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Ich gestand, daß mir das Tagebuch Lucchesinis noch unbekannt sei. Manfred rief erstaunt: »Sie werden nicht bereuen, es zu lesen, wenn Sie auch nur die ›kritisch festgestellte Auswahl in deutscher Übersetzung‹ vornähmen, die der Doktor Fritz Bischoff zusammen mit den Aufzeichnungen des Vorlesers de Catt 1885 veröffentlicht hat; sie enthält weniger schmeichelhafte Aufschlüsse über Friedrich II. als die verschrienen Denkwürdigkeiten Voltaires. Sie enthält auch ein beachtenswertes Vorwort des Herausgebers; hier sagt er:
»›Von vornehmer Geburt, durfte der junge Lucchesini (1751 bis 1825)‹ – also zwei Jahre jünger als Goethe! – ›der 1779 auf einer Reise durch Frankreich und Deutschland sich dem König vorstellen ließ, eine andere Aufnahme beanspruchen, als der Sohn eines Schweizer Kaufmannes‹ – das bezieht sich auf de Catt, den Vorgänger Lucchesinis. Der Aufklärer Friedrichs II. hatte Verständnis für das heranwachsende Geschlecht (wenn es nicht den Fehler beging, deutschen Stammes zu sein); aber von Adelsvorurteilen machte er sich nie ganz frei. Doktor Bischoff fährt fort: ›Lucchesini war ohne weiteres hoffähig; er erhielt den Kammerherrnschlüssel‹ – das ›Brimborium‹, um dessen Verlust Voltaire sich gegrämt haben soll – ›und fand, glücklicher als de Catt, seinen Platz an derselben Tafelrunde zu Sanssouci, an der dreißig Jahre vorher Voltaire gesessen und deren Zauber Voltaire nie hat vergessen können. Wir verdanken dem Marchese die einzigen Aufzeichnungen, welche über die Gespräche dieses Kreises auf die Nachwelt gekommen zu sein scheinen‹ – Friedrichs Historiograph Preuß nannte das ›den seltenen Kreis der Weihe‹ (III, 441). Doktor Bischoff fährt fort: ›Lucchesini hat getreulich gebucht, was er hörte, …; Wenn einige der den Tischgenossen mitgeteilten Tatsachen in dem Gedächtnis des gealterten Königs sich verschoben und verwirrt hatten, so trifft den Berichterstatter dafür keine Verantwortung; sein Tagebuch ist in seinen Angaben nichts als das getreue Echo der Äußerungen des Königs.‹
»Das gibt in der Tat vielen Aufzeichnungen Lucchesinis so großen Wert; sie zeigen nicht, wie die Dinge sind, sondern wie der große König aus seinem ›seltenen Kreise der Weihe‹ sie sah! Und der Herausgeber versichert: ›Niemals hörte man etwas Gewöhnliches aus seinem Munde, er adelt alles‹ – so hat von Friedrich der geistvolle Fürst von Ligne gesagt, der in Lucchesinis Gegenwart einer Mittagstafel zu Sanssouci beiwohnte, an welcher der König sich selbst übertraf.«
»Wenn man dann diese ›adelnden‹ Äußerungen, die Lucchesini aufzeichnete, liest und wenn man sich des Beifallsbedürfnisses und der Eitelkeit erinnert, die nach Bismarcks Ausspruch als Hypothek auf Friedrich II. lasteten, dann wird einem bald klar, wie es Lucchesini möglich geworden ist, sich so schnell und sicher die Gunst des Königs zu verpflichten: er scheint, wenigstens anfangs, die königlichen Dichtungen, die – gewiß keine kleine Ehre! – ihm fast täglich vorgelesen wurden, aufrichtig bewundert, und er scheint es verstanden zu haben, seiner Bewunderung warmen Ausdruck zu verleihen. Es finden sich mehrfach Stellen wie folgende:
»›10. November 1780. Abends. Ich hörte ein Schriftchen des Königs vorlesen, das reine und lautere Gold‹ oder: ›27. März 1781. Abends. Vor der Tafel hörte ich einen Brief an die Prinzessin Amalie Über den Zufall vorlesen, der nach der Konvention von Kloster-Zeven, vor der Schlacht bei Roßbach, verfaßt worden ist. Er bietet erhabene Züge schöner Philosophie, dichterische Gedanken in Menge und Verse, deren sich die besten Dichter nicht zu schämen hätten.‹ Dies Gedicht ist über zwanzig Druckseiten lang; zur Belohnung dafür, daß der junge Zuhörer trotzdem – es war gar auf leeren Magen – Beifall zu spenden vermochte, scheint ihm bald die ehrenvolle Pflicht der Mitarbeit zugefallen zu sein, die vor ihm de Catt, und noch früher der undankbare Voltaire hatte leisten müssen, der sie mit dem Waschen schmutziger Wäsche verglich. Voltaire hatte dafür 5000 Thaler nebst Kost und Wohnung erhalten. Dem weniger berühmten Lucchesini zahlte Friedrich II. nur 2000 Thaler Gehalt, nachdem er früher Winckelmann, der dieselbe Summe beanspruchte, mit dem Entscheide vertrieben hatte: ›Für einen Deutschen sind 1000 Thaler genug‹.
»Auf geschmackvolle Mitarbeit Lucchesinis läßt sich etwa aus folgenden Stellen seines Tagebuches schließen: Er schreibt von Friedrich II.: ›19. März 1781. Abends. Er las mir eine »Epistel über die Bosheit« vor, die er im Jahre 1762 verfaßt und jetzt verbessert hat; sie ist in derThat schön.‹ – ›20. März 1781. Abends. Lektüre der nämlichen, neu durchgesehenen Epistel. Sie ist schön, und zwar sehr schön.‹ – ›24. März 1781. Abends hörte ich die durchgesehene Epistel »Über die Bosheit« ganz vorlesen. Sie ist wahrhaft schön und verdient vielleicht vor allen anderen den Vorzug.‹ Lucchesinis Steigerung überzeugt: schön!, sehr schön!, wahrhaft schön!
