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Friedrich II. und sein Fredersdorf, Goethe, Voltaire und die Frauen
Zum Zipfel, zum Zapfel,
Zum Scherber, zum Pfriemen,
Bei der Jungfer Christinen
Zum Dachfenster rein!
Friedrich der Große als Kronprinz
L'amour de la gloire a les mêmes délicatesses et, si j'ose dire,
les mêmes timidités que les plus tendres passions.
Ludwig XIV.
( in
Mémoires)
*
Die folgende Unterhaltung entwickelte manchen Gedanken des ersten Gespräches, aber sie schloß sich unmittelbar an das zweite, das über Lucchesini, an.
Manfred: »Der beseligende Geist Voltaires, dessen Prophet Friedrich II. während seines ganzen Lebens gerne gewesen wäre und als dessen unwürdiger Botschafter Lucchesini vor Goethe erschien, ist schon früher einmal in Goethes Briefen an Frau von Stein aufgetaucht. 1784 schrieb Goethe der Geliebten aus Gotha: »Gestern abend vertraute mir die Oberhofmeisterinn Mémoires pour servir à l'Histoire de Mr. de Voltaire ecrits par lui même unter den feyerlichsten Beteuerungen an. Man sagt, das Büchlein solle gedruckt werden, es wird entsetzliches Aufsehen machen, und ich freue mich nur darauf, weil du es lesen wirst, es ist so vornehm und mit einem so köstlichen Humor geschrieben als irgend etwas von ihm, er schreibt vom König in Preußen wie Sueton die Scandala der Weltherrscher, und wenn der Welt über Könige und Fürsten die Augen aufgehen könnten und sollten, so wären diese Blätter wieder eine köstliche Salbe. Allein man wird sie lesen wie eine Satyre auf die Weiber, sie bey Seite legen und ihnen wieder zu Füßen fallen.« Im nächsten Briefe spricht Goethe wieder von dem Buche: »Zum Schrecken aller wohlgesinnten geht die Rede, als sollten die Mémoires des Voltaire …; gedruckt werden, mir macht es ein großes Vergnügen, damit du sie lesen kannst. Ich soll eins der ersten Exemplare erhalten, und ich schicke dir es gleich. Du wirst rinden, es ist, als wenn ein Gott (etwa Momus), aber eine Canaille von einem Gotte, über einen König und über das Hohe der Welt schriebe. Dies ist überhaupt der Charackter aller Voltairischen Witz Produckte, der bey diesen Bogen recht auffällt. Kein menschlicher Blutstropfe, kein Funcke Mitgefühl, und Honettetät. Dagegen eine Leichtigkeit, Höhe des Geistes, Sicherheit, die entzücken. Ich sage Höhe des Geistes nicht Hoheit. Man kann ihn einem Luftballon vergleichen der sich durch eine eigne Luftart über alles weg schwingt und da Flächen unter sich sieht wo wir Berge sehn.« (In den »Sprüchen« hat Goethe erklärt, welche Umwälzung im Denken seiner Zeit die Erfindung des Luftschiffs bewirkte.)
»Ist es nicht erstaunlich, wie Goethe den Geist zu beschreiben versteht, dessen Hauch Friedrich II. berauschte, und zu dessen Wesen gerade der Mangel an »Honettetät«, das heißt an Konventionalität und Gutmütigkeit gehört, die einen Schriftsteller geneigt machen, sich in wichtigen geschichtlichen Darstellungen mit den fables convenues zufrieden zu geben? Und ist es nicht scherzhaft, Goethe von der »Leichtigkeit, Höhe des Geistes, Sicherheit, die entzücken« eines Buches reden zu hören, das die preußischen Geschichtschreiber nur mit Abscheu zu nennen wagen. Ich hörte, die preußische Zensur hintertreibe noch heute deutsche Ausgaben des von Goethe gerühmten Werkes. Und Frau von Stein, der Goethe es freudig zu senden verspricht, was hat die wohl dazu gesagt?« Dieser Gedanke schien Manfred sehr zu erheitern.
Mir waren die Denkwürdigkeiten Voltaires unbekannt, und ich warf ein: »Sollte es denkbar sein, daß Goethe da von dem Buche spricht, in dem sich der rachsüchtige Voltaire zu der berüchtigten schamlosen Verunglimpfung der Moral Friedrichs des Großen hinreißen ließ?«
Manfred lachte: »Ja, dieses schamlosen Goethe Bewunderung gilt in der Tat dem berüchtigten Buche, das Friedrichs II. Lieb-Koser (I, 525) »eine boshafte und gemeine Karikatur« zu nennen wagte!«
Ich wunderte mich: »Ist nicht das bittere Verdammungsurteil, das Goethe an anderer Stelle über Voltaire gefällt hat, gerade wie veranlaßt durch die unglaubliche Ungebührlichkeit Voltaires gegen den großen König? Goethe sagte doch etwa: »Voltaire, der von jeher eine Profession daraus machte, alle Majestäten zu lästern, hat sich auch hier als ein echter Thersites bewiesen. Wäre ich Ulysses, er sollte seinen Rücken unter meinem Zepter verzerren««.
Manfred: »Nicht doch! Das sagte Goethe als junger Stürmer, weil ihm Voltaire – und mit Voltaire selbstverständlich auch der ihm nachbetende große Friedrich {Verw. auf Anmerkung} – nicht genug Ehrfurcht für Shakespeare bewiesen hatte; also lange bevor Goethe selbst Hofmann wurde und verstehen lernte, daß und warum Voltaire auch lasterhafte Majestäten nicht gerne verlästerte, wenn sie »hunderttausend Mann« hatten. Weil Voltaire sich erinnerte, daß Friedrich einen Nörgler gefragt hatte: »Hat er hunderttausend Mann?«, sagte Voltaire: »Ich habe meine Streitsache mit Friedrich drei- oder vierhunderttausend Soldaten anvertraut.« Der erste Versuch, den diese Soldaten machten, ist bei Roßbach kläglich gescheitert, worüber sich Voltaire seine eigenen Gedanken gemacht hat. Er, der Sänger des Sieges von Fontenoy und auch erklärter Feind aller Kriege war, hatte nämlich eigens für den Kampf gegen Friedrich II. eine Kriegsmaschine, etwas wie gepanzerte Streitwagen Etwa den heutigen Tanks entsprechend. erfunden, von denen er Großes für die Verstärkung der französischen Kavallerie hoffte; aber Voltaires Freund, der Feldmarschall Richelieu, hatte die Verwendung dieser Erfindung geringschätzig abgelehnt. Doch auch ohne diese Kriegsmaschine waren dann die Soldaten Voltaires und der von Voltaire angezettelten Revolution unter besserer Führung, bei Jena ungemein erfolgreich. Ohne preußische Prügelzucht! War es nicht ein Sieg Voltaireschen Geistes über friderizianisches Prügelwesen? {Verw. auf Anmerkung} Es war gerade um die Zeit von Jena, also zwanzig Jahre nachdem Goethe der Frau von Stein zuerst sein Entzücken über Voltaires »Scandala des Königs in Preusen« mitgeteilt hatte, daß Goethe sich auch öffentlich zu Voltaire bekannte, und zwar in so bewundernden Ausdrücken, daß Friedrich der Große selbst seines bewunderten Lehrers Ruhm nicht viel nachdrücklicher hätte künden können. Goethe nannte damals Voltaire den »höchsten unter den Franzosen denkbaren Schriftsteller« (Friedrich hätte sicher das »unter den Franzosen« weggelassen) und nannte etwa fünfzig Tugenden bei Namen, die er an Voltaire bewunderte, als da sind Genie, Erhabenheit, Gefühl, Reinheit und fünfundvierzig andere.«
Hegemann: »Haben Sie nicht eine erstaunliche Fähigkeit, einem weiß erscheinen zu lassen, was eben noch schwarz schien? Erhabenheit, Gefühl, Reinheit bei dem Manne, der Friedrich den Großen zu besudeln wagte?«
Manfred: »Verzeihen Sie, ich führte nur Goethes Worte an; aber ich verstehe, worauf Sie anspielen, und kann es Goethe nicht verargen, daß er Ihren Groll nicht teilte.«
Hegemann: »Billigen Sie denn etwa die Voltaireschen Verleumdungen? Zweifeln Sie, daß Voltaires Rachsucht das alles erlogen hat?«
Manfred: »So will es die Königliche Preußische Akademie der Wissenschaften, wenn sie »statutenmäßig das Andenken ihres großen Neubegründers feiert«, wobei ein Du-Bois-Reymond Gehalt und Wesen seiner Verteidigung Friedrichs des Großen aufdeckt durch einleitende Worte wie: »aufs neue staunt die Welt die märchenhafte Gestalt des Heldenkaisers an, welcher den dieser Ehe schon entsprossenen Urenkel im Arme wiegt …;« Aber ich glaube, der Geist des unerbittlichen Spötters von Sanssouci würde die »wiegenden Gestalten« solcher Preußischen Akademiker, wenn sie Ohren zu hören hätten, sehr höhnisch zum Lesen seiner »Eloge de Voltaire« kommandieren, in der er der Akademie doch nach Voltaires Tode noch eingeschärft hat: »M. de Voltaire valoit seul toute une academie«. Noch wahrscheinlicher ist es allerdings, daß Fridericus redivivus die ganze Akademie zum Teufel jagen würde, wenn er erführe, daß ihre Tore den verachteten Deutschen geöffnet wurden. Was würde er wohl dazu gesagt haben, daß Du Bois-Reymond, ein Mitglied der französisch gewollten Schöpfung Friedrichs, sich 1870 wegen seiner französischen Abstammung zu entschuldigen die Geschmacklosigkeit hatte. Und dieser Akademiker glaubte Friedrich gegen Männer wie Macaulay oder gar gegen Voltaire in Schutz nehmen zu dürfen? Wie sagte der Alte Fritz jeden Morgen?: »Divin Voltaire, ora pro nobis!« Wissen Sie, daß die »Scandala« des Sueton, mit denen der bewundernde Goethe Voltaires Memoiren verglichen hat, von Friedrich II., zusammen mit Voltaires Geschichte des Jahrhunderts Ludwigs XV., noch wenige Tage vor seinem Tode gelesen worden sind?«
Hegemann: »Ich wußte es nicht.«
Manfred: »Sprechen Sie nicht fast, wie ein preußischer Geschichtschreiber über den verdächtigen Franzosen Voltaire sprechen muß? Was Voltaire von Friedrichs II. Harmlosigkeiten erwähnt, nennen Sie Verleumdung; wenn aber die treue Pfälzerin Liselotte erzählt, daß Prinz Eugen und der große Turenne als junge Leute »offt die Dame agirten« und sich in ihrer Geldnot für einen Taler an ihre Kameraden verkauften, wenn sie berichtet, wie der große Condé und der Marschall Villars, den Friedrich II. einmal über Alexander stellte, sich im Feld ganz an den Umgang mit Knaben gewöhnt haben, dann beweist sie damit ihre deutsche Geradheit. Ranke versichert gelegentlich, sie sei ohne Falsch, und auch der französische Herzog Saint-Simon spricht von ihr als »mutig, durchaus deutsch, offenherzig, gradsinnig, gut, wohltätig, edel und groß«.«
Hegemann: »Die französische Sittenverderbnis, die sie schilderte, lag eben klar zutage und ließ sich nicht leugnen.«
Manfred: »Französisch! Dieselbe Liselotte erzählt doch, wie gerade der deutsche Gesandte Zinzendorf die »Mode« in Paris verbreitet hat, und der berühmte Schützling Friedrichs II., Dr. Bardt, berichtet, daß die gesamte Knabenwelt der Fürstenschule Schulpforta vom »griechischen Laster geschändet« sei. Ich glaube, die Leute, die sich über Voltaires Mitteilungen über Friedrich II. aufregen, sind Opfer eines Mißverständnisses; sie sehen eine Beleidigung Friedrichs II., wo Friedrich selbst wahrscheinlich eher eine Auszeichnung sah. Bismarck ist weniger zimperlich; er hat allerlei Gutes von Friedrich II. zu sagen; aber er spricht auch ohne Scheu von Friedrichs »Beifallsbedürfnis, das sich früh im kleinen verriet. In seinem Briefwechsel mit dem Grafen Seckendorff sucht er diesem alten Sünder durch Exzesse auf dem geschlechtlichen Gebiet und daraus folgende Krankheiten zu imponieren«. Wenn Bismarck so urteilen mußte, ist es dann unwahrscheinlich, daß Friedrich auch mit der vornehmeren Mode geliebäugelt hat? der Mode, die nicht nur in der Umgebung König Ludwigs XV. Anhänger fand – Ludwig war zwei Jahre älter als Friedrich – sondern die dem jungen Franzosennarren Friedrich vielleicht gerade als Eigenheit der bewunderten französischen Feldherren nachahmungswürdig erschien. Wieviel Wert Friedrich II. auf sein Mitmachen bei dieser Mode gelegt hat, ist eine andere Frage; aber daß er einmal damit gespielt hat, scheint mir kein abenteuerlicher und kein schrecklicher Gedanke. Wer sich über dieses »Laster« aufregen will, darf nicht übersehen, daß Friedrich sich nicht darüber aufregte, sondern in seinen Dichtungen und auch noch kurz vor seinem Tode mit großer Heiterkeit davon sprach. Der Fürst von Ligne, der eines der verklärtesten Bilder des alten Königs gezeichnet hat, berichtet, »es ward sehr lustig«, als Friedrich auf die Entdeckungen zu sprechen kam, die er in den Briefen der Liselotte von der Pfalz über Prinz Eugen gemacht hat. Und wenn der berühmte Berliner Professor Roethe recht hätte mit seiner Behauptung, die deutsche Literatur gehe auf den Sieg von Roßbach zurück, dann begänne sie mit Friedrichs pornographischem Siegesgedicht von 1757.«
