. Taine und gleichsam als Seher der kommenden staatlichen Umwälzungen – erkannt, wenn er es auch nur in einem vertraulichen Briefe schrieb: »Unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Kellern und Kloaken miniert, wie es eine große Stadt zu sein pflegt, an deren Zusammenhang und ihrer Bewohner Verhältnisse wohl niemand denkt. Nur wird es dem, der einige Kundschaft davon hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aufgeht aus einer Schlucht und hier verworrene Stimmen gehört werden. Die Sorgen fallen mich an wie hungrige Löwen …; Für andere arbeite ich mich ab und erlange nichts.«

»Während es aber in Deutschland Goethe noch 1785 für aussichtslos hielt, öffentlich von den Sorgen zu sprechen, die ihm »unsere moralische und politische Welt« einflößten, hatten sich in Frankreich schon Köpfe vom Range Molières und Voltaires drangewagt, waren »Narren« genug, sich mit der moralischen und politischen » Administration abzugeben« und verwegen den »Teufel des Unverstandes von so manchen Menschen« zu entlarven, und es waren nicht Ludwig der Vierzehnte und Fünfzehnte, sondern störrische Mitglieder des Adels, die sich von diesen Befreiungsversuchen so scharf getroffen fühlten, daß sie sich an Molière und Voltaire vergriffen haben sollen.« Thomas Mann lächelte und sprach mit leise ironischer Betonung die Verse:

So steigt gewiß in stetigem Befreien
Die ganze Menschheit noch zu ungeahnter Höh!

und fügte hinzu: »Wie soll man diesen adligen Aktivismus deuten? als Ästhetik oder als Politik? Manchmal gibt es kein Drittes: es war Politik – »bei Gelegenheit« der Ästhetik.« Manfred antwortete: »Es war Ethik; wenigstens erkennt man im Verhalten des Herrn von Rohan (» roi ne puis, duc ne daigne, Rohan je suis!«, gab es je einen stolzeren Wahlspruch?), der Voltaire durchprügeln ließ, zarte, menschliche Rücksichtnahme. Seinen Handlangern, während sie Voltaire verprügelten, rief er zu: »Schlagt ihm nicht auf den Kopf; aus dem kann noch einmal etwas Gutes kommen.« Diese vornehme Rücksichtnahme des adligen Herrn rührte den zuschauenden Pöbel und zwang ihm einen Ruf der Anerkennung ab: »Ach, der gute Herr!«; das mag ja widerspruchsvoll klingen, aber es war eben derselbe Pariser Pöbel, der nach der französischen Niederlage von Roßbach Friedrich den Zweiten als »den Großen« feierte; eine Auszeichnung, die doch heute noch von vielen als gültig anerkannt wird. Voltaire, der seines Gegners nicht habhaft werden konnte, sondern in die Bastille gesteckt wurde, floh ins »freie« England und holte von dort die Gedanken, die später manchen hochgebildeten und harmlosen Junker auf das Schafott brachten.«


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