»Daß das Urteil Lucchesinis, wie das Friedrichs, passenderweise an Voltaireschen Mustern geübt ist, geht ausfolgender Stelle hervor: ›31. Oktober 1780. Abends lange Sitzung. Lektüre des ersten Teils einer neuen Abhandlung. Lektüre zweier Gesänge des Gedichts über die Konföderation. Neue, anmutige, scherzhafte Gedanken begegnen in unendlicher Fülle …; die Anfänge und Schlüsse der einzelnen Gesänge sind von besonderer Schönheit. Der Stil ist bisweilen vernachlässigt; aber alle Augenblicke stößt man auf einzelne Verse, ganze Seiten, hunderte von Zeilen, die eines großen Dichters würdig sind. Und durch das Ganze zieht sich ein gewisses attisches Lachen hindurch, eine gewisse Festtagsstimmung, eine gewisse Anmut, der sich nichts an die Seite stellen läßt. Die Kritik der Religion fehlt auch hier nicht. Rom ist der Tempel der Narrheit; im Vatikan steht ihr Altar, der Papst ist ihr Hoherpriester.‹ Dieses ›attische Lachen‹ ist bemerkenswert; auch neuere preußische Geschichtschreiber möchten nämlich ihrem großen Könige Ähnliches andichten, weil ihnen die Wahrheit unwillkommen ist, daß es sich hier um einen Widerhall des Lachens des Lehrers Voltaire handelt. Wie wenig das Lachen Friedrichs II. mit Attika zu tun hat, geht aus folgenden Aufzeichnungen Lucchesinis hervor: ›7. April 1781. Der König hat Aristophanes gelesen, findet ihn aber langweilig, weil die griechischen und lateinischen Lustspiele keinen inneren Zusammenhang haben und man genötigt ist, eine lange Reihe mittelmäßiger Sachen hinunterzuschlucken, um irgendeine Schönheit aufzufinden.‹ Oder: ›6. September 1783. Den Plato liebt der König nicht, und kann es Cicero nicht verzeihen, daß er so für denselben eingenommen gewesen ist.‹
»Friedrichs Bewunderung für Cicero ging ja bekanntlich so weit, daß er ihn nicht nur über Plato stellte, sondern ihn sogar wegen seiner Vielseitigkeit mit dem göttlichen Voltaire selbst verglichen hat. Die Bewunderung Friedrichs für Cicero scheint Lucchesini geteilt zu haben; am 7. September 1783 schreibt er: ›Der König hat eine sehr beredte Rede gehalten, um den Grafen Pinto zur Aussöhnung mit seinem Neffen zu vermögen. Sie enthielt Stellen, die eines Cicero völlig würdig wären. Die Halsstarrigkeit Pintos aber war noch größer als die Beredsamkeit des Königs.‹ Graf Pinto, auch ein Italiener, ist ein anderer von den Zuhörern, mit denen Friedrich II. sich umgab und deren unbekannten Verdiensten die undankbare Nachwelt keine Kränze flicht. Graf Pinto wenigstens hätte eigentlich für seinen erfolgreichen Widerstand gegen die ciceronische Beredsamkeit Friedrichs des Großen jene Grabschrift verdient: ›Der Besieger des Unbesiegten‹, von der sein Landsmann Lucchesini den König an anderer Stelle berichten läßt, die Universität Leipzig habe sie dem alten Fürsten von Ligne für sein Verdienst in der Schlacht von Kolin aufs Grab gesetzt.
»Allmählich scheint sich übrigens der Marquis Lucchesini bei den Mahlzeiten des Königs und bei den darauf folgenden Vorlesungen königlicher Gedichte gelangweilt zu haben. Betreffs der Tischgespräche findet man immer häufiger kurz abtuende Bemerkungen für Dinge, die weiß Gott nicht kurz waren. Da heißt es immer wieder: ›Ein Gelage von mehr als vierstündiger Dauer‹, oder ›Eine Sitzung von fünfeinhalb Stunden‹, oder ›Mittagstafel von beinahe sechs Stunden‹. Nur im alten Polen soll es noch längere Mahlzeiten gegeben haben. Aber da Friedrich II. nach Bismarcks Ausdruck ›die Politik im Stile einer durch Generale ausgeführten Kgl. Ordre betrieb‹, hatte er nichts zu tun mit den zeitraubenden parlamentarischen Kämpfen, die nicht nur die Polen, sondern auch jeden zeitgenössischen Machthaber im ›freien England‹ des achtzehnten Jahrhunderts und – was weniger gewürdigt wird – die auch den König von Frankreich, Ludwig XV., beständig in Atem hielten (von Bismarck ganz zu schweigen). Friedrich hatte deshalb Muße, erstaunlich lange zu tafeln und ebenso ausgiebig den Musen zu dienen, von denen er sich aber, wie Lucchesini versichert, dennoch in keine unpreußische Welt locken ließ. Denn wenn auch der Berliner Professor Erich Schmidt hervorgehoben hat – war es Nörgelei oder Byzantinismus?, diese Berliner Herren sind mir oft ein Rätsel! – Friedrich habe ›das freie England‹ in sehnsüchtigen Versen verherrlicht, so beruhigt Lucchesini jeden Preußen, den etwa solche Andeutungen: als ob Preußen nicht frei und als ob sogar der Preußischste der Preußen sich aus dem preußischen Gefängnis fortgesehnt hätte, im Schlummer gestört haben. Friedrichs ›sehnsüchtige Verherrlichung des freien Englands‹ stammt nämlich aus der Frühzeit seiner Dichterlaufbahn; über den gereiften Dichter Friedrich schrieb Lucchesini am 23. Juni 1782: ›Im allgemeinen verfährt er, auch wenn er als Schriftsteller spricht, doch als König. Da er in seinem Lande Despot ist, so gibt er sich auch allein die Gesetze in der Kunst und in der Wissenschaft; und deshalb ist er Despot auch als Dichter, Redner, Geschichtschreiber und Philosoph: so unumstößlich ist die Wahrheit, daß man den Werken eines Schriftstellers die Lebensstellung, in der sich ihr Verfasser befindet, doch sehr anmerkt.‹
»Nach dem vier- bis sechsstündigen Mittagstafeln musizierte dann der König, der wegen seiner unermüdlichen Rastlosigkeit mit Recht berühmt ist, und empfing hierauf abends wieder seine schöngeistigen Zuhörer für einige Stunden, um ihnen vorzulesen oder vorzuplaudern. Über solche abendfüllende Unterhaltungen berichtet Lucchesini: ›Abends gleichgültige und bereits früher gehörte Gespräche‹, oder einfach: ›Nichts eben Bemerkenswertes ‹, oder: ›Nichts Besonderes‹, oder: ›Nichts Neues‹, und so weiter.
»Das ›Betreiben der Politik durch Kgl. Ordre‹ raubte nur wenige Morgenstunden. Mirabeau, dessen Auskünfte etwa aus derselben Zeit stammen wie die Lucchesinis und meist ebenso zuverlässig sind, spricht von Friedrichs II. ›Manier, die ganzen Geschäfte des Königreichs in anderthalb Stunden zu erledigen‹. Lucchesini berichtet jedes Jahr treulich von dem Besuche, den die Staatsminister einmal im Jahre beim Könige machten. Aber auch diese einzige Unterredung von Angesicht zu Angesicht, welche die Gemeinschaft der Minister mit ihrem Könige hatte – manche von ihnen bekamen ihn sonst überhaupt nicht zu sehen –, ging schnell vonstatten. Lucchesini schreibt von der jährlichen Zusammenkunft: ›Alles wurde vor der Mittagstafel erledigt.‹ Bei solchen Mitteilungen wird Goethe mit Kummer daran gedacht haben, daß sein Herzog das wöchentliche › Conseil‹ selten absagen ließ, und daß ein Weimarer Dichter, der diese Sitzungen ›nie ohne die höchste Not versäumt hat‹, so viel öfter einen ›poetischen Rasttag‹ beklagen muß als ein Potsdamer, der seine ›Hauptstadt zum Tempel der Musen zu machen‹ versprochen und vermocht hat.