Hegemann: »Sie glauben nicht, daß das Bild des großen Königs durch die schmutzigen Andeutungen Voltaires entstellt wird?«
Manfred: »Ist denn Friedrichs Bild so empfindlich? Wer ihn bewundern will, muß doch wohl lachen können, wo Friedrich selbst gelacht hat. Schmutzig? Auch seine Bewunderer erzählen, daß er wirklich recht schmuddelig war. Zu de Catt sagte Friedrich einmal: »Eins könnte besser sein. Nämlich mein Gesicht, das immer ganz mit spanischem Schnupftabak vollgeschmiert ist. Das ist eine verwünschte Angewohnheit, die ich da an mir habe. Sagen Sie selbst, sehe ich nicht ein bißchen wie ein Schwein aus? Sagen Sie es nur ruhig heraus.« De Gatt antwortete: »Ich muß gestehen, Majestät, daß Ihr Gesicht, ebenso wie Ihre Uniform, recht voll Tabak ist«; und Friedrich schloß: »Das nenne ich eben, mein Herr, ein bißchen Schwein.« Friedrich II., der hundertdreißig Tabakdosen im Werte von vielen Millionen hinterlassen hat, soll sich den teuren spanischen Tabak nicht mit den Fingerspitzen in die Nase geschoben, sondern mit voller Hand eingeschaufelt haben, so daß der aus den Taschentüchern gesammelte und wieder in den Handel gebrachte Tabak eine Einkommensquelle des Kammerdieners war. Der Kammerdiener hat das wahrscheinlich nicht im mindesten ekelhaft gefunden, und wer sonst sollte deswegen einen im übrigen verehrlichen Mann weniger verehren? Friedrich lachte darüber. Als er 1770 Joseph II. besuchte, kam er dem Kaiser zu Ehren ganz in Weiß gekleidet, was den Schnupftabak, mit dem er sich bekleckerte, recht zur Geltung brachte; Friedrich sagte lachend: »Je ne suis pas assez propre pour vous. Je ne suis pas digne de porter vos couleurs.« (So berichtet der Fürst von Ligne.) Das erscheint mir eher liebenswürdig als widerlich. Es ist übrigens erstaunlich, wie auch da Friedrich II. wieder ein Vorbild hatte. Er ist nicht als Politiker, aber als Schnupfer in die Fußtapfen des von ihm so verehrten Prinzen Eugen getreten. Lassen Sie mich Ihnen etwas von Liselott vorlesen …;«
Manfred hatte schnell den gesuchten Band zur Hand und fuhr fort: »Hier schreibt Liselotte am 19. März 1711 an die Kurfürstin von Hannover: »Es ist kein wunder, daß printz Eugene mitt toback beschmirt ist, seine naßlöcher seindt zu weit offen, umb den toback halten zu können.« Und im selben Brief sagt sie mit nie versagender Ehrlichkeit: »Wenn ich lang schnupftoback rieche, wirdt mir wie übel, bin recht fro, daß Euer Liebden es auch hassen; ich halte mich noch auff alt teütsch, nehme keine frembte Sachen.««
Ich mußte lachen; Manfred stimmte ein und fuhr fort: »Ich gestehe Ihnen ehrlich: auch ich hasse die unteütschen Laster. Ich freue mich, daß Sie Nichtraucher sind, und ich hätte, weiß Gott, nichts dagegen, wenn die schönfärbende Frage: Rauchen Sie? allmählich durch das ehrlichere: Stinken Sie? allgemein ersetzt würde. Dennoch flehe ich meine Freunde an, zu – rauchen, wenn ich weiß, daß ihnen ohne diese Daueronanie nicht wohl wird. Statt Friedrich II. wegen seines schmutzigen Tabakschnupfens zu verachten, bin ich geneigt, ihn zu bewundern, weil er sich der Luftverpestung enthielt, die heutzutage den meisten Opfern der Tabakleidenschaft unerläßlich erscheint. Es ist nicht alles verwerflich an Friedrich dem Großen, diesem »merkwürdigen Fürsten«! Selbst Goethe sah im Schnupfen nur »eine Schmutzerei«, während er dem verschwenderischen »Greuel« des Rauchens die schwersten Folgen verkündet hat: »Nach zwei oder drei Menschenaltern«, sagte Goethe, »wird man schon sehen, was diese Bierbäuche und Schmauchlümmel aus Deutschland gemacht haben; an der Geistlosigkeit, Verkrüppelung und Armseligkeit unserer Literatur wird man es zuerst bemerken, und jene Gesellen werden dennoch diese Misere höchlich bewundern.« Mir stehen die Haare zu Berge, wenn ich mir überlege, wie richtig da Goethe wieder prophezeit hat, und erst recht graut mir, wenn ich mich erinnere, daß in meiner amerikanischen Heimat dem indianischen Rauchlaster wenn möglich noch verderblicher gefrönt wird als in Deutschland. Goethe war auch kein Schnapsliebhaber, und es muß sicher beglückend für einen Deutschen sein, wenn wenigstens in diesen mehr oder weniger äußerlichen Dingen etwas wie Einverständnis zwischen den führenden Geistern seines Volkes zu finden ist. Hören Sie, wie der große Friedrich antwortete, als er 1775 um die concession zum Bau einer Arrak- und Rumfabrik ersucht wurde: »ich wills den Teufel thun ich wünsche daß daß giftig garstigs Zeug gar nicht da Wäre und getrunken würde.«« (Preuß. Urk. II, 233).
* * *
Unter den zahlreichen Gästen, die am Nachmittage erwartet wurden, befanden sich mehrere bekannte Schriftsteller, und ich wurde Zeuge einer bedeutenden Unterhaltung, deren Inhalt sich dem Gespräche des Vormittags anschloß, von der ich aber leider nicht sehr viel mehr als Manfreds Äußerungen festzuhalten vermochte.
Als ich mich frühzeitig auf die Terrasse begeben wollte, wo der Tee gereicht zu werden pflegte, sah ich Manfred mit Thomas Mann in den offenen Fenstertüren des Bücherzimmers stehen, und Manfreds einladendem Gruße folgend fand ich sie bei einer Erörterung der Frage, was sich wohl an zuverlässigen Aufschlüssen über die Jugend Friedrichs des Großen in den Denkwürdigkeiten seiner Schwester Wilhelmine und in anderen Quellen möchte finden lassen. Man sprach von den beiden natürlichen Töchtern Augusts des Starken, die Wilhelmine ihrem sechzehnjährigen Bruder zu Mätressen gibt, und von Friedrichs Liebesabenteuern in Küstrin, Ruppin und Rheinsberg.
Thomas Mann erwähnte Seckendorffs Bericht an den Prinzen Eugen, »daß die Kräfte des Körpers die Neigung des bösen Willens nicht genug sekundieren, folglich der Kronprinz in seinen Galanterien mehr einen eiteln Ruhm sucht als eine sündliche Neigung,« und Thomas Mann knüpfte daran die Bemerkung: »Dem mochte nun so sein oder anders, – gewiß ist, daß alle diese Affären mit Leidenschaft in irgendeinem höheren, tieferen Sinne, mit dem Gefühl, mit dem Herzen nicht das geringste zu tun hatten. Als ganz junger Mensch schon erklärte Friedrich, daß er nur Genuß von den Frauen wolle, sie hernach aber verachte. Er hat niemals geliebt. Dann kam ein Malheur auf diesem Gebiet, man spricht von einer Operation, die sich anschloß, – und von diesem Zeitpunkt an war irgend etwas kupiert in seiner Natur; er wandte der Üppigkeit kurz den Rücken; das Weib hatte seine wenig ehrenvolle Rolle in seinem Leben ausgespielt.«
Manfred: »Mir scheint, das mit der »Operation« hat der unermüdliche Aufklärer Nicolai – einer von den treuen Berlinern, die den Alten Fritz um so wärmer verehrten, je mehr dieser sie verachtete – unwiderleglich als eine Erfindung des hypochondrischen Doktor Zimmermann nachgewiesen. Dieser selbe Arzt Friedrichs II., der vorher für Goethes Beziehungen zu Frau von Stein so bedeutsam geworden war, hat übrigens Dinge von dem verehrten König berichtet, die menschlich erfreulicher und wohl auch zuverlässiger sind als die Geschichte von der »Operation«; zuverlässiger vielleicht wenigstens da, wo er sich auf Friedrichs eigene Worte berufen kann.«
Manfred zog mit der ihm eigenen Sicherheit den dritten Band von Ritter von Zimmermanns »Fragmenten über Friedrich den Großen« (1790) aus dem Bücherregal und las die folgenden Sätze aus dem Buche dieses Arztes vor: »»Eine venerische Krankheit hatte Friedrich kurz vor seiner Vermählung, wie man aus dem fünften Capitel dieser Fragmente weiß, wo man die großen Folgen dieser Krankheit nachlesen kann. Man weiß auch aus diesem Capitel, daß sich Friedrich aus Furcht vor seinem Vater in Liebeshändel nicht einlassen konnte, sondern sich nur, eins zwey drey, mit Freudenmädchen behalf. Aber man weiß nicht, daß er auch zuweilen unter solchen Personen in gute Hände fiel. Friedrich der Große sagt, in einer von ihm selbst im Jahre 1771 dem Druck übergebenen Schrift: ›Ich erinnere mir mit Vergnügen (diess verzeihe mir die Philosophie) die herrlichen Augenblicke, die ich einst in den Armen eines jungen Mädchens zubrachte. Sie war nicht unersättlich; sondern sagte mir vielmehr mit Sanftheit und Milde: Lieber kleiner Held, du machst dich krank und wirst dann zum Kriege nicht mehr taugen‹.« So berichtet von Zimmermann.
»Dem vorher erwähnten Urteil Seckendorffs widerspricht doch wohl auch Friedrichs Draufgängertum im Rheinfeldzug. Der damals Zweiundzwanzigjährige scheint doch l'amour et la gloire noch für einen ebenso tüchtigen Wahlspruch gehalten zu haben wie das Pro gloria et patria, dem er sich später ausschließlich ergeben haben soll. Während des Rheinfeldzuges hat Friedrich ja auch einige noch heute lesbare Reime geschrieben! ja deutsche Verse sogar, wie es sich für einen ziemt, der noch nicht mit dem sogenannten Erbfeind gemeinsame Sache gemacht hat, sondern unter dem edlen Ritter Prinz Eugen gegen die Franzosen marschiert. Ist es nicht kerndeutsch, wenn der kronprinzlich-preußische Stürmer und Dränger in seinem Gedicht an seinen Freund Natzmer schreibt:
Zum Zipfel, zum Zapfel,
Zum Scherber, zum Pfriemen,
Bei der Jungfer Christinen
Zum Dachfenster rein!
Da steckt mehr Kraft drin als in den französischen Versen, die Friedrich an die Frau von Wreech schrieb und die der Hofbibliothekar Kaiser Wilhelms II. in so geschickter Übersetzung veröffentlicht hat:
Seit ich Dich hab geseh'n, kenn ich nicht Rast noch Ruh;
Du gabst den Anlaß mir, und dessen wert bist Du.
Welche Sommernachtstraum-Stimmung! – ich denke an die Handwerkerszenen – die dem französischen Original wahrscheinlich genau entspricht. Die Übersetzungen friderizianischer Verse haben etwas Rührendes; sie helfen zur Verbreitung – zwar nicht der Verse – aber des frommen Glaubens, daß diese Verse vielleicht einen inneren Wert haben, der auch den geistig Ärmsten mitgeteilt werden muß, jenen Ärmsten, die Gott so ganz verlassen hat, daß er ihnen die Kenntnis der einzigen Sprache vorenthielt, deren Beherrschung ihr großer König einst zu versuchen der Mühe wert hielt. Ist es nicht ganz im Geiste Friedrichs des Großen, dem der Berliner Professor Gustav Schmoller so gerne nachrühmt, er habe ein König des Lumpengesindels – roi des gueux – sein wollen, daß auch die geistig Armen das Wort des Königs vernehmen? Es ist eine Art Bibelübersetzung oder wenigstens Caviar fürs Volk?
»»Zum Zipfel, zum Zapfel …;«! ist diese dichterische Leistung Friedrichs des Großen nicht würdig, im ersten Teil des Faust oder wenigstens in »Hanswursts Hochzeit« ihren Platz zu finden?«
Hegemann: »Ich glaube mich zu erinnern, daß auch Reinhold Koser eine geistige Verwandtschaft zwischen dem Kronprinzen Friedrich und dem jungen Goethe, dem Rheinsberger und dem Frankfurter Freundeskreise angedeutet hat.«
Manfred lachte: »Für diese Verwandtschaft ließe sich mancher trügerische Beweis anführen. »Wenn ich nicht lesen oder schreiben kann, bin ich wie die starken Tabakschnupfer, die vor Unruhe sterben und tausendmal mit der Hand in die Tasche fahren, wenn man ihnen ihre Dose genommen hat.« Diese Worte stammen von dem Prinzen, der später der größte Tabakschnupfer und Sieger in dreizehn Schlachten geworden ist, und nicht etwa von dem tabakverabscheuenden Dichter des: »Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll, so ist das Leben mir kein Leben mehr.«
Wenn Friedrich II. seinem Zuhörer de Catt erzählt, wie ihn in Rheinsberg die Leidenschaft für seine Bücher fast schlaflos machte, könnte man an Goetheworte denken wie: »Um Mitternacht wohl fang ich an« oder »Ich halte diesen Drang vergebens auf, der Tag und Nacht in meinem Busen wechselt«; und wenn der junge Friedrich gar anfängt, deutsche Volkslieder zu sammeln, gemahnt er gar nicht an Karl den Großen, der das ja auch getan haben soll, sondern an einen sich genialisch gebärdenden Schüler Herders.
hat mich der Nar erschrekt
hat mich im Kühstall niederkelekt
hat mich ä Kribs ä Krabs kemacht
das mihr das Hertzele im Leibe hat kelacht.
