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»Allerdings – widerspruchsvoll wie es klingen mag – ich glaube, daß Goethes politischer Blick unendlich viel weiter reichte als der von preußischem Partikularismus »voreingenommene« Friedrichs II. Goethe besaß in hohem Maße die Friedrich II. fehlende umfassende Bildung, welche einen weiten politischen Blick gestattet. Hinter dem Dichter Goethe steht ein Goethe der großen internationalen Einsicht, der zum Beispiel den Deutschland einenden Rhein-Donau-Kanal herbeiwünscht, statt wie Friedrich II. den preußischen Landstraßenbau zu vernachlässigen, damit Fuhrleute und Reisende mehr Geld in Preußen verzehren müssen; ein Goethe, der »in Geist und Liebe dasjenige verknüpft, was in großen Fernen auf dem Erdboden auseinander steht«, der die Kanäle von Suez und Panama fordert und mit seherischem Scharfblick ihre Bedeutung erkennt. Friedrichs II. bei weitem bedeutungsvollste Tat ist es gewesen, daß er unendlich viel deutschen Blutes vergoß, um Indien und Amerika und so Suez und Panama den englisch sprechenden Völkern in die Hände zu spielen; er hielt überseeische Besitzungen für wertlos. Während Friedrichs II. geographische Kenntnisse, wie aus Lucchesinis Tagebuch hervorgeht, kaum über Böhmen und Ostpreußen hinausreichten, und während er in seinen Testamenten die Torheit überseeischen Kolonialerwerbs darzutun sucht, hat Goethe selbst (wie Soret versichert) einmal mit Lili dem deutschen Gefängnis entfliehen und zu uns nach Amerika auswandern wollen; er hat im Wilhelm Meister ausführlich über Notwendigkeit und Schicksal der deutschen Auswanderung geschrieben und hat die wichtige Entwicklung West-Amerikas angekündigt. – Oder nehmen Sie Goethes Verständnis für die politischen Aufgaben des Deutschen Reichs in Europa: früh zu den Gegnern Österreichs hinübergezogen hielt Goethe seinen Herzog von dem hochverräterischen Abenteuer zurück, in das ihn Friedrich II. zur Losreißung Ungarns von Österreich verwickeln wollte, indem er ihm Hoffnung auf die ungarische Krone machte.«
Hegemann: »Versuchen Sie nicht beständig etwas wie eine Geschichtsfälschung, wenn Sie immer den deutschen Kaiser und das Deutsche Reich gleichsetzen, als ob nicht der Kaiser vor allem für den Vorteil von Österreich eingetreten wäre? War nicht Österreich durch seine großen Erwerbungen im Osten längst eine östliche, außerdeutsche Macht geworden?«
Manfred Ellis: »Wenn ich in Österreich, dem Zurückeroberer des Elsaß (1743) und dem Verteidiger Flanderns, eine deutsche Macht sehe, weiß ich mich im Einklang nicht nur mit so großen Deutschen wie Goethe und Bismarck, sondern auch mit so berühmten Preußen wie Friedrich II. und von Ranke.
»Gegenüber der Zügellosigkeit Friedrichs II., der durch seine hochverräterischen Angriffe auf Österreich die Macht des Deutschen Reiches schwächte, nahm Goethe eine politische Stellung ein, die überraschend an die erinnert, die Bismarck eingenommen hat, als er die österreichische Vorherrschaft in Ungarn verteidigte. »Es ist eine seltsame Bescheidenheit,« sagte Bismarck 1851, »daß man sich nicht entschließen kann, Österreich für eine deutsche Macht zu halten. Ich kann in nichts anderem den Grund hiervon suchen, als daß Österreich das Glück hat, fremde Volksstämme zu beherrschen, welche in alter Zeit durch deutsche Waffen unterworfen wurden. Ich kann aber daraus nicht schließen, daß, weil Slowaken und Ruthenen unter der Herrschaft Österreichs stehen, diese die Repräsentanten des Staates und die Deutschen eine bloße beiläufige Zugabe des slavischen Österreichs seien; sondern ich erkenne in Österreich den Repräsentanten und Erben einer alten deutschen Macht, die oft und glorreich das deutsche Schwert geführt hat«.«
Hegemann: »Darf man einem derartigen Worte Bismarcks, das er aus irgendeinem politischen Grunde einmal gesprochen haben mag, endgültige Bedeutung beimessen?«