»Im Verlauf der Aufzeichnungen Lucchesinis, die wenig an die Eckermanns erinnern, fallen manchmal Streiflichter wie dieses: ›Die Mittagstafel heiter und lang ausgedehnt, obwohl der Kronprinz dabei zugegen war; es war aber von nichts Besonderem die Rede.‹ Oder: ›Lange, aber angenehme Mittagstafel.‹ Diese ›obwohl‹ und ›aber‹ erheitern; doch viel öfter heißt es nur: ›Mittagstafel wie gewöhnlich. Ich habe nichts Neues gehört.‹ Oder: ›Mittagstafel von fünf Stunden Dauer. Ungeachtet der langen Zeit brachte das Gespräch nichts, was besondere Aufmerksamkeit verdiente oder nicht bereits aufgezeichnet worden wäre.‹ Oder immer wieder, beinahe Tag auf Tag: ›Die Mittagstafel dehnte sich sehr lang aus, brachte aber nichts Neues. ‹ Oder einfach: ›Mittagstafel. Landläufige Sachen.‹ Oder: ›Mittagstafel. Die üblichen Sachen.‹ ›Mittagstafel von fünf Stunden Dauer. Der Oberstallmeister Schwerin war dabei zugegen. Nichts Neues.‹ Oder etwas mehr summarisch gleich für ein paar Tage: ›27. – 29. April 1781. In diesen Tagen ist es mir nicht beschieden gewesen, irgend etwas zu hören, was erwähnt zu werden verdiente.‹ Derartige Zusammenfassungen werden bald nachdrücklicher: ›2. – 9. Mai. Nichts Bemerkenswertes oder Neues.‹ Oder der Marquis bemerkt bei sich selbst ›eine gewisse unbeschreibliche Unlust‹ und unterläßt es ›für viele Wochen, an diesem Tagebuch zu schreiben‹. Einmal heißt es einfach: ›Eine Lücke von zehn Monaten.‹ Für die letzten drei Lebensjahre des Königs scheinen Lucchesinis Aufzeichnungen dann ganz zu fehlen. Manchmal tönt es wie ein Schulknaben-Seufzer der Erleichterung: ›Landläufige Mittagstafel. Den Abend hatte ich frei.‹«
Hegemann: »Ist denn dieser Lucchesini nicht vielleicht ein Einfaltspinsel gewesen, der einfach unfähig war, den geistvollen Gesprächen des großen Königs gerecht zu werden?«
Manfred lachte: »Sie meinen, der Geist, mit dem Lucchesini den Beifall Friedrichs und Goethes gewann, war nur eine ›Vorspiegelung falscher Tatsachen‹? Warten Sie ab; Sie haben ja noch gar keine Proben von der – vom Herausgeber gerühmten – Leistungsfähigkeit Lucchesinis als ›das getreue Echo der Äußerungen des Königs‹ zu hören bekommen. Lucchesini hat nämlich auch manche beachtenswerte Äußerung des großen Königs verzeichnet; nicht nur, daß gelegentlich Friedrich II. den Grafen Pinto ›aufgezogen‹ oder ›ein wenig schlecht behandelt‹ oder daß er ›einen heftigen Ausfall gegen den General Goertz‹ (den Bruder des Vorgängers Goethes in Weimar) gemacht hat. Nein, die Äußerungen des Königs sind wirklich, wie der Fürst von Ligne meldet, › encyclopädisch‹; es gibt kaum ein Gebiet der Geisteswissenschaften, über das der umfassende Geist Friedrichs nicht Anmerkungen zu machen hätte. Allerdings ist Lucchesini nicht immer mit dem Gehörten zufrieden. Lucchesini stammte nämlich aus einer alten Gelehrtenfamilie, die seit dem dreizehnten Jahrhundert den Päpsten tüchtige Sekretäre geliefert hat; aus der humanistischen Heimat der Künste und Wissenschaften kommend, war er begreiflicherweise von Jugend auf an strengere Maßstäbe gewohnt, als Friedrich sie in Preußen und hinter dem Rücken jenes Vaters hatte erwerben können, der die Wissenschaften meist nur als Zielscheibe seines königlich-preußischen Hohngelächters gelten ließ und der seinen »hoffärtigen« Sohn verprügelte, weil er ihn beim heimlichen Lateinunterricht überraschte. Der Freund des Kronprinzen und erst später in Ungnade gefallene von ManteufFel, dessen Schlosses Namen »Kummerfrei« Friedrich der Große so geistvoll und mit nur einem Interpunktionsfehler, »Sans, Souci«, in sein geliebtes – Französisch übersetzt hat, schrieb unter dem prügelgewaltigen Friedrich Wilhelm I. an den damals aus Preußen verjagten Philosophen Christian Wolff: »Jeder Untertan in diesem Lande wird als geborener Sklave betrachtet. Alle Welt ist überzeugt, daß man alle Gelehrten verjagen und alle Universitäten zerstören würde, wenn man sich davon Profit verspräche. Man liebt die Gelehrten nur soweit, als sie zur Vermehrung der Akzise-Einkünfte dienen können.« In der Tat machte Friedrich Wilhelm I., als nach Wolffs Vertreibung die Zahl der Studenten abnahm und damit die Einnahmen aus Verzehrsteuern fielen, Anstrengungen, den vertriebenen Gelehrten zurückzugewinnen. Der Kronprinz Friedrich war fest entschlossen, mit dieser preußischen Barbarei für immer zu brechen, und vermeinte schon mit seinem jugendlichen Antimachiavel vielleicht wirklich ein großartiges Programm königlich-preußischer Besserung aufzustellen. (Voltaire sagte allerdings über Friedrichs tugendfrohe Ablehnung jeder fürstlichen Gemeinheit: ›Er spuckt in den Teller, um die anderen wegzuekeln.‹) Es ist eine eigentümliche Neckerei der Weltgeschichte, daß schon vierzig Jahre früher einer dieser Lucchesini aus Lucca, ein Jesuitenpater, einen Antimachiavel geschrieben hat.
»Lachen Sie nicht über diesen Jesuiten. Der erste König von Preußen hat mit warmen Dankesworten versichert, daß er ohne die Hilfe von zwei Jesuitenpatern nie die Königswürde errungen hätte. Voltaire war auch Jesuitenschüler, und er verehrte seine Lehrer sehr, und Friedrich II. ist der Schützer der Jesuiten geworden, als sie von Frau von Pompadour in Frankreich und dann in Rom vom Papst und bald fast in aller Welt verfolgt und vertrieben wurden. Dem Papst Pius VI. versicherte Friedrich II. noch am 14. Juli 1775: ›Ich kenne kein Motiv, das dem Wohle der Menschheit mehr entspräche, als das, welches zur Gründung des Jesuitenordens geführt hat.‹
»Auch Goethe erzählt, daß er in Perugia einen Offizier traf, der fest glaubte, Friedrich II. sei katholisch und habe vom Papste die Erlaubnis erhalten, es zu verheimlichen. Oft, so auch in Gegenwart Lucchesinis und des Fürsten von Ligne, hat Friedrich II. seiner Bewunderung für die Jesuiten als ›ausgezeichnete Lehrer‹ beredt Ausdruck verliehen. Man darf wohl annehmen, daß auch Lucchesini eine gründliche Erziehung genossen hat, und daß diese Erziehung auch (und gerade) auf den Gebieten zuverlässig war, die außerhalb jener witzelnden, religiösen Haarspaltereien liegen, die Friedrichs liebster, aber durchaus nicht einziger Gesprächsstoff gewesen zu sein scheinen.