Das ist eins der Lieder, die Friedrich II. in seinem Kriegstagebuch von 1734 aufgezeichnet hat. Bedenken Sie, was daraus geworden wäre, wenn er als König diese Ader verfolgt hätte. Sie entsinnen sich, daß Herder seinen Straßburger Jüngern riet, die deutschen Volkslieder im Elsaß zu sammeln; das wäre eine würdigere Aufgabe für Friedrich II. gewesen, als den das Elsaß glorreich zurückerobernden Österreichern 1744 tückisch in den Rücken zu fallen, um so Elsaß für die folgenden hundert Jahre, das heißt wahrscheinlich für immer, den Franzosen zu sichern. Ist es nicht beinahe ergreifend, im Kriegstagebuch des späteren Deutschenfressers Friedrichs II. zu lesen:
Darum Wutscherl
Hertzicks Trutscherl
Gib Dein patchhandel her
Tuä versprecha
Das du wilst brecha
Diesen punkto nimmermehr
jetz Deinhala
2 weis Tala
gib ich Diehr zum Handgeld dran
Du mein lieberl
ich Dein biewerl
Du mai weiwerl
Ich Dein man
da capo
Erinnert das nicht an Mozarts unvergängliches Duett aus der »Zauberflöte«, das da schließt mit dem überquellenden Jauchzen: »Weib und Mann und Mann und Weib«. Muß man nicht die Keckheit der Berliner Professoren bewundern, die ehrfürchtig behaupten, es habe vor dem großen Friedrich keine deutsche Dichtung gegeben?
»Daß dieser Friedrich solchem Golde den Rücken kehren mochte, dem widersinnigen und nur selten glückenden Versuche zuliebe, in einer andern als seiner Muttersprache Dichter sein zu wollen, das scheint mir zu beweisen, daß man den jungen Friedrich und den jungen Goethe nicht verwandt nennen darf, es sei denn, man wäre Berliner Hochschullehrer. Friedrich II. ist uns als junger Mensch zu oft und von verschiedenen Seiten zu übereinstimmend geschildert worden, als daß man ernstlich bei ihm an gewissen sittlichen Schwächen zweifeln könnte, die bei Goethe fehlten oder durch strengere Selbsterziehung überwunden worden sind. Nehmen Sie die Art, wie Friedrich bei der Heimkehr vom Rheinfeldzug, 1734, seine ihn vergötternde Lieblingsschwester Wilhelmine bis zu Tränen demütigt, wie er ihr gleichzeitig dünkelhaft ankündigt, daß er die Welt überraschen werde, wenn er erst einmal König sei; das stimmt zu sehr mit den Berichten des jüngeren Seckendorff über die bald darauf folgenden Ankündigungen Friedrichs an Schulenburg und Wartensleben, er werde seine Regierung mit einem éclat beginnen: »Oui, mon cher comt-chen, …; il y a assez de plaisir d'être l'unique roi de Prusse«. Oder wenn seine Schwester über die hochmütige Rücksichtslosigkeit klagt, mit der Friedrich über ihren kleinen Hof und über alles und jedes gesprochen habe, so stimmt das zu sehr mit den Berichten, die von den französischen Gesandten erhalten sind (zum Beispiel Du Mesnils Bericht: »Es gefiel ihm, von niemandem etwas Gutes zu sagen, alle Welt zu verurteilen und sich selbst zu bewundern«), oder die uns de Catt vom jungen und Lucchesini vom alten Friedrich hinterlassen haben, als daß das Bild nicht zweifelsfrei festgelegt wäre, das Bild des absprechenden, ungern Widerspruch duldenden Menschen, der den Vorteil seiner Geburt mißbraucht und – ja man muß geradezu sagen, der von frühester Jugend bis ins späte Greisenalter unliebsam schwadroniert. Aus de Catts Aufzeichnungen spricht überall der Geist aufrichtiger Demut und Ehrfurcht, mit dem der junge Schweizer vor dem dreizehn Jahre älteren Schlachtenlenker gestanden hat. Gewisse Bemerkungen aus de Catts Feder würden einen klaren, eindeutigen Sinn haben, auch wenn sie nicht so eigentümlich mit Lucchesinis und anderer Aufzeichnungen übereinstimmten. Hören Sie diese Bemerkung, zum Beispiel, aus den königlichen Selbstmordtagen des Siebenjährigen Krieges, ja, geschrieben am selben Tage, an dem Friedrich bedauerte, daß »dieser Unglückskrieg« ihn zwinge, die inneren »Verwaltungsangelegenheiten ihren eigenen Gang gehen zu lassen«; »es bleibt mir nicht so viel Zeit übrig, an alles zu denken und allem zu steuern«. Von demselben Tage berichtet de Catt: »Nach Tische spielte der König eine Viertelstunde Flöte, diesmal, wie er sagte, zur Verdauung. Dann ging er wieder an seine schriftstellerische Arbeit vom Vormittage oder verbesserte ältere Arbeiten und die während des Feldzuges entstandenen Sachen. Um fünf Uhr wurde ich befohlen und blieb bis sieben. Während der zwei Stunden, die ich bei ihm saß, sprach der König über sein schriftstellerisches Pensum vom Morgen und Nachmittag und las mir dann wohl eine Leichenrede oder ein philosophisches Werk vor. Das gab dann Anlaß zu Bemerkungen, bisweilen auch zu einigen Debatten. Die Regeln der Debatte wurden oft nicht allzu genau eingehalten. Man gewährte volle Redefreiheit, aber man gestattete sich selbst das größere Maß davon, wodurch jene huldvoll gewährleistete Freiheit mitunter gleich null wurde. Entweder verweigerte man die verlangten Begriffsbestimmungen, oder man fand eine Begriffsbestimmung schlecht, sobald sie nämlich einen Widerspruch, in den man sich mit seinem Räsonnement hineingeredet hatte, an den Tag brachte; oder man schnitt das Wort kurz ab mit der einfachen Erklärung: das ist falsch …;« Ein andermal erklärte der König seinem Vorleser eine im Heer bedauerte Entlassung eines nicht untüchtigen Offiziers mit den Worten: »Ich habe meine festen Regeln, von denen ich nicht abgehe, und befinde mich dabei höchst wohl.« Wer hätte das nicht schon gehört und von einer ganz bestimmten Art von Rechthabern dies »und befinde mich dabei höchst wohl«! Wer wollte nach solchen Aufschlüssen noch an der Zuverlässigkeit des witzig gemeinten Selbstporträts zweifeln, welches Friedrich von sich machte, als er 1755 unter der Maske eines »Hofmusikus des Königs von Polen« in Holland unerkannt reisen und vorgeben wollte, den König von Preußen nicht leiden zu können. »Warum?« fragte der dreißigjährige Gelehrte den dreiundvierzigjährigen Hofmusikus, der »mit solcher Zungenfertigkeit und in so selbstgewissem Tone über Politik, Philosophie, Religion, verschiedene europäische Regierungen und verschiedene Könige« sprach. Und der königliche Hofmusikus antwortete: »Weil ein König, der schriftstellert, ein anspruchsvolles Wesen ist, mit dem sich schwer auskommen läßt, das oft den Wissenschaften zuliebe seine Staatsgeschäfte vernachlässigt, die doch an erster Stelle alle seine Sorgfalt und alle seine Aufmerksamkeit verdienen …;« Wem das damalige Auftreten des incognito reisenden Friedrich II. gefällt, dem wird auch der Bericht Spaß machen, den der Statthalter von Strasbourg im Jahre 1740 gleich nach dem Besuche des als »Graf Dufour« reisenden Königs von Preußen verfaßte. Friedrich lud sich in Straßburg aus dem »Café militaire« ihm unbekannte französische Offiziere zu Gast, machte taktlose Bemerkungen über das französische Heer und wurde vor einem Zweikampf durch seine königliche Würde gerettet. Er hatte dann einen unliebsamen, nicht völlig aufgeklärten Auftritt mit dem Statthalter und kehrte sehr ärgerlich aus Strasbourg nach Preußen zurück. Das war Friedrichs II. Reise nach Paris, von der er später gern erzählte.
Wem Friedrichs incognito-Unternehmen gefallen, der möge sie einmal vergleichen mit ähnlichen Unternehmen Goethes, zum Beispiel Goethes maskierten Besuchen bei Professor Höpfner in Gießen oder bei Plessing während der Harzreise im Winter, die nach allem, was man darüber – nicht nur von Goethe – erfährt, treffend gekennzeichnet werden durch Goethes eigene Schilderung seiner Verkleidungen: »Ich heiße Weber, bin ein Maler, habe iura studiert, betrage mich sehr höflich gegen jedermann und bin überall wohl aufgenommen.« Auch als Goethe in Palermo, als Engländer maskiert, seine neugierigen Besuche bei den Verwandten Cagliostros machte, war jede seiner Bewegungen von so vornehmer, so herzgewinnender Zurückhaltung und Rücksicht geleitet, daß man manche Stellen des Berichtes nur mit inniger Rührung lesen kann. Und doch war der Dichter in Palermo noch fünf Jahre jünger als der unendlich weniger vornehme, dichtende König in Holland. Es fehlt bei Friedrich II. »der Zug der einwägenden Güte«, der Goethes Wesen bestimmt.
Und was die Verwandtschaft des Rheinsberger Freundeskreises mit den Stürmern und Drängern um Goethe betrifft, so scheinen mir die Berliner Professoren sich in einer lächerlichen Verkennung zu gefallen. Erich Schmidt mag sagen: »Von Frauenliebe frei, war Friedrich eine im leidenschaftlichsten Freundschaftsbedürfnis webende Natur«. Schärfer als Professor Erich Schmidt scheint mir Bismarck das Wesen dieses »leidenschaftlichsten Freundschaftsbedürfnisses« zu durchschauen, indem er den »Verkehr mit ausländischen Schöngeistern« aus dem »Beifallsbedürfnis« Friedrichs erklärt, das ja wirklich sehr leidenschaftlich gewesen zu sein scheint.«
Thomas Mann: »Maria Theresia hatte ein zugleich kindliches und geheimnisvolles Wort für Friedrich, das anzudeuten scheint, daß ein hellsichtig-weiblicher Instinkt ihr sein Wesen verriet. Sie nannte ihn nie anders als »Der böse Mann«.«
Manfred: »Nie anders? Selbst Friedrichs treuer Lieb-Koser berichtet (II, 529), daß sie 1778 ganz klar sah und über Friedrich sagte: »Dieser große Mann ist doch, wenn man ihn nur näher ansieht, sehr klein und ein reiner Scharlatan.««
Thomas Mann: »Aber lange nannte sie ihn doch »bösen Mann«. Und ja, das war er. Und zwar ebensosehr »Mann« als »böse«. Die Geheimnisse des Geschlechtes sind tief und werden nie völlig erhellt werden. Konnte nun dieser König die Frauen nicht leiden, weil er ein so böser Mann war, oder war er ein so böser Mann, weil er die Frauen nicht leiden konnte? Das ist nicht zu entwickeln. Aber daß seine Bösartigkeit mit seiner Weibfeindlichkeit irgendwie zusammenhing, das scheint uns sicher.«
Manfred: »Daß Friedrich »Mann« war, haben Sie doch eigentlich vorhin in Frage gestellt, als Sie auf seine vielumstrittene Entmannung anspielten?
»Gleichviel! Mich dünkt, Maria Theresia – die eine königliche Frau war – hat da unwillkürlich Friedrich II. zuviel Ehre erwiesen; er war, glaube ich, weniger böse als ungezogen, zügellos. Haben die Frauen damit etwas zu tun? dann würde ich zuerst an Friedrichs II. Mutter denken; sie stand kaum auf derselben sittlichen Höhe wie die Mutter Maria Theresias; sie konnte wohl auch Frau Aja nicht das Wasser reichen. Das Familienleben der Eltern Friedrichs war unbegreiflich würdelos. Als seine ehrgeizige Mutter ihre erstaunliche Aussteuer in Paris anfertigen ließ, hat Ludwig XIV. den Wunsch ausgesprochen, viele deutsche Fürsten möchten imstande sein, die Kaufleute seiner Hauptstadt derart zu bereichern; aber als Königin saß sie meist in Spielschulden – ja, von der Ränkesucht seiner Mutter entwirft die Tochter Wilhelmine ein Bild, das auch dann noch sehr häßlich bleibt, wenn man die »25-50 Prozent« abzieht, die Carlyle bei dieser Memoirenschreiberin immer abziehen möchte.