Manfred: »Wenn Sie die dichterische Kraft dieses Bismarckwortes ebensowenig überzeugt wie der gesunde Verstand, der mir aus ihm zu sprechen scheint, dann bitte ich, Ihnen Friedrich II. selbst als Kronzeugen anführen zu dürfen. Mein Beweisstück kommt mir recht lustig vor. In seinem Testament von 1752 schilderte Friedrich II. die überlegene Macht, die sich die deutschen Kaiser trotz des Verlustes von Schlesien noch bewahrt hatten. Dann fährt er fort: »Après l'Allemagne la France est la monarchie la plus puissante de l'Europe«. Zu dem Worte l'Allemagne hat der Bewunderer Friedrichs II. Lehmann-Göttingen als Herausgeber eines Auszuges aus dem Testamente von 1752 eine Fußnote gemacht, die lautet: »Der König meint Österreich«! Selbstverständlich meinte der König Österreich! denn Deutschland war eben dank Österreichs Führung die »mächtigste Monarchie Europas«, bis Friedrich dieses Deutschland für immer zerriß und für immer dem Bismarckschen cauchemar des coalitions auslieferte. Selbst v. Ranke muß zugestehen, daß – sogar nach dem Siebenjährigen Kriege – »der Reichskörper noch universale Bedeutung hatte« und daß eine »deutsche Macht« damals im Besitze des Kaisertums war. Ernst Moritz Arndt hat ähnliches betont. {Verw. auf Anmerkung} Vergessen Sie nicht, daß die deutsche Kaiserkrone von 1438 bis 1806, also mehr als dreiundeinhalb Jahrhunderte, immer im Hause Österreich gewesen ist, mit der einzigen Ausnahme der drei Jahre 1742-45, in denen Karl VII., die »Marionette« der Franzosen und Friedrichs II., der großen Maria Theresia den Kaiserthron streitig zu machen versuchte. {Verw. auf Anmerkung} Nur Friedrich II. ist schuld an dem Verbrechen von 1740, das Arndt »die letzte große Szission teutscher Nation, die unheilbare, die vielleicht mit dem Volke endigen wird«, genannt hat.
»Goethe glaubte nicht, daß das Deutsche Reich von 1438 bis 1742 und von 1745 bis 1806 unter Fremdherrschaft stand, sondern er betrachtete, ganz wie Bismarck, Österreich als deutsche Macht und er würdigte, ganz wie Bismarck, die gewaltige, stolze Aufgabe, die damit den Deutschen in Österreich und in den übrigen Teilen des Deutschen Reiches erwuchs, wie sie jedem großen Volke erwachsen ist, das zu einer Weltstellung berufen ist; Goethe sagte: »Es gehört eine geistreiche, kluge und energische Regierung dazu, um so verschiedenartige Völkerstämme in Frieden zusammenzuhalten.« Maria Theresia war in diesem Sinne im höchsten Grade »geistreich«; die Art, wie sie die Herzen der früher aufrührerischen Ungarn gewonnen hat, zwang alle Welt, selbst den feindlichen Friedrich II., zur Bewunderung. Was soll man dagegen von Friedrichs Versuch sagen, ihr die Ungarn zu entfremden? Werden die preußischen Versuche, die Herzen der unterworfenen Polen zu gewinnen, ebenso »geistreich« sein wie das Werk Maria Theresias? oder werden nicht vielmehr sogar die preußisch-deutschen Versuche scheitern, das linksrheinische Deutschland wiederzugewinnen oder zu halten – Gebiete, die durch Friedrichs II. Schuld zu lange dem Reiche entfremdet wurden und die dem Deutschtum wiederzugewinnen vielleicht mehr als die Werbekraft der Hohenzollernlegende und des friderizianischen Geistes erforderlich ist? Es zeugte auch von politischem Blick, als Goethe, »in Geist und Liebe« »eine geistige Sprachverbindung der Deutschen« anbahnte, zu der ihm nicht nur »das herrliche Rheintal von Basel bis Mainz« und »das sämtliche obere Deutschland, die Schweiz mit eingerechnet«, sondern besonders auch Elsaß gehören, wo er aus eigener Anschauung weiß, daß »deutsche Kultur und deutsche Sitte überwiegen«. Und wenn Goethe hinzufügte, daß im Elsaß »die Vorteile der (französischen) Nationaleinheit, in die man gehört, anerkannt werden« und daß »es niemand gelüstet nach der germanischen Zerstückelung«, ist das nicht wieder eine laute Anklage gegen Friedrich II., der zwar mit den elsässischen Söldnern in seinem Heere so gute Erfahrungen gemacht hatte, daß er sie schließlich als »so gut wie unsere Landeskinder« bezeichnete, der aber als Vorkämpfer germanischer Zerstückelung sich immer wieder rühmte, daß er den Franzosen Elsaß und Lothringen gesichert hat und dessen letzte große Tat es war, Bayern und die Pfalz dem französischen Einfluß zu retten?