»Immer wieder berichtet Lucchesini über wissenschaftliche Unterhaltungen Friedrichs II. So heißt es über die Naturwissenschaften am 18. April 1781: ›Mittagstafel. Von den Naturwissenschaften versteht der König wenig, von Linné hat er keine große Meinung, und auf einen Scherz La Mettries hin behandelte er ihn als einen Charlatan.‹ – Oder von Astronomie: ›20. Juni 1783. Die Rede kam auf Naturkunde, wovon er nichts versteht; so hat er auch vor den Bestrebungen anderer keine Achtung. Von dem System der Welt macht er sich sehr oberflächliche Vorstellungen.‹ – Oder über Geographie am 5. Mai 1781: ›Ich hörte mit Erstaunen, daß der König Groß-Tibet in die Nähe von Kamtschatka verlegte‹; oder am 8. Juli 1781: ›Der König bekannte seine Unwissenheit bezüglich der Geographie von Asien und der europäischen Niederlassungen in Indien. Er zeigt sich wenig bewandert in der Geschichte dieser Länder und glaubt an die alten Geschichten. Ich habe ihm dies entgegengehalten.‹ – Oder über Mathematik am 19. Juni 1782: ›Da er nichts von Mathematik versteht, fällt es ihm schwer, den Vertretern dieser Wissenschaft großen Ruf zuzusprechen. Es machte ihm wenig Kummer, Euler abgehen zu sehen, und das Verdienst von La Grange schlägt er nicht eben hoch an.‹ Lucchesini fährt fort: ›Auf die wirtschaftlichen Schätzungsangaben des Königs ist kein Verlaß …;‹ – Hier über Geometrie am 30. Juni 1783: ›Thörichte Erörterungen über den Nutzen oder die Nutzlosigkeit der Geometrie. Ich erkühnte mich, dem König zu widersprechen.‹ – Auch über die Mechanik hat Friedrich II. bestimmte Anschauungen; am 2. August 1783 schreibt Lucchesini: ›Sein mangelhaftes Wissen in den Elementen der Mechanik veranlaßt ihn zu dem Glauben, daß diese Wissenschaft sehr wenig wert sei. In diesem Fache ist er voll von Vorurteilen.‹
»›9. Mai 1783: Der König behauptet, ein Ingenieur zu sein; es ist aber nur eine Stimme, daß er nichts davon versteht. Er möchte für einen Geometer gelten und hat auch von der Hypotenuse eine klare Vorstellung; aber er verachtet die Geometer, woraus hervorgeht, daß er den Wert der Wissenschaft nicht kennt.«
»Da Friedrich als Flötenspieler berühmt ist, und da er sehr viel, was nicht berühmt ist, komponiert hat, hört man gerne, wie er Musik behandelte. Am 21 .Juni 1783 schreibt Lucchesini: ›Man sprach von der Gluckschen Musik, auf die der König nicht gut zu sprechen war. Er hat einmal einen Akt aus dem ›Orpheus‹ mit zwei Geigen und einem Cello im Zimmer proben lassen, und nach dieser Probe urteilt er über die Glucksche Oper.‹ Friedrichs II. Urteil über Gluck macht aus vielen Gründen beinahe glauben, daß Friedrichs Verhältnis zur Musik ganz persönlich war, also nicht nur bedingungslose Nachbeterei französischer Anweisungen, wie etwa im Falle friderizianischer Literaturbemühungen. Voltaire stand nämlich gelegentlich selbst auf seiten Glucks in den scharfen Kämpfen, die in Paris gegen Gluck geführt wurden, und Paris war schon um 1779 die Stätte des endgültigen Sieges der Gluckschen Musik über die von Friedrich II. beliebte italienische Schule. Zu Friedrichs Verständnislosigkeit für die deutsche Literatur hört man oft die Entschuldigung, Friedrich habe eben kein Deutsch gekonnt und nur deshalb auf alles Deutsche verächtlich herabgesehen. Aber die Sprache der Musik soll er ja ganz besonders gut beherrscht haben. Dennoch hat er den großen Gluck abgelehnt, wie man ja nicht nur von Lucchesini weiß.«
Hegemann: »Sie dürfen nicht ungerecht sein. Gluck gehörte eben einem jüngeren Geschlechte an.«
Manfred: »Damit wird ja auch gelegentlich Friedrichs II. Verständnislosigkeit für die großen deutschen Dichter entschuldigt: Friedrich lehnte das jüngere Geschlecht ab. Aber bei Gluck liegt die Sache doch wohl anders.«
Manfred blätterte im neunten Band der »Allgemeinen deutschen Biographie« und fuhr fort: »Gluck ist fast genauer Zeitgenosse Friedrichs II. Sieben Jahre vor Friedrichs Tod verfaßte Gluck sein letztes größeres Werk. Maria Theresia gab ihm schon 1751 durch ihre Theaterreform Gelegenheit zu ruhmvoller Wirksamkeit. Sein erster großer Erfolg in Italien fällt in die Zeit von Friedrichs siebenjährigem Kriege gegen die größte deutsche Kaiserin. Friedrich hatte also noch vierundzwanzig Jahre Zeit, Gluck wenigstens dann zu würdigen, nachdem dieser im italienischen Auslande, das für Friedrich in der Musik Maß gab, Beifall gefunden. Dennoch blieb Friedrich bei seiner Ablehnung.«
Hegemann: »Ist denn aber Glucks Bedeutung groß genug, um dem musikliebenden König einen Vorwurf aus seiner Ablehnung machen zu können?«
Manfred: »Glucks Wirkung ist durchaus epochemachend. Er ist der große Klassiker der Musik. Er tat für die Musik, was Goethe für die Literatur tat. Glucks beide ›Iphigenien‹ sind weltgültigere Kunstwerke als Goethes ›Iphigenie‹. Gluck war ein Freund Klopstocks, den er mit besonderer Befriedigung 1775 in Straßburg kennenlernte, also elf Jahre vor dem Tode Friedrichs II., der Klopstock verachtete. Gluck war ein hochgebildeter Mann. Aber Friedrichs Verständnislosigkeit für Gluck bedeutet unvermeidlich auch Verständnislosigkeit für Mozart und für Haydn, für deutsche, für große Musik. Vergessen Sie nicht, daß Mozart, den Friedrich II. ebenfalls ablehnte, nur fünf Jahre länger lebte als dieser König, und daß Mozart und Haydn vor Friedrichs Tode schon Hunderte von großen Werken geschaffen hatten. Aber Friedrich hatte keine Zeit für sie. Er komponierte sich selbst 121 Flötensonaten und ergab sich ganz dem Hasse und dem Graun.«
Hegemann: »Wieso denn Haß und Graun?«
Manfred: »Ach bitte, nein, ich mache keine Wortwitze. Hasse und Graun sind die Namen der deshalb unsterblichen Tonkünstler, weil Friedrich der Große ihnen sein Leben lang das ganze Übergewicht seines königlichen Einflusses zugute kommen ließ, von denen er sich sein ganzes Leben lang unermüdlich Opern, Konzerte usw. usw. vorspielen oder komponieren ließ.«
Hegemann: »Immerhin kann ich mich der Freude darüber nicht verschließen, daß Friedrich der Große wenigstens auf dem Gebiete der Musik sich ganz der Pflege deutschen Könnens widmete. Wurde er damit nicht der Vorkämpfer Wagners, des »Begründers der deutschen Oper«?«
Manfred: »Gerade Franz Liszt, von dem Sie da sehr kühn ein Wort verwenden, sagt in seinem Wagner-Buche: »War auch Hasse ein Deutscher, so war seine Musik trotzdem durchaus italiänisch.« Von Graun, der außerhalb Berlins weniger genannt wurde, gilt dasselbe. Besonders um Graun hat sich Friedrich II. verdient gemacht. Es gab nämlich zwei Graun, und beide werden Preußen zu ewigem Ruhme gereichen.«
Manfred blätterte wieder in einem Bande der »Allgemeinen deutschen Biographie« und fuhr fort: »Friedrich fesselte beide Graun dauernd an seine Fahnen. Die zahlreichen Werke der beiden Brüder sind noch heute »vorhanden in Berlin teils in der Königlichen Bibliothek, teils in der Bibliothek des Joachimsthal-Gymnasiums«. Ich prophezeie, daß die friderizianische Begeisterung sie bald bewundernd hervorholen wird. Von dem älteren Graun lese ich hier allerdings, daß er die Musikliteratur »mehr quantitativ als qualitativ bereicherte«. Von dem jüngeren Graun wird hier aber mitgeteilt, daß Friedrich ihn erst nach Italien sandte, »wo sich Graun durch seinen Gesang großen Beifall erwarb. Bei seiner Rückkehr nach Berlin wurde Graun mit einem Gehalt von 2000 Thalern zum Kapellmeister des Königs ernannt. Von jetzt an verwendete er fast alle seine Zeit auf Opernkompositionen. Jährlich schrieb er eine, mitunter auch zwei Opern. Graun und Hasse versorgten fast allein die Bühne der preußischen Residenz mit ihren dramatischen Werken. Im ganzen schrieb Graun an dreißig dramatische Werke für die Berliner Hofoper. Das Komponieren der Opern scheint ihm durch die willkürliche Art, mit der der König ihm seine künstlerische Selbständigkeit fast ganz nahm, zuwider gewesen zu sein, und man sagt, daß sie fast alle nachlässig gearbeitet seien …; Die deutsch-italienische Schule, deren Hauptvertreter Graun und Hasse waren, verfiel der Vergessenheit, als ächt deutsche Kunst sich durch die großen Meister Bach, Händel, Gluck, Haydn, Mozart und Beethoven zu universeller Bedeutung emporschwang. Die einzige Komposition Grauns, die sich bis auf die jetzige Zeit erhalten hat, ist ›Der Tod Jesu‹; doch ist auch dieses Werk ungeachtet seiner vielen Vorzüge überschätzt worden.««
Manfred schlug die »Allgemeine deutsche Biographie« mit drolliger Entrüstung zu und rief: »Pfui Teufel! was ist mir da für ein häßliches antifriderizianisches Pamphlet in die Hände gefallen! »Der Tod Jesu« als einzige Rettung für den Leibkomponisten und das Musikverständnis des unablässig flötenden Religionsspötters Friederich! ist das nicht Hohn? Aber wer auch immer mit diesem »merkwürdigen Fürsten« zu tun hat, findet dasselbe barocke Geheimnis: difficile est satiram non scribere.