»Auch wurzelte Friedrich II. in keinem würdigen Volksleben; er war unfähig, sich in irgendeiner Sprache sicher zu bewegen, er war in Sprache und Volkstum heimatlos und unverantwortlich. Sprachliche Heimatlosigkeit, bedeutet sie nicht Vaterlandslosigkeit, das heißt also Elend im schwersten Sinne des Wortes? Ich möchte Ihnen mit einer Gegenfrage antworten: Konnte Friedrich II. die Frauen nicht leiden, weil er ihre Sprache nicht verstand, oder hat er nie eine Sprache ganz gelernt, weil ihn keine Geliebte darin unterrichtete? »Gib dein Patschhandel her. Tua versprecha, daß du willst brecha, diesen puncto nimmermehr«, schade, was immer das Versprechen gewesen sein mag, er hat es nicht gehalten. Sein Vater mußte bald dem Schwiegervater versprechen: den Kronprinzen »aufmerksamer in der Erfüllung seiner Pflicht als Liebhaber zu machen«.«
Thomas Mann: »Irgend etwas war kupiert in seiner Natur. Eine tiefe Misogynie ist fortan von seinem Wesen untrennbar; es wird unmöglich, sich ihn in einer zärtlichen Situation vorzustellen, es wird lächerlich.«
Ich mußte an die Unterhaltung bei unserem Vesuvausflug denken, und Manfred schien mir mit einem Auge zuzuwinken. Um Thomas Mann in unser Einverständnis einzuweihen, wiederholte ich, leicht abwandelnd, Nietzsches Wort: »Welcher große Philosoph war bisher verheiratet? Der Philosoph von Sanssouci, der Patriarch von Ferney waren es nicht; mehr noch, man kann sie nicht einmal denken als verheiratet.«
Manfred: »Es liegt nahe, für jede Lebensregung Friedrichs II. nach einem Vorbild im Leben des verehrten Meisters Voltaire zu suchen. Die Widersprüche in Friedrichs Dasein sind zum Teil vielleicht daraus zu erklären, daß er gleichzeitig im verwegen witzelnden Geiste von Voltaires Pucelle und in der erhabenen Perücke der Henriade glänzen wollte.«
In diesem Augenblicke betrat Georg Brandes den Saal der Ellis'schen Bücherei, in dem diese Unterhaltung stattfand. »War Voltaire ein Weiberhasser?« begrüßte Manfred lachend und händeschüttelnd den Siebzigjährigen, in dessen umfassende Literaturkenntnisse er Vertrauen setzte. Der so Überrumpelte ließ sich freundlich herbei, uns von verschiedenen Freundinnen Voltaires fesselnde Bilder zu entwerfen, die in ihrer Fülle wiederzugeben mein Gedächtnis versagt. Ich greife willkürlich einige Stücke heraus, die sich auf Friedrich den Großen bezogen.
Georg Brandes erzählte unter anderem von der großen Adrienne Lecouvreur.
»Sie wurde noch fünfzig Jahre nach ihrem Tode die größte Schauspielerin aller Zeiten genannt; sie muß eine der ganz großen Zauberinnen, ein tragisches Genie gewesen sein. Sie verband höchste Schönheit mit Herzensgüte, war klug und wahrhaftig und ohne Hintergedanken oder Eitelkeit. Sie war Voltaires Geliebte, bevor sie Moritz von Sachsen erblickte und diesem künftig mit der stärksten Leidenschaft ihres Lebens zugleich als Geliebte und als zärtliche Schwester diente.«
Unter den Gästen befand sich die berühmte Schauspielerin Cécile Sorel, um deren noch immer glänzende Erscheinung das Gedächtnis des ermordeten Präsidenten der französischen Republik schwebt, dessen Leiche in ihrem Bette gefunden worden sein soll. Diese Nachfolgerin der Adrienne auf den Brettern der Comédie française plauderte in einem Kreise, der sich nahe bei unserem gebildet hatte, als Brandes sie darauf aufmerksam machte, daß von ihrer großen Vorgängerin und dem Sieger von Prag, Fontenoy und Raucourt die Rede sei. Cécile Sorel zeigte sich ebenso belesen, wie es Adrienne Lecouvreur nachgesagt wird; sie hat ja auch ein fesselndes kleines Buch über Adrienne veröffentlicht. Sie entgegnete:
»War es nicht Adrienne, die den großen Moritz erzogen hat, die aus diesem »Sarmaten«, der unter Prinz Eugen anfangs noch gegen Frankreich focht, den würdigen Vorkämpfer französischer Waffenehre machte? War es nicht Adrienne, die diesem Verheerer weiblicher Herzen Verfeinerung des Geistes gab, soweit er deren fähig war, die ihn sprechen und die Kunst sich zu kleiden lehrte? Die aus dem Achilles Homers den Achill Racines machte? Und hat Adrienne in schicksalsschwerer Stunde gezögert, sich auch wirtschaftlich für ihren Geliebten zugrunde zu richten?«
Brandes stimmte zu und erläuterte uns: »Adriennes selbstlose Freundschaft ging so weit, daß sie sogar der Trennung vom Geliebten nicht entgegenarbeitete: Moritz von Sachsen hoffte damals in Kurland auf Erfüllung seines Herzenswunsches, souveräner Fürst zu werden; Adrienne gab ihm alles, was sie an Bargeld flüssig machen konnte, 40 000 Franken, zur Finanzierung seiner Bewerbung um den kurländischen Thron.«
Cécile Sorel: »Für diesen Abenteurer großen Stils war Liebe nur Sinnlichkeit, kein Einklang der Seelen, er suchte ein Königreich, nicht ein Herz. Und Adrienne, die ebenso mütterlich empfand wie sie leidenschaftlich liebte, tröstete dieses große verwöhnte Kind über die Enttäuschungen, die das Schicksal ihm brachte. Durch all das Viele, das sie ihm gab und das er nicht zu würdigen verstand, wußte sie sich eins mit ihm. Er ließ sie nicht an seiner Treulosigkeit zweifeln, und sie litt ohne zu klagen und liebte ihn bis zu ihrer Vergiftung durch eine eifersüchtige Nebenbuhlerin um die Liebe des großen Marschalls von Sachsen. War er es doch, der ihr die letzten Höhen ihrer Kunst zu erreichen möglich machte, denn er gab ihr das Glück – zu leiden.«
Manfred: »Das Glück der Frauen?«
Cécile Sorel: »Das Glück der Künstler!«
Cécile Sorel, von anderen Bewunderern in Anspruch genommen, wurde uns entführt. Manfred schaute ihr nach und sagte nachdenklich: »Eine Krone, um die der glänzende Bastard Moritz vergeblich rang, fand Friedrich II. schon in der Wiege, und dennoch hat ihn nie eine Adrienne oder sonst eine Frau geliebt oder sprechen gelehrt. Er blieb auch in dem Lande, in dem er zur Herrschaft geboren wurde, mehr ein Fremder als Moritz von Sachsen in seinem neuen Vaterlande Frankreich, das ihn stolz sein eigen nennt, wenn er auch als Protestant im freieren Boden der alten Reichsstadt Straßburg begraben werden mußte.«
Brandes erzählte uns dann von der rothaarigen Gräfin von Rupelmonde, der Geliebten Voltaires, von deren Verdiensten um den Dichter auch Friedrich der Große so rühmend gesprochen hat und mit der Voltaire seinen Triumphzug zum Kongreß von Cambray unternahm.
Manfred: »Das war derselbe Kongreß von 1724, auf dem England und Frankreich des deutschen Kaisers erfolgreiche Gründung der Ostender Handelsgesellschaft zur Genugtuung Friedrichs II. (vgl. Oevr. viv. I, 274) zu hintertreiben suchten.« (Vgl. oben S. 204 und 219.)
Georg Brandes: »Und es war dieselbe lebenslustige Rupelmonde, der Voltaire ein mystisch-religiöses Gedicht widmete.« Manfred erinnerte an das mystische Gedicht »Die Geheimnisse«, das Goethe der Frau von Stein widmete.
Manfred: »»Die Geheimnisse« der Venus von Rupelmonde waren also auch religiös! Wenn auch so gar nichts von der Rosenkreuzlerei der »Geheimnisse« Frau von Steins darin zu finden war. Die Rosenkreuzler haben den Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. beherrscht; aber die religiöse Weisheit der Rupelmonde hat Friedrich den Großen beherrscht und hat eigentümlicherweise wohl auch der Frau von Stein religiösen Halt gegeben; denn der Deismus, der ihr im Gegensatz zu ihrer strenggläubigen Mutter geläufig war, geht auf allerlei Umwegen wahrscheinlich mehr auf Voltaire – Rupelmonde als geradenwegs auf Locke zurück.«
Georg Brandes: »Voltaires frommes Gedicht an die rothaarige Venus enthält die Gedanken, auf denen im Grunde die Henriade aufgebaut ist, vor der bald die bewundernden Zeitgenossen in Ohnmacht fielen und von der Friedrich der Große sagt, ein Gesang davon sei mehr wert als die ganze Ilias.«
Dann wurde Emilie von Chatelet als diejenige Geliebte Voltaires erwähnt, von der Friedrich der Große am meisten Rühmens gemacht hat.
»Wußte er denn viel von ihr?« fragte einer der Zuhörer.
Manfred: »Sie haben recht, bei Friedrich ist Vorsicht geboten. Aber er hatte drei Jahre lang Voltaire zu Gast; er schöpfte also aus der besten Quelle. Der König wird beinahe lyrisch, und es klingt wie das Märchen von der guten Fee, wenn er in seiner »Eloge de Voltaire« der preußischen Akademie von ihr erzählt.« Dann las Manfred übersetzend die folgenden Stellen aus Friedrichs »Eloge de Voltaire«, die er mit einer stets verblüffenden Schnelligkeit zur Hand hatte:
»»Es lebte damals in Frankreich eine Dame, die berühmt war durch ihre Liebe für die Künste und Wissenschaften. Sie ahnen, meine Herren, daß wir von der gefeierten Marquise von Chatelet sprechen wollen …; Die Freundschaft mit Voltaire veranlaßte die Marquise, Leibniz und seinen geistvollen Romanen den Rücken zu kehren, um sich Locke zuzuwenden, dessen Philosophie weniger geeignet ist, nur die Neugier zu befriedigen, als den Ansprüchen des strengen Verstandes zu genügen …; Bald ward der Landsitz der Marquise die Heimat der beiden philosophischen Freunde; dort schrieben sie, jeder für sich, die verschiedenartigsten Werke, die sie sich dann mitteilten, um ihre Schöpfungen durch wechselseitige Beurteilung der höchsten Vollendung näherzubringen. Dort verfaßte Voltaire die Trauerspiele Zaire, Alzire, Mérope, Sémiramis, Catilina und Electra …; Recht eigentlich für den Gebrauch der Marquise von Chatelet schrieb er seinen ›Versuch über Universalgeschichte‹ …; Dieses Werk, in dem das Feuer eines überragenden Genies leuchtet, ist nicht geeignet, Neulinge mit der Geschichtswissenschaft vertraut zu machen, sondern Kennern derselben die wichtigsten Tatsachen ins Gedächtnis zurückzurufen …; Voltaire war so untrennbar mit Frau von Chatelet verbunden, daß auch der Glanz des Hofes von Versailles ihn der ländlichen Zufluchtsstätte von Cirey nicht untreu zu machen vermochte. Die beiden Freunde genossen dort friedlich das der Menschheit zugemessene Glück; als der Tod der Marquise diesen schönen Bund löste, bedeutete dies einen niederschmetternden Schlag für Herrn von Voltaire, der seiner ganzen Philosophie bedurfte, um sich aufrecht zu erhalten. Damals, als er mit allen seinen Kräften den Schmerz zu verwinden trachtete, wurde er an den Hof von Preußen berufen. Der König, der ihn im Jahre 1740 kennen gelernt hatte, verlangte dieses ebenso seltene wie überragende Genie zu besitzen; im Jahre 1750 kam Herr von Voltaire nach Berlin.« So schrieb Friedrich der Große über die »göttliche« Emilie.«
Georg Brandes: »Ja, bis zum Tode der Marquise, zehn Jahre lang, hat Voltaire sich bitten lassen, und es waren schließlich recht skrupellose Mittel, die Friedrich II. anwandte, um Voltaire in Frankreich unmöglich zu machen und zur Übersiedlung in das duldsamere Preußen zu zwingen.«
Manfred: »In das vorübergehend oder scheinbar duldsamere Preußen. Verglichen mit Voltaires Übersiedlung nach Berlin war Goethes Übersiedlung nach Weimar eine Augenblickssache; Goethe ließ sich durch keine Frau zurückhalten; ihn hielt auch Lili nicht zurück, von der er kurz vor seinem Tode glauben wollte: »Sie war die erste, die ich tief und wahrhaftig liebte. Auch kann ich sagen, daß sie vielleicht die letzte gewesen.««
Georg Brandes: »Welch erstaunliche Frau muß aber diese Emilie auch gewesen sein!
Tout lui plaît, tout convient à son vaste génie,
Les livres, les bijoux, les compas, les pompons,
Les vers, les diamants, les biribi, l'optique,
L'algèbre, les soupers, le latin, les jupons,
L'opéra, les procès, le bal et la physique.
