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Dann brachte Manfred folgenden Einfall vor:
»Hierher gehört übrigens noch ein anderes Wort Ihres großen Bismarck, ein Wort von ungeheurer Tragweite, wie mir scheinen will. Bismarck sagt in seinen »Gedanken und Erinnerungen« einmal:
»»Ich würde mich nicht wundern, wenn die vis major der Gesamt nationalität meine dynastische Mannestreue und persönliche Vorliebe schonungslos vernichtete.« Bedenken Sie die gewaltige Bedeutung, die dieses Wort gewinnen muß, sobald man sich mit der Auffassung der »Gesamt nationalität« auf den Standpunkt Goethes stellt – und welcher nach edler Bildung Ringende müßte nicht jederzeit nach der Höhe Goethescher Auffassung streben! Wenn ein Europäer mit Goethe glaubt, daß »nur Kultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind«, was berechtigt ihn dann auf dem von Bismarck gewiesenen Wege haltzumachen? Zwingt ihn nicht gerade die Bismarcksche Logik dazu, seine »persönliche Vorliebe« für diese oder jene Sonder nation durch die » vis major der Gesamt nationalität schonungslos vernichten« zu lassen? Wer dürfte sich nach diesem Vorgehen Bismarcks noch durch » dynastische Mannestreue oder persönliche Vorliebe« irremachen lassen an der Goetheschen Auffassung und zögern, sich auf »der Kulturstufe zu befestigen«, »wo der Nationalhaß ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht, und man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet«? Als Goethe seine »persönliche Vorliebe« für deutsche Dynasten opferte, um sich dem tüchtigeren Napoleon und seinem Gedanken der Internationalisierung Europas unter französischer Führung anzuschließen, hat da Goethe nicht Wort für Wort Bismarcks staatsmännischen Gedanken von der »schonungslosen Vernichtung dynastischer Mannestreue und persönlicher Vorliebe« vorausgedacht?«
Pfarrer Dietrich: »Leider sind es gefährliche pazifistische Schwärmereien, die Sie da entwickeln. Setzen Sie doch den Fall, wir wären nicht genügend gerüstet und der Feind stünde wieder im Land, wie so oft in jenen unseligen Zeiten, in denen haltloses Weltbürgertum die Deutschen einlullte.«
Manfred: »Meinen Sie, es könnte je wieder so schlimm werden wie zur Zeit Friedrichs II.?«
Pfarrer Dietrich: »Sie denken an die Verwüstungen des Siebenjährigen Krieges?«
Manfred: »Nehmen Sie selbst die Zeiten der friderizianischen Friedensarbeit. Glauben Sie, die Deutschen werden, nachdem sie einen Goethe gehabt, je wieder einen Herrscher »unsern großen König« nennen, der deutsches Wesen gründlich verachtet, der sich ganz zum Mundstück ausländischer Gedanken macht, der nur Französisch spricht und schreibt? Stellen Sie sich selbst einen französischen Diktator in Berlin vor, wieviel weniger gefährlich würde er deutschem Wesen sein als Friedrich II. Es ist lächerlich zu sagen, aber doch nicht zu leugnen, daß deutsches Wesen in Berlin unter Napoleon besser gedieh als unter Friedrich II. Was kann denn heute noch ein fremder Diktator anderes sein als ein unwillkommener Steuererheber. Friedrich II. hat ja selbst seinen Preußen französische Steuererheber aufgezwungen. Die große Masse des Volkes hat ein Einkommen, das sich in der Nähe des Existenzminimums bewegt; das wird ihnen gelassen oder nach siebenjährigen Entbehrungen schließlich wiedergegeben werden müssen, auch wenn die Steuereinnehmer heute wieder Franzosen werden. Es gibt eine kleine Minderzahl, die mehr als das Existenzminimum zu verzehren hat; sind Sie von den Kulturleistungen dieser Minderzahl – gleichgültig ob in Deutschland oder in Amerika oder einem anderen Lande – so entzückt, daß Sie es für ein großes Unheil halten würden, wenn sie nicht geleistet würden? Dabei darf man übrigens nicht vergessen, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil des wirtschaftlichen Überschusses von Deutschland heute bereits zur Bezahlung ausländischer Kultur verwandt wird, nicht nur von französischen Lustspielen, Gemälden und Weinen, Damenkleidern und was drinnen steckt, oder englischen Rennpferden, Herrenkleidern, Tabak und Kammerdienern, sondern einfach zur Bestreitung der Ausgaben reicher Halbgebildeter deutscher »Nation«, die in London, Paris oder der Riviera zu glänzen das Bedürfnis haben. Was liegt daran, ob dieses Geld von Deutschen oder von Ausländern ausgegeben wird?
»In Groß-Berlin wohnen – als Folge des unübertrefflich gründlichen Wirkens der fast alles mit größter Verständnislosigkeit maßregelnden preußischen Edel-Bürokratie – 600 000 Menschen in Mietkasernen, in denen jedes Zimmer mit fünf und mehr Einwohnern besetzt ist. {Verw. auf Anmerkung} Hunderttausende von Kindern sind ohne Spielplatz. Das alles ist furchtbar! Aber würde dieses bürokratisch geregelte Grauen dadurch faßbarer oder unfaßbarer, daß – etwa infolge eines unglücklichen Krieges – die Zahl der so Geopferten sich verdoppelt oder verdreifacht? Glauben Sie, daß dann in Berlin eine einzige Zigarette weniger geraucht werden oder daß ein einziger preußischer Herrenmensch weniger selbstzufrieden in die Welt gucken wird? Und trifft das alles nicht fast genau so auf Paris und auf jede Großstadt der weißen Rasse zu, deren geistlose Führer dem menschenunwürdigsten Elende mit Gleichmut zusehen, aber verlangen und durchzusetzen verstehen, daß sich die Menschen wegen der belanglosesten Albernheiten aufregen, und »daß friedliche, im Conubium verkehrende Bauern, der eine für habsburgische, der andere für hohenzollernsche Interessen aufeinander schießen«, wie der umstürzlerische Bismarck sich ausgedrückt hat, als er diesen höllischen » patriotischen« Unfug aufdeckte. Heute sind es selbstverständlich auch nicht einmal die » dynastischen Interessen«, von denen Bismarck noch sprach, sondern Börsen interessen, um die es sich handelt.«
Pfarrer Dietrich rief lachend: »Was sind das für verzweifelte Paradoxe, die Sie da zum besten geben?« Dann wurde er nachdenklich. »Sie beharren also dabei,« sagte er schließlich gutmütig lachend zu Manfred, »unser großer Friedrich II. sei gar nicht so riesengroß gewesen?«