»Ist es nicht, als wäre das Wesen aller friderizianischen Lebens- wie Machtäußerungen Widerspruch und romantischer Unsinn? Goethe wußte das und hatte es mit seiner Bemerkung über die »eigensinnige, voreingenommene, unrektifizierliche Vorstellungsart« des Königs ausgesprochen; und doch mußte es ihn reizen, von Lucchesini neue Bestätigungen des Unglaublichen zu erhalten.
»Viermal hat Friedrich Krieg gegen den Kaiser geführt. Bei seiner Feindschaft gegen das Deutsche Reich kann man sich denken, daß der große König von Preußen mit um so leidenschaftlicherer Aufmerksamkeit über die ihm teure preußische Entwicklung wachte. Da mußten denn seine Bemerkungen über die Erziehung seiner Nachfolger für Goethe um so beachtenswerter sein, als Goethe ja gerade über die Erziehung eines jungen, allerdings deutschen, nicht preußischen Prinzen während der zehn Jahre vor seinem Zusammentreffen mit Lucchesini ganz besonders viel nachzudenken Gelegenheit gehabt hatte. Lucchesini schreibt über die Tage vom 26.-28. September 1780: »Neuangekommen ist die Herzogin von Braunschweig und die Prinzessin Amalie. Die Mittagstafel mit Damen und von wenig Erheblichkeit …; 27. September. Dieselbe Gesellschaft und fast dieselben Gespräche …; 28. September. Ziemlich langes Gespräch über die Erziehung der Söhne, worin er über die Erziehung, die er den Söhnen des Kronprinzen geben läßt, Auskunft gibt. Er sagt, daß alles das, was bis zu achtzehn Jahren gelernt wird, gewissermaßen verloren ist, daß die Menschen sich in der Zeit vom achtzehnten bis zum achtundzwanzigsten Jahre bilden.« – Drei Jahre später schreibt Lucchesini: »14. Mai 1783. Ludwig XIV. spendete er reiches Lob, insofern derselbe im Festhalten an seinen Entschlüssen Willensstärke bewies. Er erinnerte an die Erziehung dieses Königs in den trüben Zeiten der Ligue. Damit rechtfertigt er die nicht eben gewählte Erziehung, die er den Söhnen des Prinzen von Preußen geben läßt.«
»An den ausgezeichneten Erfolgen dieser »nicht eben gewählten« friderizianischen Erziehung zu zweifeln, wäre unbillig, da sie die wärmste Bewunderung von Frau Rat Goethe fanden. Aber der widerspruchsvolle König war wieder anderer Meinung. Goethe konnte von Lucchesini mancherlei Beobachtungen über den Kronprinzen, den Neffen des Königs, hören; eine beachtenswerte lautet: » 1. April 1781. Die Mittagstafel heiter und lang ausgedehnt, obwohl der Prinz von Preußen zugegen war; es war aber von nichts Besonderem die Rede.« Der Kronprinz war damals siebenunddreißig Jahre alt und sah seinen Oheim nicht allzu oft. Noch eindeutigere Auskunft erteilt Friedrichs II. Testament von 1768, das dem Kronprinzen Trunksucht, Jähzorn, zügellosen Ehrgeiz, Gleichgültigkeit und Faulheit vorwirft. Im Testament von 1782 deutet der König Ähnliches an und fügt noch den Vorwurf der Verschwendungssucht hinzu. Wer hier an verwandtschaftliches Übelwollen eines gichtbrüchigen Oheims gegen einen übergesunden Neffen glauben möchte, wird durch wiederholte Anmerkungen in den englischen Gesandtschaftsberichten über niedrige Verschwendung in geistloser Gesellschaft, schamlose Betteleien, Geschlechtskrankheit und so weiter des Thronfolgers enttäuscht werden. Bismarck, der in der Menschenkenntnis viel bessere Erfolge erzielt hat als Friedrich II., stand mit seinem Urteil über Friedrich Wilhelm II. eher auf Seiten der Frau Rat als auf Seiten des großen Königs. Am 22. März 1888 sagte Bismarck: »Es braucht für die Zukunft keinen Friedrich den Großen. Ein Friedrich Wilhelm II. würde ungefähr genügen; denn der wäre nicht übel gewesen, wenn er nicht durch die Weiber erweicht worden wäre.« Wahrscheinlich kommt Deutschlands größte Gefahr daher, daß es heute statt eines Friedrich Wilhelms II. einen allmächtigen König und Kaiser hat, der womöglich noch größer ist als Friedrich der Große.« So meinte, im Jahre 1913, Manfred Ellis. Dann fuhr er fort:
»Um etwas von der Tragweite dieser Bemerkungen Friedrichs über seinen Nachfolger zu ermessen, muß man wissen, daß Friedrich in seinen Testamenten Frankreich die schwärzeste Zukunft prophezeit, weil die Erziehung der französischen Thronfolger stets vernachlässigt worden sei, was übrigens nicht zutrifft. Überhaupt, sagt er im Testament von 1752, »mit Ausnahme der Königin von Ungarn (er meint Maria Theresia, die deutsche Kaiserin, und fügt hinzu: »Mein Gewissen ist nicht rein dieser Fürstin gegenüber«) und des Königs von Sardinien, deren Genie über ihre schlechte Erziehung triumphiert hat, sind alle Fürsten Europas nichts als großartige Dummköpfe«. Nach Maria Theresias Tode schrieb Friedrich an d'Alembert: »Ich habe Krieg gegen diese Kaiserin geführt, aber ich war nie ihr Feind.« Wehe Friedrichs Freunden!