So schilderte sie Voltaire!«
Ein anderer aus dem Kreise der Umstehenden fragte: »Wie stand es eigentlich mit ihrer Geistigkeit? Sind die Ruhmesworte, die Voltaire und Friedrich ihr spenden, nur die üblichen Verbeugungen vor einer, die sich »freut, wenn kluge Männer sprechen, daß sie verstehen kann, wie sie es meinen«, oder …;?«
Georg Brandes: »Nein, sie war den großen Männern, mit denen sie verkehrte, geistig ebenbürtig, etwa in der Art, wie die große Mathematikerin Sonja Kowalewski ihrem genialen Lehrer Weierstraß ebenbürtig war. Es genügte Frau von Chatelet nicht, sich nach dem Abendbrot, bis die Wachskerzen tief in die Leuchter hinabbrannten, mit Maupertuis, Voltaire und Clairaut über die schwierigsten mathematischen oder physikalischen Streitfragen zu unterhalten, sondern sie fand auch Zeit, physikalische Bücher zu schreiben, Newton zu verstehen und zu übersetzen und sich hinter dem Rücken ihrer gelehrten Freunde um den Preis der Pariser Akademie mit einer Arbeit zu bewerben, die der Voltaires von den Preisrichtern gleichgestellt wurde, und die, wie sich vierzig Jahre später herausstellte – mit ihrer unabhängig ausgesprochenen Vermutung, daß sich die Spektralfarben in ungleichem Grade erwärmen –, der Wahrheit in überraschender Weise nähergekommen ist als die damals überschätzte Arbeit des berühmten Euler.«
Manfred hob Arme und Augen betend zum Himmel und rief in scherzender Inbrunst: »Heilige Pallas!« und dann sprach er mit feierlicher Stimme einige Hexameter aus Goethes »Metamorphose der Pflanzen«:
Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung …;
.............................. Die heilige Liebe
Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf,
Gleicher Ansicht der Dinge, damit in harmonischem Anschaun
Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt.
Das hat Goethe für Christiane gedichtet. Vielleicht etwas trocken; ob er nicht zu einer weniger sinnlichen Frau etwas feuriger hätte sprechen müssen?«
Georg Brandes: »Man täte der göttlichen Emilie unrecht, wenn man ihr Unweiblichkeit oder berechnende Kälte vorwürfe. Sie war trotz ihrer bedeutenden Anlagen ein leidenschaftliches Weib. Der Selbstmordversuch, den sie wegen der Treulosigkeit des Vorgängers Voltaires gemacht hat, ist von den zeitgenössischen Liederdichtern besungen worden. Emiliens Briefe beweisen zur Genüge, daß Voltaire leidenschaftlich, zärtlich und hingebend geliebt wurde. Es war nicht leicht, mit Voltaire unverheiratet verheiratet zu sein. Sie hat viel diplomatisches Genie entwickeln müssen, um ihn vor den Folgen seiner damals recht lebensgefährlichen literarischen Unbesonnenheiten und Eitelkeiten zu schützen, und sie hat sich bitter um ihn gesorgt, wenn er, wie das oft geschah, längere Zeit spurlos verschwand. Es ist kein Wunder, daß im Laufe eines Jahrzehntes ihre Gefühle für ihn sich abnutzten, wiewohl in seinem Herzen keine andere Frau jemals ihren Wert im geringsten zu verdunkeln vermocht hat. Es gibt Hunderte der reizvollsten Äußerungen, in denen Voltaire in gebundener und ungebundener Rede das unaussprechliche Glück, das er Emilie von Chatelet verdankt, auszudrücken versucht.
Esprit, raison, beaux yeux, charmant visage,
Fleur de santé, doux loisir, jours sereins,
Vous avez tout, c'est là votre partage.
Moi, je parais un être infortuné,
De la nature enfant abandonné,
Et n'avoir rien semble mon apanage.
Mais vous m'aimez, les dieux m'ont tout donne.«
Manfred: »So spricht Goethe-Epimetheus über Pandora.
Vergleich ihr das Beste, du hältst es für schlecht.«
Georg Brandes: »Voltaire hat hundertmal ausgesprochen, daß er erst auf Cirey glücklich geworden ist. Selten hat ein Schriftsteller eine Frau so verherrlicht wie Voltaire die Marquise. Man muß in der Tat bis Dante, Petrarca und Boccaccio zurückgehen, um eine so beharrliche und demütige Lobpreisung einer und derselben Frau zu finden. Man muß noch weiter zurückgehen bis zu den Troubadours der Provence im elften Jahrhundert, um diese besondere Verehrung zu finden, den Ausdruck einer Liebe, in welcher das intellektuelle Element das Übergewicht hat. Voltaire war sehr weit entfernt, ein Troubadour zu sein; aber in seiner Vergötterung Emiliens war etwas, was in gerader Linie von der provençalischen Lyrik abstammt.«
Manfred fragte lachend: »Ob nicht vielleicht Voltaire so recht der Mann nach dem Herzen der Frau von Stein gewesen wäre? Sie hat Goethes Unbeständigkeit übelgenommen; in Voltaires Augen hat nie eine Frau Emiliens Wert verdunkeln können. Ist es nicht erfrischend, die Spötter, die Dantes und Petrarcas ewige Liebe mit dem Tode und der Entfernung der Geliebten erklären wollen, durch den liebenden Voltaire zurechtgewiesen zu sehen! Voltaire ist der vollkommene Gewissensehemann. Aber nicht nur seine eheliche Treue, sondern auch seine eheliche Einsicht sollte jeder Liebhaber und jede Liebende, Ehemann oder Geliebter, zum Muster nehmen. Oder ist die Art Voltaires, sich in das Unvermeidliche zu finden, nicht würdevoll und nachahmenswert? Die Bewunderer der Frau von Stein, die den Groll der Verlassenen berechtigt finden, werden sich vielleicht durch Voltaires Verhalten in ähnlicher Lage beschämen lassen. Frau von Stein stand im entscheidenden Augenblick etwa im selben Alter wie Voltaire. Goethe war sieben, Emilie zwölf Jahre jünger als die Partner in der Gewissensehe, die beide nicht nur ältlich, sondern auch kränklich waren.«
Einer der Teilnehmer am Gespräch fragte zweifelnd: »Sie wollen also Goethe und Frau von Chatelet auf der einen Seite und Voltaire und Frau von Stein auf der anderen Seite miteinander vergleichen?«
Manfred antwortete lachend: »Ja! Die Ähnlichkeit der Lage, in der sich Emilie und Goethe angesichts ihrer beiderseitigen Gewissenspartner befanden, ist wirklich verblüffend. Emilie von Chatelet gehörte ebensowenig wie der in Italien erleuchtete Goethe zu denen, welche die heilige Stimme der Natur mißachten und paulinisch-mittelalterlichen Weltuntergangsvorstellungen zuliebe gegen Gott trotzen. Beide waren sich ihrer, durch Sokrates und das Alte Testament klargelegten Philosophen- und Fruchtbarkeitspflichten unwillkürlich bewußt.«
Georg Brandes: »Voltaire lernte die Auffassung seiner Freundin würdigen und brauchte dazu kaum so viele Stunden, als Frau von Stein Jahre bedurfte, um sich in die veränderte Lage zu finden. Als Voltaire bemerkte, daß seine geliebte Wirtin sich dem jugendkräftigeren Saint-Lambert ergeben hatte, grollte er zuerst ebenso bitter wie Frau von Stein, als sie bemerkte, daß Goethe von »der Vulpius ganz abpoetisiert« worden war. Aber Voltaire grollte nur für wenige Stunden; Pferde zur Abfahrt ließen sich in derselben Nacht nicht mehr auftreiben. Bevor der Morgen graute, fand so die schöne Emilie Gelegenheit zu einer bedeutenden Unterhaltung mit Voltaire. Er grollte noch: »Wie? Sie verlangen, daß ich Ihnen glaube nach dem, was ich gesehen habe? Ich habe Ihretwegen meine Gesundheit und mein Vermögen aufs Spiel gesetzt, habe jedes Opfer gebracht – und Sie betrügen mich!« – Sie: »Ich liebe Sie unverändert, aber schon seit langer Zeit beklagen Sie sich darüber, daß Sie krank sind, daß die Kräfte Sie verlassen, daß Sie nichts mehr aushalten. Ich bin darüber sehr traurig; Ihre Gesundheit ist mir wertvoll; es gibt niemanden auf Erden, dem sie so teuer ist wie mir. Sie Ihrerseits haben das lebhafteste Interesse für meine eigene bewiesen; Sie haben die Pflege, die für meine Gesundheit nötig ist, gekannt und gebilligt; Sie haben sie sogar verlockend gefunden und sich daran beteiligt, solange es Ihr Gesundheitszustand erlaubte. Jetzt, da Sie zugeben, daß Sie für mein Wohlbefinden nichts ohne größten Schaden für Ihr eigenes tun können, haben Sie da ein Recht, zornig zu sein, weil einer Ihrer Freunde Ihre Stelle einnimmt?« – Er: »Ach, Sie haben vollkommen recht. Da aber die Umstände so sein müssen, wie sie nun einmal geworden sind, so sorgen Sie wenigstens dafür, daß sie sich nicht vor meinen Augen abspielen.« – Als Madame du Chatelet ihn beruhigt sah, umarmte sie ihn, zog sich zurück und bat ihn, Ruhe zu suchen. Wer da einen Stein auf Voltaire oder auf Emilie werfen zu müssen glaubt, darf nicht übersehen, wie sich Voltaire bereits sechs Jahre vor diesen Ereignissen gegen eine zudringliche Neckerei Friedrichs des Großen verteidigt hat. Der König hatte ihm in einer Weise geschrieben (1742), die Frau von Stein nicht gebilligt haben würde; er schrieb: »Wollen Sie mir einreden, daß Sie seit zehn Jahren mit Frankreichs liebenswürdigster Frau nur von Philosophie sprechen? Sie haben Gefühle, und sie ist nicht von Stein!« Voltaire hat mit rührender Offenheit geantwortet:
Plût au ciel que je l'eusse encore
Ce premier des divins présents,
Ce don que toute femme adore
.. .. .. .. .. .. .. .. ..
»Und nicht nur an Friedrich II. hat Voltaire solche Verse gerichtet, sondern auch Frau von Chatelet hat, sogar schon früher, ähnliche Lieder der Entsagung von ihrem Geliebten erhalten.««
Manfred: »Als eine echt friderizianische neckische Einzelheit im Leben des gernegroßen Friedrich II. ist mir das Bedürfnis aufgefallen, das der König empfand, auch diese Entsagungslieder Voltaires nachzudichten. Es war nach der Schlacht von Kunersdorf, als Friedrich jenen Anfall dichterischer Leidenschaft hatte, der sich aus den Tagebüchern de Catts geradezu als der Anlaß der Niederlage von Maxen darstellt, und der auch des Königs Gedicht an Voltaire hervorbrachte, das mit den Worten schließt:
A cinquante ans on est trop sage.
»Voltaire, an den dies Bekenntnis gerichtet war, hatte längst vorher in seinen Denkwürdigkeiten aufgezeichnet, warum er auf diesem Gebiete Friedrich II. keiner Unbesonnenheit für fähig erachtete. – Als Voltaire Frau von Chatelet an Saint-Lambert abtrat, nicht wie Theseus die Helena an Menelaos, sondern wie Menelaos die Schönste der Frauen an Paris, stand er im selben Alter wie die zu heiterem Verzichten unfähige Frau von Stein; seine liebevolle Freundschaft für Emilie blieb unveränderlich bis zum Tode der Geliebten; daß Goethe der Frau von Stein ihre Humorlosigkeit verziehen und ihr, sobald sie es gestattete, wieder freundschaftlich begegnet ist, zeigt seine Herzensgüte im schönsten Lichte. Aber Voltaire steht, scheint mir, noch schöner da, weil er der Geliebten ein Recht einräumt, das man in Europa und anderen Ländern weiblicher Sklaverei meist den Männern vorbehalten möchte. Voltaire ist der Emancipator der europäischen Frau.«
Die andachtsvolle Stimmung, zu der die bedeutungsvollen Verse Voltaires und Friedrichs II. aufforderten, wurde von einem Journalisten – begabt, aber jung – unterbrochen, der bei Teilen der früheren Gespräche, vorläufig noch stummer, Zuhörer gewesen war; sein Name ist mir entfallen. »Stimmt es nicht traurig,« rief er aus, »die Frauen Goethes mit denen Voltaires zu vergleichen? Man ist immer versucht, Goethe in einem Totengespräche befragen zu lassen: »Mit wem verkehrst du da?« Worauf er weinend antwortet: »Nie sollst du mich befragen.««
Manfred warf ein: »Und der große Friedrich, »eins zwey drey«?« {Verw. auf Anmerkung} Aber der vorige Sprecher fuhr unaufhaltsam fort: »Ich fürchte, wenn man Lili und Frau von Stein, Friederike und Christiane in einen Topf würfe, hätte man noch nichts, was sich an innerem Wert und äußerer Aufmachung vergleichen könnte mit Frau von Rupelmonde oder Adrienne Lecouvreur und sicher nicht mit Emilie von Chatelet, die zugleich schön war und hingebend liebte, Geist hatte und ihre Güter und ihr kleines Fürstentum geschickt regierte. Für den größten Deutschen gab es niemanden als die arme Christiane und vergessene Unbekannte, um die deutsche Frauenehre zu retten. Gewiß konnte Lili Goethes Flucht nach Weimar nicht verhindern, und wenn Friedrich der Große den jungen Goethe statt Lucchesinis nach Berlin gerufen hätte, würde ihn keine Frau von Stein und keine Christiane zurückgehalten haben; es gibt hundert entsagende Charlotten und noch mehr gewährende Christianen, aber nur eine göttliche Emilie, nur eine Adrienne Lecouvreur.« Es wurde gelacht – von den einen, weil sie die Bemerkung treffend fanden, von anderen über die Dreistigkeit des Sprechers.