»Wie genau entspricht doch die verschiedene Auffassung elsässischer Dinge, die Goethe und die Friedrich II. für sich wählten, ihrer Stellung zur deutschen Sprache. Das Festhalten der Elsässer an deutscher Sprache und Sitte begründet Goethe folgendermaßen: »Wenn der Überwundene die Hälfte seines Daseins notgedrungen verliert, so rechnet er sich's zur Schmach, die andere Hälfte freiwillig aufzugeben. Er hält daher an allem fest, was ihm die vergangene gute Zeit zurückrufen und die Hoffnung der Wiederkehr einer glücklichen Epoche nähren kann«; und ähnlich erzählt Goethe, daß die Erkenntnis, auf dem Gebiete der ihm teuren französischen Sprache immer als Eindringling gelten zu müssen, ihn und seine Straßburger Studiengenossen den Entschluß fassen ließ, »die französische Sprache gänzlich abzulehnen und uns mehr als bisher mit Gewalt und Ernst der Muttersprache zu widmen«. Genau das Gegenteil ergab sich bei Friedrich II.; die Tatsache, daß – wie Goethe es ausdrückt – »ihm seine französischen Poeten, Philosophen und Literatoren Verdruß zu machen fortfuhren und wiederholt erklärten, er sei nur als Eindringling anzusehen und zu behandeln«, bestimmte den König nur zu noch rückhaltloserem Aufgeben seiner Muttersprache, zu größerer Abhängigkeit von seinen Merkern des französischen Meistersangs, mochten sie Voltaire, de Prades, de Catt oder Lucchesini heißen, die ihm seine unselbständigen französischen Arbeiten verbessern mußten.
»In diesem Zusammenhange scheint mir Macaulay eine tiefsinnige Bemerkung gemacht zu haben: »Friedrich beherrschte keine einzige Sprache vollkommen …; Selbst wenn er die dichterischen Gaben besessen hätte, die ihm in so hohem Maße fehlten, der Mangel einer Sprache würde ihn verhindert haben, ein großer Dichter zu sein und edle Werke der Einbildungskraft zu schaffen …;«
»Könnte man nicht vielleicht noch weiter gehen und sagen, daß der Mangel der Sprache ein so schwerer Mangel ist, daß er einen Mann geradezu von jeder schöpferischen Leistung im höchsten Sinne ausschließen muß? jedenfalls von schöpferischer Tätigkeit auf dem Gebiete nationaler Politik? Vielleicht sollte man fragen, ob nicht Vaterlandslosigkeit – oder wie kann man das mehr als mittelalterliche »Elend« der Sprachlosigkeit anders nennen? – ob etwa diese Vaterlandslosigkeit Friedrich den Zweiten zu einer höheren übernationalen Auffassung befähigte? Vielleicht hat er die Gefahren des Nationalitäten-Wahnsinns vorausgesehen und bekämpft? aber nein! ihm fehlte der seherische Weitblick. Innerhalb der deutschen Nation wollte er sein blutiges, geprügeltes Sondernatiönchen, das preußische, schaffen; und wozu? ja, diese Frage hat der große Friedrich anders, aber klarer beantwortet als die preußischen Geschichtschreiber, die auf die geheimnisvolle Überlegenheit des preußischen Sonder-Kultürchens schwören; – ja wozu? darauf antwortete Friedrich 1758 im Gespräch mit seinem Vertrauten de Catt: »... es muß weiter gerauft werden! Wofür? Um uns einen Namen zu machen!«, oder 1770 in einem Brief an d'Alembert: »es hat immer Kriege gegeben, und was es immer gegeben hat, das ist notwendig – obgleich ich nicht wüßte warum! – also wird die Kriegsfurie immer diesen unseligen Erdball verwüsten …; Selbst gesetzt den Fall (sagt Friedrich in anderem Zusammenhange, aber in demselben Briefe), es sei möglich, die Menschen aus einem derartigen Irrtume zu retten, bleibt noch die Frage: würde es sich lohnen?« Wie treffend! In der Tat, solange Könige wie Friedrich II. geduldet und gar bewundert werden, wird »die Kriegsfurie diesen unseligen Erdball verwüsten«.