»Die Verehrer Friedrichs und Preußens deuten gerne an, die Kriege, die der preußische Partikularismus gegen das Deutsche Reich geführt hat, fänden ihre Rechtfertigung darin, daß sie für eine höhere, vergeistigtere Auffassung der Monarchie, vorbildlich für die Welt, geführt worden seien und geführt werden mußten. Diese Behauptung ließe sich leichter vertreten, wenn nicht Friedrich in seinen Testamenten gerade von der so furchtbar bekämpften Maria Theresia als von »einer Frau, die man unter die großen Männer rechnen muß«, und wenn er nicht an derselben Stelle (und anderweitig) auch gerade von ihrem Sohne, dem Kaiser Joseph, mit besonderer Hochachtung gesprochen hätte. Wenn der Philosoph von Sanssouci sein Leben lang gegen diese vornehmen deutschen Kaiser gekämpft und noch 1782 die Türken gegen sie zu Hilfe rufen wollte, obgleich er gleichzeitig die denkbar niedrigste Vorstellung von dem Werte seines eigenen Nachfolgers hatte, so muß man fragen, ob ihm vielleicht eine besonders hohe Vorstellung von den Fähigkeiten der preußischen nation Mut zu seinen furchtbaren Opferungen deutschen Blutes und Gutes gemacht hat. Ich wähle das mir für einen einzelnen Teil des deutschen Volkes unpassend erscheinende Wort »nation« weil Friedrich II. es gebrauchte, als er in seinem Testament von 1768 von seinen Untertanen sagte: »Diese Nation ist plump und faul und unwillig zu lernen.« Später (1781) schrieb er nach Paris an d'Alembert: »Sie würden mich auslachen, wenn Sie wüßten, wieviel Mühe ich mir gegeben habe, um eine Ahnung von gutem Geschmack und von attischem Salz dieser Nation beizubringen, die bisher nichts verstand als zu essen, zu trinken, faire l'amour und sich zu schlagen; aber ich wollte mich eben nützlich machen.« Die Pariser haben diesen Bericht über die königlichen Mühen im deutschen Augiasstalle »mit der Weisheit Minervas verdaut«. Mirabeau kam bald persönlich, um aus größerer Nähe zu bewundern; sein Bericht ist eine unzweideutige Ablehnung des »étrange aveuglement d'un si grand homme!«; so nannte Mirabeau die kleinliche Kurzsichtigkeit, mit der Friedrich II. seinen Untertanen das Studium auf nichtpreußischen Hochschulen erschwerte, und er fügte hinzu: ›Friedrich verachtete sein Volk und verweigerte ihm eine so selbstverständliche Gelegenheit, sich zu erziehen; er förderte den Unterricht und legte ihm ein solches Hindernis in den Weg! Bringen denn einem Lande die Erfahrung und Aufklärung, die seine Söhne auf Reisen im Auslande erwerben, nicht hundertfach das ein, was sie kosten?‹
»Aber es war nicht nur im Ausland, daß Friedrich II. das Studieren verbot. Wohl nie hat ein anderer Fürst so ausführlich langatmige Gemeinplätze über den Segen guter Erziehung zusammengestellt wie Friedrich II.; kein anderer hat die ›Erziehungsweise der Griechen und Römer‹ dringender empfohlen oder hat nachdrücklicher eingeschärft: ›Es sollten die besten und bedürftigsten jungen Leute, welche die Stipendien am meisten verdienten, ausgesuchet werden‹ (Kabinettsbefehl vom 1. V. 1779). Wahrscheinlich hat er diese Lieblingssätze der Aufklärungszeit, die er sich so fleißig schreibend eintrichterte, gelegentlich auch befolgt. Aber verstanden hat er sie kaum; sonst wären Fälle wie der folgende unmöglich gewesen. Der Geograph A. F. Büsching, der seit 1766 an führender Stelle im Berliner Schulwesen stand, berichtet:
»›Der König verfuhr (bei der Wahl der vom Oberkonsistorium vorgeschlagenen Stipendiaten) je nachdem Er jedesmal aufgeräumet war …; 1779 war unter den fähigsten, geschicktesten und bedürftigsten Jünglingen einer aus Berlin, dessen Vater als Spritzenmacher angegeben wurde. Der König schrieb an den Rand: »was will ein feuerspritzen Meisters Sohn Studieren, der mus Feuer Spritzen vom Vahter lernen. Die andern Müsen ausgesuchet werden nach Capassité«‹. Nicht wahr? Serenissimus simplicissimus, wie er leibt und lebt! Aber der treue Oberkonsistorialrat Büsching fährt unbeirrt fort (oder spottet er?): ›Dieses Beispiel, wie sehr der König sich in das Kleine und Besondere der Regierungsgeschäfte eingelassen habe, muß die Leser sehr für ihn einnehmen.‹
»Ebenso rühmen auch noch heute preußische Geschichtschreiber den Ernst, mit dem Friedrich II. seinen Beruf als Aufklärer aufgefaßt haben soll, und sie berufen sich ungestört auf Friedrichs Behauptungen wie: ›Die Sorge für die Erziehung ist eine wichtige Pflicht der Fürsten, die sich bei mir bis auf die Dörfer erstreckt. Das ist das Steckenpferd meines Alters‹, oder ›Es ist meine Hauptbeschäftigung, in meinen Ländern die Unwissenheit und die Vorurteile zu bekämpfen, die Köpfe aufzuklären …;‹ und andere Äußerungen aus Briefen an die im Auslande lebenden Freunde der Aufklärung, d'Alembert, Voltaire oder andere Männer, die kaum die volkstümliche Anwendung der Erziehungsgrundsätze gebilligt hätten, welche der König in Gegenwart Lucchesinis für preußische Prinzen passend erklärt hatte.
»Friedrich scheint in demokratischster Weise nicht nur den Prinzen, sondern allen seinen Untertanen dieselbe ›nicht eben gewählte Erziehung‹ gegönnt zu haben, was später den Berliner Bewunderer friderizianischer Größe Gustav Schmoller zu der Behauptung hinriß: ›Friedrich der Große stellte alle Macht und Organisation des Staates in den Dienst großartiger geistiger und materieller Kulturpflege, einer fast staatssozialistisch zu nennenden Volkswirtschaft.‹ Zusammenfassender als Lucchesinis verstreute Angaben über friderizianische Erziehungsweisheit ist die Mitteilung, die der Münchener Akademiepräsident Heigel dem Kammerpräsidenten Goethe über das friderizianische Volksschulwesen heute machen könnte. Friedrich II. starb 1786. Heigel schreibt: ›Bis zu dem Schulgesetz von 1787 lag das Schulwesen in ärmlichen Anfängen; es gab nur 195 Schulmeisterstellen, die Einkommen über 100 Thaler abwarfen, 30 Lehrer hatten weniger als 80 Thaler; nicht selten war der Hirte oder Nachtwächter im Besitz des Schulamtes; seit 1779 waren viele Invaliden angestellt worden, darunter solche, die selbst nicht lesen und schreiben konnten.‹
»Da Goethe sich oft mit den Angelegenheiten der Hochschule von Jena befassen mußte, hätte er von Lucchesini wahrscheinlich gern erfahren, wie Friedrich II. seine Behandlung der preußischen Hochschulen mit den Anschauungen über höhere Erziehung zusammenreimte, die sich in der königlichen dissertation von 1780 so ausführlich vorgetragen finden. Die Lage des preußischen Hochschulwesens unter Friedrich II. hat der Leipziger Professor Lamprecht folgendermaßen geschildert: ›... gefördert wurde an den Universitäten höchstens die Philosophie; im übrigen mußte Halle mit einem Etat von 18116 Thalern, Königsberg gar mit einem solchen von 6100 Thalern auskommen.‹
»Weniger byzantinisch als Schmoller mit seiner ›großartigen geistigen Kulturpflege‹ Friedrichs II. sagte darum auch der ehrliche alte Dohm (Denkwürdigkeiten, IV. 439): ›Der größte Vorwurf, der dem König Friedrich in bezug auf die sittliche Bildung seines Volkes gemacht werden muß, ist unstreitig der, daß er für die Erziehung der Jugend so wenig getan hat.‹ Nicht dank Friedrich II. und seiner ›geistigen Kulturpflege‹, wie die preußischen ›Historiker‹ wollen, sondern trotz Friedrich und dank seinem Tode und dank des ihn verabscheuenden Klopstock und der vom König geschmähten Goetz, Goethe und ihrer verachteten Sprache und Literatur, konnte sich Deutschland nach dem preußischen Zusammenbruch wieder einen und erheben.