Manfred lenkte ein: »Vielleicht war Adrienne Lecouvreur weniger unnahbar, als es die schöne Corona Schröter gewesen sein soll, die sich selbst so gut als entsagende Iphigenie gemalt hat; vielleicht war Adrienne auch den »mehreren Lotten« Goethes überlegen, war schöner, welterfahrener, gebildeter, großherziger und wie kaum eine zweite geeignet, gleichzeitig »Stern der höchsten Höhe und Glück der nächsten Nähe«, »meine Schwester oder meine Frau« zu sein. Und doch, wenn Goethe, statt der Lotten, Adrienne gefunden hätte, besäßen wir weder Werther noch Tasso, weder Iphigenie noch die unschätzbaren Briefe von 1776 bis 1788. Da es unseren irdischen Sinnen unmöglich ist, den Glanz der Werke zu ahnen, die wir an Stelle des so Verlorenen dann besitzen könnten, wird mancher die Lotten der Adrienne vorziehen und denken, daß diesmal die zwei grauen Sperlinge auf dem Dache Größeres wirkten, als vielleicht eine weiße Taube in der Hand vermocht hätte.«
Jemand warf ein: »Was hat Voltaire denn Adrienne zu Ehren geschrieben?«
Georges Brandes: »Sie war die große Dolmetscherin seiner Trauerspiele; sind die also nicht ihr zu Ehren geschrieben? An sie persönlich hat er nur wenig gerichtet, aber das Wenige war gut.« Georg Brandes hatte einige Verse im Kopf und teilte sie uns mit.
Manfred: »Es sind Voltaires kleine Gedichte an Personen, von denen Goethe sagt: »Es ist darin keine Zeile, die nicht voller Geist, Klarheit, Heiterkeit und Anmut wäre.««
Georg Brandes: »Das Umfassendste, was Voltaire der Adrienne Lecouvreur persönlich widmete, sind die sechzig Verse der Elegie auf ihren Tod, vielleicht das schönste Gedicht, das er je geschrieben hat. Aber selbst in dieser Totenklage wallt, ebenso stark wie sein Schmerz über die Verlorene, sein Groll über die Schmach, daß der Schauspielerin, wie einst beinahe Molière und später dann wirklich Voltaire selbst, von der Geistlichkeit ein ehrbares Begräbnis verweigert wurde; und das gibt ihm Gelegenheit, sogar diese Elegie ausklingen zu lassen als einen echt Voltaireschen Schlachtruf:
Du Nebenbuhlerin Athens, glückseliges London,
Verjagtest die Tyrannen und die Schmach der Vorurteile!
ein Lied des Kampfes gegen den Aberglauben, ein Kampfgeschrei für die Freiheit der Künste und Wissenschaften, wie sie in England im selben Jahre der Schauspielerin Anne Oldfield ein Begräbnis in der Westminster Abtei mit geradezu fürstlichen Ehren gesichert hatte.«
Ein Zufriedener warf ein: »Auch in dieser Richtung stand Deutschland nicht zurück: Goethe ist in der Fürstengruft begraben worden.«
Ein Schwarzseher entgegnete: »Ja und nein. Goethes Leib ist nicht wie die Leichen der Fürstlichkeiten durch die Rotunde in die Gruft gesenkt worden, das schien den Hofleuten zuviel Ehre. Der schwere Sarg wurde mühselig über eine kleine Treppe ins Grabgewölbe geschafft. Man mußte ihn stürzen und aufrecht tragen. Memento vivere! Memento mori! Goethe ist aufrecht ins Grab gegangen.«
Georg Brandes: »Solche Kleinlichkeit ist um so erstaunlicher nach der Würdigung, die Friedrich der Große der kulturpolitisch gestimmten Totenklage Voltaires für Adrienne Lecouvreur zuteil werden ließ: der König hat das Gedicht selbst in Musik gesetzt.«
Manfred spottete: »Während Friedrich II. keine Gelegenheit versäumte, gegen »Tyrannen« sogar Musik zu schreiben und das freie England zu feiern, notierte der weltreisende Engländer D. Moore über seine Berliner Eindrücke: »Der gewöhnliche Zustand der Sklaven in Afrika ist gegen diese Art soldatischer Sklaverei gerechnet, noch ein Stand der Freiheit.«« Dann fuhr Manfred fort, aber nicht spöttisch: »In meiner Voltaire-Ausgabe steht dicht bei der Klage auf den Tod Adriennes das verwegene »Fest von Bellebat«. Wenn man nicht wüßte, daß Voltaires »Fest von Bellebat« lange vor Goethes »Tasso« geschrieben wurde, möchte man glauben, Voltaire habe Goethe verspotten wollen, etwa wie Goethe im »Vergötterten Waldteufel« einst Herder verspottete, oder wie »Hanswursts Hochzeit« als Posse auf »die Leiden des jungen Werther« gelten mag. Goethe und Voltaire waren etwa im selben Alter, als sie »Tasso« und »Das Fest von Bellebat« schrieben. Aber während sich der dreißigjährige Tasso-Goethe am machtlosesten Hofe Europas um einen Kranz bemühte, der ihm dann von unbedeutenden Höflingen »begrinst« und durch peinliche Vergleiche mit Ariost und Virgil »bezweifelt« wurde, und während die Prinzessin mit ihrem »Hinweg!« den Dichter von sich stieß, triumphierte der dreißigjährige Voltaire im Kreise des französischen Hochadels und wurde von der mächtigsten Frau Frankreichs gekrönt. Die Edelleute hatten sich zur heiteren Feier des Tages zuckerhuthohe Papiermützen aufgesetzt, auf denen die Namen der größten Dichter des Altertums geschrieben standen, und diesen Chor der Huldigungen führte die damals allmächtige Marquise de Prie und krönte den Liebling Voltaire mit dem Lorbeerkranz »vor aller Augen« und versprach ihm gleichzeitig in lachenden Versen – vor aller Ohren: – »encore mieux« unter vier Augen. Aus den Versen des Dankes, die der gekrönte Dichter dann an die einzelnen Teilnehmer der Feier richtet, und aus dem vielfachen Hin und Her der scherzenden Anspielungen spricht eine Stimmung, wie sie anmutiger und verwegener kaum gedacht werden kann.«
Von den Damen, die zuhörten, fragte eine, ob nicht »etwas Süßliches und Frivoles zu finden sei in den zuckerhuthohen Mützen der Marquis und dem zweideutigen Versprechen der Marquise«?
Georg Brandes antwortete: »Wenn ich Sie recht verstehe, gnädige Frau, erheben Sie gegen Voltaire etwa denselben Einwand, den Rousseau erhob, als er Voltaire zurief: »Sag uns, wieviel männliche Schönheit du unserer falschen Feinheit geopfert hast, wie viele große Werke dich der Geist der Galanterie gekostet hat?« Aber wer an der leichten Sicherheit Voltaires Anstoß nimmt, darf nicht vergessen, daß der spartanische Friedrich der Große den Ton dieser Pariser Gesellschaft aufs höchste bewunderte und daß er Voltaires Verkehr in dieser »besten Gesellschaft« als die Quelle des Glanzes rühmt, der über Voltaires Werke gebreitet ist. Wer das bedenkt, wird vielleicht geneigt sein, die Feier des »Festes von Bellebat« als ein köstliches Stück Rokoko zu bewundern.«
Manfred: »Um dieses Kabinettstück Voltaires zu würdigen, muß man sich an die widerliche Roheit erinnern, deren sich Friedrich II. und sein Hof befleißigte. Es ist kaum möglich, an der Zuverlässigkeit der jahrzehntelang Tag auf Tag gemachten Aufzeichnungen des Grafen Lehndorff zu zweifeln. Er berichtet nicht nur über die bekannte abenteuerliche Grobheit, mit der Friedrich II. selbst über seine eigenen Tischgäste herfiel, sondern zeigt, wie auch die Geschwister des Königs sich an plumpen Veranstaltungen ergötzten, die der Schilderungen Grimmelshausens aus dem Dreißigjährigen Kriege würdig sind. Wenn Sie ein preußisches Gegenstück zu Voltaires »Fest von Bellebat« suchen, dann empfehle ich Ihnen folgende Schilderung des Empfanges der Schwester Friedrichs II., Amalie, durch ihren Bruder August Wilhelm im Palaste der Königin am 11. Juni 1756:
»»Der Prinz von Preußen empfängt uns freundlich und führt uns in einen Saal, wo sich unseren Augen ein merkwürdiges Schauspiel darbietet. Es werden nämlich zwanzig Dienstmädchen frisiert und in schöne Kleider gesteckt, um bei einem Fest zu Ehren der Äbtissin von Quedlinburg (Prinzessin Amalie) mitzuwirken …; die Prinzessin tritt in Begleitung des Prinzen unter Trommelschlag und Trompetenschall in das Schloß. Beim Betreten des Saales kommt ihr jene Schar von Damen entgegen; sie machen Knickse und Sprünge zum Totlachen, wobei jede eine große Visitenkarte mit ihrem Namen in der Hand hält. Da gibt es Vicomtessen von Cultendre, Marquisen von Pissenlit, kurz, die komischsten Namen. Nun führt man die Äbtissin in ihre Wohnung, wo sie einen Pot de chambre findet, größer als ein Scheffelmaß, mit der Aufschrift: Ihrer Ehrwürden zum Gebrauch.«
»Die fromme Äbtissin aus Berlin! Dabei schwört der Berichterstatter auf die überlegenen Eigenschaften seiner Fürsten. Nach einer religiös aufgemachten Tafel, bei welcher der hohenzollerischen Äbtissin Amalie »zwanzig mit witzigen Aufschriften – wie ›Hinterbacken der Frau des Lot‹ – beschriebene Schüsseln« aufgetischt wurden, versichert Lehndorff vom Gastgeber: »ich behaupte dreist, daß es keinen liebenswürdigeren Menschen auf Erden gibt als den Prinzen von Preußen«, also Friedrichs II. ältesten Bruder. Friedrichs Schwester Amalie zwar sieht klarer, wenigstens während ihrer gelegentlichen Anfälle schmähsüchtiger Offenheit. Am Schluß ihrer gesalzenen Schilderung des preußischen Hofes, die sie am 23. Mai 1769 der »großen Landgräfin« von Hessen macht, schrieb sie: »um die Wahrheit zu sagen, mit mir angefangen, die ganze boutique taugt nichts.« Selbst der für seine Fürsten schwärmende Graf Lehndorff gibt gelegentlich zu (24. III. 1756): »Die Spottsucht und die Verachtung, die unsere Prinzen ihrer eigenen Nation beweisen, entfremden ihnen die Herzen, die ihnen in Liebe entgegenschlagen.« Und wenn Lehndorff heimlich – Reiseerlaubnis blieb seinen Bitten versagt – nach Dresden fuhr, war er überrascht, daß dort »die Prinzen und die Prinzessinnen wie Privatleute behandelt werden«, und schrieb: »In Dresden sehe ich überall ein heiteres Wesen herrschen, wie man es bei uns nicht findet.« Bei der Roheit des Berliner Hoftones ist es vielleicht nur durch die von Lehndorff angedeutete snobistische »Verachtung der eigenen Nation« zu erklären, daß gebildete Ausländer, wie zum Beispiel die französischen und englischen Gesandten Nivernais und Hotham, in Berlin erzieherisch wirken und dem Grafen Lehndorff oft Worte eingeben konnten wie: »Ich finde, daß das Beispiel des Herrn von Nivernais auf das königliche Haus und auf die Stadt vortrefflich wirkt. Er ist von peinlichster Höflichkeit, und man bemüht sich, ihm nachzuahmen«. Aus dieser snobistischen Provinzlerei heraus ist dann wohl auch zu verstehen, daß Friedrich II., der seine Frau einem Gaste als »meine alte Kuh« vorstellte, dann plötzlich von Voltaires »excellent ton« spricht, wie er es zum Beispiel noch 1783 tat. Es ist fast eine Achtungsverletzung gegen Voltaire oder Goethe, wenn man annehmen muß, der König habe dabei dasselbe gemeint wie Goethe, der zwanzig Jahre später unter den sechsundvierzig Tugenden Voltaires: Ton, guter Ton, Hofton aufführt.« – Etwas später sagte Manfred: »Ich denke mir, das Fest von Bellebat war ein Erlebnis, um das Voltaire von Goethe hätte beneidet werden können. Wenn ich dieses Singspiel lese, muß ich an die Szene der »Italienischen Reise« denken, wo Goethe das »lebendige Publikum« rühmt. »Die Zuhörer riefen Bravo, klatschten und lachten. Wenn man auch vor seiner Nation so stehen und sie persönlich belustigen dürfte. Wir geben unser Bestes schwarz auf weiß: jeder kauzt sich damit in eine Ecke und knopert daran, wie er kann.« Wie das auf »Tasso« zutrifft, an dem Goethe seit 1780 arbeitete, der 1790 erschien und erst 1807 einmal aufgeführt wurde!«
Georg Brandes: »Dann hätte Voltaire von Goethe erst recht um sein Erlebnis bei der ersten Aufführung des »Oedipe« beneidet werden können; Voltaire wurde damals vielleicht noch höher gefeiert als in Bellebat und auf eine Weise, die auch an Auftritte aus »Tasso« zu denken erlaubt. Voltaires »Oedipe« war fälschlich aufgebauscht worden als Verhöhnung des Liebesverhältnisses des damaligen Regenten mit seiner eigenen Tochter.«
Manfred: » »Loterie« nannten es die Spötter.«
Georg Brandes: »Der Regent, der geistreiche Sohn der berühmten Pfälzerin Liselotte, übersah die angebliche Verhöhnung und beklatschte das Stück, das gleichzeitig auch den gegnerischen Adel und »ganz Paris« zu stürmischem Beifall hinriß. Schließlich zeigte sich Voltaire in der Loge des Marschalls von Villars zwischen diesem und seiner schönen Frau, derselben, die der Dichter so leidenschaftlich und unglücklich liebte. Das Publikum rief der Marschallin im Chor zu: »Aber so küssen Sie ihn doch!« Sie tat es unter allgemeinem Jubel, aber dabei blieb es; sie versprach kein encore mieux wie die Herzogin von Prie, und sie gewährte es auch nicht.«
Manfred fragte lachend: »Hier wäre also Voltaires Prinzessin von Este und Frau von Stein?«
Der junge Journalist von vorhin nahm einen neuen Anlauf und rief fast leidenschaftlich:
»Was könnte denn wohl klarer sein? Goethe fehlte Rückhalt an der großen Welt. Weimar war ein Dorf. Er sah »die Welt kaum einen Feiertag, kaum durch ein Fernglas, nur von weitem«, in Italien oder auf Augenblicke in der Nähe Napoleons und der Kaiserin Ludovica. Statt dessen hatte er Karl August und Knebel, schmollte mit den Herders und Frau von Stein und erholte sich später, so gut es ging, in der guten Gesellschaft der böhmischen Bäder; ihm fehlte von Jugend auf Paris und London, der Herzog von Richelieu, Lord Bolingbroke und Friedrich der Große, die Herzogin von Prie, die Marschallin von Villars, die Gräfin von Rupelmonde, Adrienne Lecouvreur und Frau von Chatelet oder wie die nahen Freunde und Freundinnen Voltaires alle geheißen haben mögen. Im Tagebuch des Grafen von Coligny, der der erste Liebhaber der Ninon de Lenclos gewesen sein soll, steht geschrieben: »Durch eine, die ich zum Weibe machte, zum Manne gemacht worden«; mir scheint – wie heißt es in der Registerarie aus »Don Juan«? – in »Deutschland, dem kalten Deutschland« haben die Schönen für ihren größten Sänger zu lange diesen Dienst vernachlässigt und ihn statt dessen bis zum Schwabenalter mit Vorreden aufgehalten!«
Eine junge Bildhauerin unterbrach den Eifer des Sprechers mit einer ausdrucksvollen Handbewegung und den lächelnden Worten: »»Ihr sprecht schon fast wie ein Franzos.««
Eine alte Wiener Gräfin kam ihr lachend zu Hilfe mit den Worten: »Recht so! man darf den Teufel nicht vergessen, den Goethe so beredt sprechen ließ:
Was hilfts nur grade zu genießen?
Die Freud' ist lange nicht so groß,
Als wenn ihr erst herauf, herum,
Durch allerlei Brimborium,
Das Püppchen geknetet und zugericht.«
Der Ball desselben Scherzes wurde noch einmal zurückgegeben, als Manfred antwortete: »Weiß Gott, das ist keine welsche Geschicht!, im Gegenteil: Goethe mußte sich in Welschland von den Folgen des dabei verdorbenen Magens erholen.«
Hier wurden wir zum Abendbrot gerufen, an dem viele der Gäste des Nachmittags teilnahmen, während dessen sich aber die Unterhaltung um andere Dinge drehte.
* * *
Als ich nach dem Abendessen in das Bücherzimmer trat, fand ich dort einige Herren, die des Gespräches von vorher noch nicht müde geworden waren. Der Gedankengang der Unterhaltung, deren Zeuge ich wurde, ist mir noch klar im Gedächtnis, obgleich ich auch hier vielleicht wieder die von den verschiedenen Teilnehmern gemachten Beiträge zum Gespräch leider durcheinanderbringe. Zuerst saßen Georg Brandes und Manfred allein; als ich hinzutrat, hörte ich Manfred: »Nach allem, was Sie uns über Voltaire erzählen, scheint mir kein Zweifel möglich, daß Voltaire schließlich ganz der Liebhaber nach dem Herzen der Frau von Stein gewesen wäre. Seine Liebe war nicht nur treu, sondern klärte sich auch immer mehr zu der von Frau von Stein gewünschten Art von Reinheit oder gar »gereinigten Sittlichkeit«, wie Frau Klara Hofer es als Lobsängerin der Frau von Stein und Kritikerin von »Goethes Ehe« so hygienisch nennt.«
Georg Brandes: »Die Art, wie Voltaire schon früh von seiner überlegenen Liebe spricht und seine Geliebten zu Uranien macht, gibt zu denken. Rousseau wird sicher zuviel Ehre erwiesen, wenn man nur in der »Neuen Heloise« den Ursprung der neuen Mode sucht, die Liebe nicht mehr leichtsinnig, sondern religiös – wenn auch nicht christlich – zu behandeln. Auch gibt es bei Voltaire bereits Beispiele von Naturschwärmerei.«
Manfred: »Es gibt schon welche bei Liselotte von der Pfalz, die aus Versailles schrieb »in meinem Sinn geht Natur über Kunst.« Friedrich II., der französisch sein und scheinen wollte um jeden Preis, kannte keinen schöneren Traum als den vom Hofe Ludwigs XIV. Die aufrichtigere Deutsche, Liselotte von der Pfalz, sehnte sich aus den unsterblichen Parkschöpfungen Lenôtres zurück in die Ungebundenheit der deutschen Wälder oder auf eine Wiese mit einem Bach. Sie und Lafontaine sollten unter die ersten Romantiker und Vorgänger von Rousseau, Werther und Goethes ebenso ›kranker‹, weil romantischer Iphigenie, gerechnet werden.« (Vergleiche oben Seite 31). »Liselotte und Lafontaine fühlten sich nicht wohl in den Kristallpalästen von Versailles. Es sind vielleicht ähnliche Gefühle des Unbehagens, die Rousseau auf die Spitze trieb, etwas von den Leiden, die Werther-Goethe später in adeliger Gesellschaft durchmachte.«
Georg Brandes: »Bei Rousseau war es doch etwas anderes, er war leidend und wußte sich in guter Gesellschaft wirklich kaum zu bewegen, und sein Unbehagen trieb ihn, Kunst und Zivilisation als Laster der oberen Stände zu verschreien und Reinheit und Tugend bei den unteren Ständen zu suchen, in denen er zu Hause war. Bis dahin hatte man in den oberen Ständen mit dem Laster gescherzt. Noch Friedrich der Große hat sich in seiner Jugend seiner Laster gerühmt. Seit Rousseau wurde dann unaufhörlich von der Tugend gesprochen – das begeisterte, besonders die Frauen.«
Später erzählte uns Georg Brandes allerlei wenig Bekanntes von einem der engsten Freunde Voltaires, dem Herzog von Richelieu. Es war sehr erheiternd und paßte in eine, zu vorgeschrittener Stunde geführte Herrenunterhaltung; doch scheue ich mich, an dieser Stelle Mitteilungen darüber zu machen. Ich beschränke mich auf das Wenige, was zur Vermittlung des folgenden Gespräches erforderlich ist. Georg Brandes begann: »Beim Tode des Marschalls von Richelieu fand man auf seinem Tische, noch versiegelt, nicht weniger als fünf Billetts von vornehmen Damen, die an einem und demselben Tage um »eine Stunde seiner Nacht« flehten. Er war damals zweiundneunzig Jahre alt. Er ist der Abgott der Frauen gewesen. Auch nur mit ihm zusammen genannt zu werden, galt schon als eine Ehre. Er war wie bestrahlt von dem Glanz all der schönen und vornehmen Frauen, die ihn geliebt und umarmt hatten. Und er hatte mit seiner Aneignungsgabe von ihnen allen gelernt. Alle hatten sie ihm dienen wollen, sie hatten zu seinem Besten gefühlt, verspürt, beobachtet, erraten, und er hatte von ihnen gelernt, zu erraten, zu beobachten und zu fühlen.«
Manfred: »Was Sie da schildern, könnte man eigentlich auch von Goethe, von Voltaire, von vielen großen Künstlern sagen, die – trotz Goethes Versicherung, daß »die Frauen mehr nehmen als daß sie geben« und daß »die Frauen die silbernen Schalen sind, in die wir unsere goldenen Äpfel legen« – doch oft große gottgesandte Nehmer waren und damit eine heilige Sendung erfüllten und ihrem Volke das Köstliche retteten, was sonst klanglos verloren gegangen wäre. Aber Sie müssen zugeben, daß diese hartarbeitenden Winzer im Weinberge »unserer lieben Frauen« vom Vater im Himmel fast stets schlechter ausgerüstet wurden als der große Don Richelieu.«
Georg Brandes lachte: »Ja, er verband das übermütige Selbstvertrauen des glücklichen Spielers mit dem Takte, den er als Träger eines weltberühmten Namens beherrschte; altfränkische, tollkühne Tapferkeit und große Feldherrntaten mit überlegener Ironie in Ton und Stil, großen Reichtum mit unerschöpflicher Jugendkraft.«
Manfred: »Sie machen einem Lust, an das Kommen des Übermenschen zu glauben! Und wenn Richelieu wirklich das Männergeschlecht, wie einst Ninon de Lenclos die Weiber, von dem Aberglauben des Altwerdenmüssens erlöst hat, will ich das unerfreuliche Bild vergessen, das Macaulay entrüstet von dem schimpflichen Alter und von der früh entwickelten roten Nase des berühmten Herzogs überliefert. Aber Sie müssen mir zugeben, daß bei den großen Geisteshelden, und nicht nur bei Voltaire, »die Kräfte des Körpers die Neigung des bösen Willens weniger glänzend sekundierten« als bei Richelieu, wenn ich hier ein Wort frei verwenden darf, das von Friedrich II. berühmt geworden ist. Ein Richelieu ähnlicherer Goethe hätte vielleicht auch als Zweiundsiebzigjähriger einen freundlicheren Bescheid von Ulrike erhalten, und Gott hätte ihn vielleicht, wie einst den neunzigjährigen Abraham, zum Stammvater eines auserwählten Volkes gemacht. Ein Mann, der alle Gaben des Geistes und des Leibes vereinigt mit allen Vorteilen, die Geburt und Wohlstand gewähren, das wäre erst in Wahrheit ein »Olympier« und der Heiland der Welt; denn (so sagte Goethe zu Riemer): »zur Zeit, als es noch Könige gab, gab es auch noch Götter«. Es scheint, als ob alle Mächte der Hölle verschworen wären, der Welt diesen höchsten Anblick vorzuenthalten. Es ist, als wären die großen Männer, die bisher die Welt erquickten, nicht reife Vollendung der menschlichen Hoffnungen, sondern zufällige Flüchtlinge aus dem Vernichtungskampfe, den tausend Teufel gegen das Menschengeschlecht zu führen scheinen.«
Wir verstanden nicht recht, was Manfred meinte. Er fuhr fort: »Als Wilhelm von Humboldt 1797 wieder einmal Paris besuchte, erzählte ihm dort der alte Benardin de St. Pierre, nicht der Vorkämpfer des ewigen Friedens, sondern der Schüler Rousseaus und der Verfasser von »Paul und Virginie«, »die schöne Bildung der Männer aus Ludwigs XIV. Zeit sey großenteils durch die Schönheit des Königs entstanden, auf den alle Frauen gesehen, von dem überall Bilder gewesen. So seyen, in aller Unschuld, die Kinder eines Dorfs hübscher, das einen schönen Pfarrer habe.« {Verw. auf Anmerkung} Da haben Sie die Romantik in Reinkultur, wie sie unausbleiblich ist, wenn Impotente wie Friedrich II. und Rousseau Helden des Tages sind. Ludwig XIV. und sein Nachfolger waren viel praktischer, als St. Pierre ahnen zu können vorgibt. Aber St. Pierres Zeitgenossen und Nachfahren wurden mehr und mehr in das Netz unpraktischer romantischer Hemmungen eingesponnen, von denen Sankt Pierre träumt.