»Trotzdem sich nicht wenige von Friedrichs II. viele Bände füllenden Schriftwerken philosophisch, poetisch und geschichtswissenschaftlich gebärden, ist es schwer, bei ihm an ernst zu nehmendes Verständnis für geistiges Leben zu glauben, wenn man immer wieder seine Beweise von selbstzufriedener Begriffsstutzigkeit findet wie etwa die Antwort an den Mediziner Bloch ( Oeuvres XXVII, 3), der 1781 eine wissenschaftliche Arbeit über Fische herausgeben wollte und um Einsendung seltener Exemplare durch die Kriegs- und Domänenkammern bat. Der König antwortete: ›Es ist nicht nötig, von den Kammern eine solche Liste einzufordern. Denn das wissen sie hier schon allerwegs, was es im Lande für Fische gibt. Das sind auch durchgehends dieselben Arten, ausgenommen in Glatz. Da ist eine Art von Fischen, die man Kaulen nennt, oder wie sie sonst heißen. Die hat man weiter nicht. Sonsten aber sind hier durchgehend einerlei Fische, die man alle weiß und kennt. Davon ein Buch zu machen, würde unnötig sein; denn kein Mensch würde ein solches kaufen.‹ Hätte eine Waschfrau ebenso altklug antworten können wie dieser königliche Mäzen der Wissenschaften? Oder lesen Sie beim preußischen Historiographen Preuß (Urk. II. 231) Berichte wie diesen aus dem Jahre 1772: ›Der Academicien Bitaubé, welcher die Geschichte der Republik Holland herausgeben will, bittet den König um einen sechsmonatlichen Urlaub nach Holland.‹ Hierzu schrieb der Philosoph von Sanssouci folgende Marginalie: ›Er kann hier historie Schreiben, was braucht er deßhalb herum zu laufen.‹
»Hätte Goethe, wenn er unter der Fuchtel Friedrichs II. gestanden und von ihm Erlaubnis zur italienischen Reise hätte erbitten müssen, mehr Glück gehabt als der Academicien Bitaubé? Vielleicht; wenigstens bekam der berühmtere Professor Sulzer, als er ›bat, seiner Gesundheit wegen, sich den Winter in Italien aufhalten zu dürfen‹, von Friedrich II. den Bescheid (Preuß, Urk. II. 233): ›wenn er nach Italien gehen Will, Kann er thun. Ich habe aber Noch nicht gehört daß einer in Italien gesund geworden der in Deutschland krank gewessen.‹ Goethe hatte derartiges schon gehört!
»Auch der König hatte es schon gehört, ›je nachdem er aufgeräumet war‹. Als er sich mit seiner Bayreuther Schwester nach scharfem Zwist ausgesöhnt hatte, schrieb er ihr, vor ihrer Abreise nach Italien, am 22. September 1754: »Ich möchte Dich auf meinen Händen hintragen, damit Du dort wiederhergestellt wirst. Allem Anschein nach wird das milde Klima Dir gut tun.« Und es hätte ihr sehr gut getan, wenn der große König sie nicht einige Jahre später mit dem »Blitzschlag« seiner Kriegserklärung getroffen und der vor Erregung »zwischen Tod und Leben Schwebenden« »den Dolch ins Herz gestoßen« hätte. Lesen sie ihre Briefe vom 26. Juni und 18. Oktober 1756 und vom September 1757.
»Einen schwindelnden Gipfel erreichte der große Friedrich mit seinen königlichen Capricen, zu deutsch Bockssprüngen, in seinen Urteilen über die deutsche Literatur, von denen Lucchesinis Tagebuch manches berichtet, und die der König in seinem literarischen Testament zusammengefaßt hat. So darf man wohl die berüchtigte dissertation nennen, in welcher der Weise von Sanssouci über die deutsche Sprachverwirrung klagte und im Jahre 1781 klipp und klar behauptete: »Was in Schwaben geschrieben wird, ist in Hamburg unverständlich. Es ist also physisch unmöglich, daß selbst der genialste Schriftsteller diese rohe Sprache ausgezeichnet meistern kann.« Goethe, dem so ja die physische Lebensmöglichkeit fehlte, wurde darum von Friedrich dem Großen ausdrücklich als Verfasser »ekelhafter Plattheiten« gebrandmarkt.
Könnte es etwas Lächerlicheres geben als die Versuche – wie sie Erich Schmidt, Suphan und andere gewagt haben – heute noch die Serenissimus-Haltung Friedrichs II. gegenüber der deutschen Literatur mit Kindermann-Gebärde entschuldigen oder gar rechtfertigen zu wollen? Des Königs Bekenntnis, Deutsch nur »wie ein Kutscher« sprechen zu können (wenn er das wenigstens gekonnt hätte!), wird von Erich Schmidt »launig« genannt; Koser, etwas weniger kratzfüßelnd, wagt es eine »nachträgliche Selbstanklage« zu nennen. Friedrich II. urteilt schärfer: in seiner dissertation spricht er von »unserer Schande«, die Meister der deutschen Sprache »weder zu erkennen noch zu feiern«, zum Beispiel »den berühmten Quandt von Königsberg«. Trotz dieser wahrhaft landesväterlichen Fürsorge um den unbedeutenden Königsberger Prediger Quandt (wie man sich freuen würde, wenn man denken dürfte, es handle sich um einen Druckfehler, und Friedrich II. habe doch wenigstens einmal etwas von den großen Deutschen seiner Zeit zu ahnen vermocht!) hat der König – »der die Unwissenheit zu bekämpfen« seine »Hauptaufgabe« nannte und der auf seinen Universitäten »höchstens die Philosophie« förderte – nie die Größe des Königsberger Philosophen Kant »erkannt oder gefeiert«. Und doch war Kant beim Tode des gleichgültigen Königs schon 62 Jahre alt und sollte als Greis noch erfahren, was das wahre Gesicht der preußischen Aufklärung war, das sich hinter der Gleichgültigkeit Friedrichs verborgengehalten hatte. Friedrich II. hatte versäumt, seinen Nachfolger auf die Bedeutung des kategorischen Imperativs und der deutschen Philosophie aufmerksam zu machen; statt dessen hatte er die Akademie, der einst ihr Gründer Leibniz die Pflege der deutschen Sprache empfahl, französisch gemacht und ihr befohlen, nur Französisches zu veröffentlichen, und geißelte dann in seiner dissertation die »pedantische Eitelkeit« der deutschen Gelehrten, sich nicht der deutschen Sprache zu bedienen; er hat 46 Jahre lang nur Franzosen und französisch Sprechende an seinen Hof gezogen und tadelte in seiner dissertation die deutschen Höfe darum, daß sie durch ihr Französischsprechen die Entwicklung der deutschen Sprache verzögert haben.«
Manfred fuhr fort: »Goethe hat in einem Briefe aus Italien an Karl August gesagt, er habe die Besuche bei Lucchesini gemacht, um Näheres über des Herzogs militärische Tätigkeit im preußischen Heere zu erfahren; es liegt nahe, daß es nicht ausschließlich Heeressachen waren, die er erfahren hat. Es gab da mehrere Gedankengänge, in denen für Goethe Aufklärung durch Lucchesini wertvoll sein mußte: man darf annehmen, daß Lucchesini Auskunft darüber geben konnte, wie Friedrich II. dazu gekommen war, gerade Goethe zum Ziel seines Angriffs in der dissertation sur la littérature allemande zu machen, und ob dieser Angriff vielleicht etwas mit Friedrichs neuem Günstling, dem Grafen Goertz, zu tun hatte, von dem Lehndorff sagt, Goethe habe ihn in der Gunst Karl Augusts verdrängt.
»Die Bemerkungen, die sich in Lucchesinis Tagebuch über deutsche Literatur finden, sind wie zusammengefaßt in der Aufzeichnung vom 24. Mai 1783: »Von der deutschen Literatur sprach er mit Verachtung und sagte, solange man keine klassischen Schriftsteller besitze, um der Sprache Glanz und Licht zu geben, würden wenig Fortschritte gemacht werden. Er gibt zu, daß damit endlich ein Anfang gemacht worden sei. Den Dichter Canitz, der zur Zeit seiner Großmutter, einer literarisch gebildeten Frau, starb, schätzt er.« Diese Bemerkung wurde zweieinhalb Jahre nach dem Erscheinen von Friedrichs dissertation sur la littérature allemande gemacht, und sie ist wertvoll, weil sie wieder die Unverwüstlichkeit friderizianischer Vorurteile zeigt: Friedrich II. war also unbekümmert geblieben von der auf die dissertation folgenden Flut von gutherzigen Versuchen, ihn darüber aufzuklären, daß seit dem Tode des vor mehr als 80 Jahren verstorbenen preußischen Hofpoeten Canitz Fortschritte im deutschen Schriftwesen gemacht worden sind. Hamann, der etwas schärfer gegen die königliche Unwissenheit zu Felde ziehen wollte, war – von dem mit Berliner Verhältnissen vertrauten Nicolai – gewarnt worden, nicht gegen die dissertation zu schreiben, wenn er nicht Gefahr laufen wolle, mit dem Spandauer Gefängnis bekannt zu werden. Auch Goethe hatte damals die Lust verloren, »vergebens zu kämpfen«, und hatte seine Antwort halb vollendet liegen lassen.«
Hegemann: »Ich weiß von Friedrichs des Großen dissertation sur la littérature allemande nur, daß sie gerühmt wird als glänzender Beweis für Friedrichs Sehergabe, weil er darin von der kommenden Größe der deutschen Literatur spricht und sich selbst einen Moses nennt, der sich nach dem gelobten Lande deutscher Sprachvollendung sehnt.«
Manfred: »Solche Floskeln des Königs gefallen seinen Verehrern gut; schön wärs, wenn sie ernst genommen werden dürften. Aber im selben Atem, in dem Friedrich als sehnsüchtig trauernder Moses heuchlerisch das gelobte Land der kommenden deutschen Literatur zu sehen vorgab, schrieb er an d'Alembert: »Das Grab Voltaires wird das Grab der schönen Künste sein …; Man verläßt die Welt mit weniger Bedauern zur Zeit der Dürre als zur Zeit des Überflusses ( Oeuvres Posth. XII, 39.)
»Man darf hoffen, daß Goethe von Lucchesini über die besondere Abneigung des Königs gegen den Dichter des Götz wenigstens durch einen Hinweis auf die Abneigung getröstet wurde, die der König gegen Aristophanes, Plato und Horaz in den Unterhaltungen mit Lucchesini bekannt hat. Daß Friedrich II. einen Gedanken aus der Henriade Voltaires höher schätzte als die ganze Ilias, hatte er ja schon früher veröffentlicht. – Hier finde ich eine Bemerkung Lucchesinis, aus der man wohl entnehmen darf, daß Friedrich der Große mit eigentümlichem Scharfsinn alle Literaturwerke in zwei Arten teilte, nämlich gute und schlechte, die guten sind von Voltaire oder von Voltaire ausdrücklich gutgeheißen; die anderen sind schlecht. Am 2. Oktober 1780 berichtet Lucchesini in seinem Tagebuch über die Gespräche an des Königs Mittagstafel: »Es wurde ziemlich viel von Literatur gesprochen, von der Dürftigkeit der deutschen Bühne und der geringen Anzahl guter italienischer Trauerspiele; von den englischen Dichtungen, von dem schwachen Eindruck, welchen die Lektüre der griechischen Trauerspiele macht, von dem schlechten Geschmack der lateinischen Trauerspiele und der Vollendung des französischen Theaters.« Klingt es nicht, als ob Friedrich II. mit seinem Urteile derart von Voltaire abhängig war, daß er geradezu – ein snob genannt werden muß? Mir fällt kein deutsches Wort für snob ein; kennen Sie eins?«
Hegemann: » Snob? nein.«
Manfred schlug im kleinen Meyer nach und fand: » Snob, ungebildeter, vornehmtuender, anmaßender Mensch.« Ich schlug das Tauchnitz-Handwörterbuch auf, das auf dem Tisch lag, und fand: » Snob, Flickschuster, prahlerischer Mensch, der für mehr gelten will als er ist.«
Manfred lachte: »Beleidigung der Flickschuster« und fuhr fort: »Bei Friedrichs II. geistigem »Vasallen«-Verhältnis zu Voltaire, wenn ich mich nochmals des Goetheschen Ausdrucks bedienen darf, ist besonders lächerlich die Tatsache, daß Friedrich seinen großen Oberherrn allzu oft nur halb verstand und deshalb beim Wiederholen des Gehörten oder Gelesenen gemeingefährliche Torheiten vorbrachte. Wenn zum Beispiel Friedrich II. auf die »ekelhaften Plattheiten« Goethes und Shakespeares schalt, glaubte er durch Voltaires Äußerungen gegen Shakespeare zu seinen unköniglichen Verunglimpfungen ermächtigt zu sein. Friedrich vergaß dabei nicht nur die Warnung, die ihm Voltaire oft hatte geben müssen {Verw. auf Anmerkung}: »Nicht so viele Injurien!«, sondern er übersah auch, daß im Jahre 1867 der große Wiener Grillparzer die Berliner Verunglimpfungen mit folgender Würdigung der größeren Pariser und Londoner Handwerksgenossen ablehnen würde; Grillparzer schrieb: »Es ist immer nur die Rede von den Verunglimpfungen, die sich Voltaire gegen Shakespeare erlaubt habe. Er war aber sehr empfänglich für seine Vorzüge.« Ein weniger schmähsüchtiger Friedrich hätte also bei aller Ergebenheit für Voltaire ein gutes Haar an Shakespeare und seinem Schüler Goethe lassen können. Auch wurde schon zu Friedrichs II. Zeit Shakespeare von so streng akademisch gerichteten angesehnen Beurteilern wie Samuel Johnson (1709-84) begeistert gewürdigt. Aber Friedrich glaubte sich auf Lebzeiten eingedeckt, wenn er sich eine zufällige Äußerung des achtzehn Jahre älteren Voltaire einprägte. Voltaire hatte ihm auch die Gedichte des Mittelalters noch nicht empfohlen. Aber sie wurden längst so allgemein bewundert, daß Chatterton und Macpherson (Ossian) schon kurz nach dem Siebenjährigen Krieg mit ihren genialen Fälschungen ein fruchtbares und vielumstrittenes Feld fanden. Als aber Professor Myller 1782 endlich seine Sammlung mittelalterlicher Gedichte dem weisen König von Preußen widmete, erhielt er von ihm die Antwort: »In meiner Büchersammlung werde ich solches elendes Zeug nicht dulden, sondern herausschmeißen« (Preuß III, 335). Man darf sich nicht darüber wundern, daß es verknöcherte alte Herren gibt; aber es ist lächerlich, wenn einem derartigen Herrn hartnäckig seherische Weisheit angedichtet werden soll.