»Nehmen Sie zum Beispiel Goethe; unter welchen körperlichen, seelischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Hemmungen hatte er zu leiden! Was widerspräche seinem edelsten Wesen mehr als die verhängnisvolle Befangenheit Fremden gegenüber, die ihn bis ins Alter hinein plagte und in das kleine Weimar verbannen half, wo er, der sich nur in Rom glücklich gefühlt hat, er, den Napoleon nach Paris einlud, er, dessen Herz in bedeutende Verhältnisse drängte, als factotum – so nannten ihn Wieland und Herder – und als maître de plaisir eines kleinen Prinzen Straßenbauten überwachen, Rekruten ausheben, sich um die herzöglichen Fußböden, Tapeten und Nachtstühle kümmern und von einer unglücklichen Hofdame Tugendunterweisung entgegennehmen durfte. Durch hohe Geistesgaben und heldenhafte Anstrengungen überwand er den höllischen Unsinn, wie ein genialer Kaufmann die Schmach der bittersten Armut überwindet und die Grundlagen eines Hauses legt, dem tüchtige Söhne Weltgeltung verschaffen. Aber wer waren seine Erben? Nehmen Sie seine geistigen Erben; wer wäre würdiger unter ihnen als Grillparzer, ein im großartigen Sinne bildungsdurstiger Dichter, den aber selbst in der Hauptstadt Biedermeiertum, Reaktion, Zerrissenheit des Reiches erstickten. Denken Sie an Goethes leibliche Kinder; sechs wurden ihm geboren; nur ein Sohn blieb am Leben. Vielleicht hat die Mutter nicht viel getaugt; aber gegen die leibliche Zeugungskraft des genialen Mannes ist nichts bewiesen; Geburtshilfe und Gesundheitspflege waren damals jämmerlich; Goethe ist ja selbst einst den Gefahren der Geburt kaum entronnen. – Sein ältester Sohn, der einzige, der ihm blieb, war unbedeutend, was wiederum nichts beweist. Friedrich II., Napoleon haben ältere Brüder gehabt, nach denen kein Hahn mehr kräht. Die Natur verdirbt verschwenderisch. August der Starke, sagt Friedrichs II. Schwester, hatte 350 Kinder, nur eines davon wurde ein großer Feldherr; nur eine seiner Enkelinnen eine George Sand. Goethe nennt die Frauen die silbernen Schalen, in die »wir« unsere goldenen Äpfel legen; er hatte goldene Äpfel wie die Kalifen des »Westöstlichen Diwans«. Die großen nordindischen Kaiser pflegten vierhundert silberne Schalen mit goldenen Äpfeln zu füllen, und jede stand in einem köstlichen Garten, den der Kaiser eigens für sie gebaut hatte. Die Pracht dieser indischen Frauengärten mit ihren Terrassen und Wasserkünsten ist märchenhaft. Niemand aber hat seinen Frauen märchenhaftere Gärten gebaut als Goethe. – Nur Narren dürfen Goethe, den sie Olympier nennen, biedermeierlich einschränken und sich wundern wollen, daß er nicht aus der Bajadere den Phönix, nicht aus Christiane einen Christus erweckte. Vielleicht sind es großenteils nur Hemmungen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Art, nicht seelische oder leibliche Hemmungen gewesen, die Goethe daran verhinderten, so viele Kinder zu haben wie August von Sachsen? Darunter hätte es wahrscheinlich einige erstaunliche Kerle gegeben! Die Welt ist sehr viel ärmer ohne sie. – Ich habe einen guten Freund in California namens Goethe, er ist Grundstückhändler und verdient viel Geld. Er kann zwar kein Wort deutsch und spricht seinen Namen etwa wie »Geffe« aus; aber er tut viel für die Armen. Ja, er hat Kindergärten und Spielplätze nach amerikanischem Muster in den übervölkerten Städten Indiens und Chinas anlegen lassen.«
Hegemann: »Was wollen Sie damit sagen?«
Manfred: »Daß es nichts schaden würde, wenn es ein paar hundert Goethe gäbe, auch wenn sie nicht alle große Dichter wären. Wo es Adel gab, der diesen Namen verdiente, muß das jus primae noctis eine Einrichtung von großer Bedeutung für die segensreiche Entwicklung des Volkes gewesen sein. In Deutschland hat der Adel dies wichtige Recht kaum besessen; auch sagt Goethe: »Verglichen mit den französischen Rittern erscheinen mir die Deutschen, wie Götz, Frunsperg und so weiter, immer als Bürger und Philister.« Die französische Revolution beginnt mit »Figaros Hochzeit«; sie kennzeichnet den Zeitpunkt, in dem die Frauen des dritten Standes keine Vorzüge mehr in den adligen Herren entdecken konnten. Sobald einmal die »Gleichheits«forderung der Revolution erfüllt war, lohnte es sich nicht mehr, dem Ehemann untreu zu sein; es entwickelte sich »die sogenannte größere Treue der Weiber«, von der Goethe einmal zu Riemer sprach. Schrecklich, wenn diese Treue bei ihnen so einwurzelt, daß die Ärmsten einen Edelmann, wenn er doch noch einmal auftaucht, nicht von einem »Philister« unterscheiden können. Die schöne Krämerin der »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« neigt sich dann nicht mehr tief und wiederholt vor dem Marschall und stellt ihm nicht mehr ihre reizende Bedingung: »was täte man nicht für einen Bassompierre?« Dann wird Goethes Anklage wahr: »Weiber haben keine Ironie, können nicht von sich selbst lassen. Daher ihre sogenannte größere Treue, weil sie sich selbst nicht überwinden können, und sie können es nicht, weil sie bedürftiger, abhängiger sind als die Männer.« Charlotte von Stein, Christiane, Lili und Ulrike sind recht eigentlich abhängige, versorgungsbedürftige Frauen. Gräfin Rupelmonde, Adrienne Lecouvreur und Emilie von Chatelet sind unabhängige Geberinnen. »Meine dargestellten Frauencharaktere sind alle gut weggekommen«, sagte Goethe zu Eckermann, »sie sind alle besser, als sie in der Wirklichkeit anzutreffen sind.« Mit »bedürftigen, abhängigen Weibern« ist die Liebe ein langweiliges Geschäft. Welcher »Olympier« selbst möchte eine Bedürftige, wenn er es vermöchte, zwingen
»daß sie ihr werk willfährig wieder treibt:
den leib vergottet und den Gott verleibt?«
wie das einer der größten Dichter der Deutschen von den Gesandten Gottes kraftvoll gefordert hat.«
Thomas Mann und Lytton Strachey kamen von der Terrasse herein und gesellten sich zu uns. Manfred lud sie näher und erläuterte: »Wir sprechen von Voltaire, Goethe, Friedrich dem Großen und den Frauen, und« – er machte eine umfassende Handbewegung – »von verwandten Fragen.« Die Unterhaltung, die sich entfaltete, durchmaß unbeschwert weite Gefilde und verglich ferne Größen.
Georg Brandes machte schließlich einen Versuch, zusammenzufassen und zu einem der Ausgangspunkte zurückzukehren: »Man darf auch von Goethe nicht zuviel Beweglichkeit, Fruchtbarkeit und – »uxoriousness« verlangen; selbst wenn er nicht wie Voltaire die letzten fünfzig Jahre seines Lebens einer einzigen Geliebten treu geblieben ist. Auch ein deutscher Schriftsteller ist schließlich ein Kämpfer, ja, Goethe sagt: ein Märtyrer. Es schickt sich nicht für einen Soldaten, verheiratet zu sein. Voltaire wurde immer mehr Soldat und Missionar. Nur die Wahrheit war schließlich noch Gegenstand seines Verlangens, nur Menschlichkeit das, was er pries und verehrte. Die Gerechtigkeit war seine einzige Braut geworden und Berühmtheit die einzige Geliebte, mit der er reiste und lebte.«
Lytton Strachey: »Und mehr als das! Als Frau von Chatelet starb, war Voltaire zwar schon der berühmteste Mann Europas, aber es berührt eigentümlich, wenn man sich überlegt, daß sein damaliger Ruhm fast ausschließlich auf Leistungen beruhte, die durchaus vergänglich waren, und daß wir uns seiner, wenn er damals gestorben wäre, nur als eines überschätzten Dichters und eines vielgewandten, verschlagenen Mannes erinnern würden. Die ersten sechzig Jahre seines Lebens waren für ihn nur eine Lehrzeit für die vierundzwanzig Jahre seines machtvollen Greisenalters, in dem er sich zum geistigen Meister Europas machte, wie es seit dem Zusammenbruch des römischen Kaiserreichs nur Bernard von Clairvaux und Erasmus von Rotterdam im selben Maße gewesen sind.«
Manfred: »Die Frauen mögen seinem Alter fern gewesen sein, aber ein Glanz aus jungen Tagen durchleuchtete die Nacht.«
Thomas Mann: »Für Voltaire mögen Sie versuchen, die Frauen zu retten, aber für Friedrich den Großen, von dem wir heute nachmittag ausgingen, wird es Ihnen nicht gelingen. Offenbar wurde Friedrichs Männlichkeit von dem weiblichen Gegenpol nicht in der üblichen Weise angezogen. Sein Begriff von Soldatentum, asketisch überhaupt, war antifeminin in dem Grade, daß es die Weichheit von Liebe und Ehe ausschloß. Er wollte nicht, daß seine Offiziere heirateten; sie sollten Kriegsmönche sein wie ihr König. Im Jahre 1778 war unter den vierundsiebzig Offizieren eines Dragonerregimentes nicht einer verheiratet.«
Manfred, der wohl wie ich an unsere frühere Unterhaltung über eine verwandte Frage {Verw. auf Anmerkung} denken mußte, spottete: »Der Weiberhasser Friedrich wollte seine Offiziere ehelos; der unvermählte Nietzsche fordert die Ehelosigkeit der Philosophen; Herr Brandes empfiehlt den Soldaten und Missionaren Ehelosigkeit; Mr. Strachey rühmt die Großtaten des Junggesellen Voltaire: und doch hatte der große Soldat Achilles stets ein Mädchen in seinem Zelt; und doch ließ sich der große Heidenmissionar Paulus durch seine eigenen ehefeindlichen Lehren nicht irremachen, sondern erhob für sich und seine predigenden Genossen Anspruch darauf (1. Korinther 9), eine christliche Schwester als Frau mit auf Reisen nehmen zu dürfen; und doch predigte Plato nicht platonische Liebe, sondern die leibliche Fruchtbarkeit der Philosophen und Könige.
»Mir bleibt Voltaire bis zu seinem Tode der Prophet der »Geheimnisse« der Frau von Rupelmonde, der Adrienne Lecouvreur und der Frau von Chatelet. Die Frauen, die ihn geliebt haben, waren würdig, Pandora genannt zu werden, und er durfte mit Epimetheus sagen:
Was hab ich zu verlieren, da Pandora floh.
»Wie der greise Sophokles, wie Goethes »Mann von fünfzig Jahren«, genoß so Voltaire als Greis »einer löblichen, bequemen Freiheit«. Diese Freiheit war Goethe nicht beschert. Der Tod Werthers hat ihn nicht von der Liebesqual erlöst; ebensowenig war er Epimetheus, denn es hatte für ihn keine Pandora gegeben. Auch seine Helena, wie die Fausts, war ein Schemen. Er litt auch als Greis noch schwer an unglücklicher Liebe. Byrons greisem Dogen Marino Faliero gehört die junge Angiolina aus freier Wahl. Einem so wahrhaft königlichen Manne zu dienen, und wäre es wie Abisag dem König David oder gar Maria dem Heiligen Geist, ist den Erwählten königlicher Beruf. Wenn etwa die deutschen Frauen Goethe sein Leben lang nur als mehr oder weniger »gute Partie« abgeschätzt haben …;«
Hegemann: »Was dann?«
Manfred: »Ich möchte nicht unhöflich sein.«
Thomas Mann: »Und Friedrich der Große?«
Manfred: »Der war vielleicht wie die deutschen Frauen: Opfer eines …;«
Manfred zögerte und Thomas Mann ergänzte: »... eines königlichen Berufs!«
Es war spät geworden, und wir wünschten uns gute Nacht. Als ich mir, auf meinem Zimmer allein, noch einiges über den Verlauf der Gespräche des Tages aufschrieb, erfüllte mich etwas wie Schmerz. Angesichts der Frauenbilder, die in den Gesprächen aufgetaucht waren, glaubte ich einen Gegensatz zwischen tiefer Armut und überquellendem Reichtum zu erkennen. Dazu erinnerte ich mich folgenden Wortes von Manfred: »An den Folgen dieser furchtbaren Armut, die für den in keinem Volksleben wurzelnden Friedrich II. verhängnisvoll wurden, wäre auch Goethe vielleicht geistig zugrunde gegangen, wenn er nicht – stärker als Friedrich – vermocht hätte, durch wahrhaft heldenhaftes Aufbieten von nimmermüder Geduld, von seelischem Feuer und von nie versagender Einbildungs- und Nachahmungskraft das Nichtige seiner Umgebung unablässig umzudichten und auf eine Höhe zu heben, in der geistiges Leben möglich ist. Das von Goethe geschaffene (besser: das von ihm gebildete, das heißt eingebildete) Hochland lag hoch über dem deutschen Tieflande und besonders fern dem geprügelten Preußen Friedrichs II.«
Die Unterhaltung hatte ein kleines Nachspiel, als mich Manfred an einem der folgenden Morgen im Garten fand und fragte: »Worüber so nachdenklich?« Ich entgegnete: »Vielleicht über Friedrich den Großen als Liebhaber.«
Manfred: »Der »liebe kleine Held« tut Ihnen leid? Er war gar nicht so einsam; er hatte seinen Fredersdorf.«
Ich bat, nicht wieder mit Verdächtigungen anzufangen. Manfred lachte: »Um Himmels willen, nicht doch! Nicht jeder hat die Freunde, die er verdient; aber ein Friedrich hat große Auswahl und wählt aus ungehemmter Wahlverwandtschaft genau, was ihm zusagt. Der tranig-geduldige Fredersdorf ist die glückliche Ergänzung des aufgeregten, bissig nach Beifall schnappenden Königs. Mit dieser erfrischenden Mischung von Essig und Öl mußte aller preußische Salat genossen werden.
»»Friedrichs Hang zu verletzendem Spott« …; vertrieb »einen Freund nach dem andern …; Wie muß der König darunter gelitten haben!« so jammern die Fridericologen. {Verw. auf Anmerkung} Aber Fredersdorf blieb ihm treu bis in den Tod, und der sonst so ungnädige König blieb ihm treu.
»Und es war nicht nur Eigennutz, die diesen einfachen Lakaien zum Ausharren bewogen, bis er »geheimer Kammerier« und Besitzer von Rittergütern, ja recht eigentlich der Innenminister Preußens wurde, wie etwa Eichel der eigentliche Außenminister war. Ja, Fredersdorf erzwang sich sogar die Erlaubnis zu heiraten. Die Friedrichanbeter klagen, daß »zwischen dem Könige und Fredersdorf nirgends Berührungspunkte auf geistigem oder eigentlich künstlerischem Gebiete zutage treten, trotz des Kämmerers Tätigkeit in des Königs Theaterangelegenheiten und bei der Besorgung von Kunstwerken«. Es wird gar von einer »unüberbrückbaren Kluft auf geistigem Gebiete« gefaselt. Wäre eine derartige Kluft – statt innigste Ergänzung bis zum Gleichklang der Seelen – »auf geistigem Gebiete« vorhanden gewesen, so wäre sie völlig überbrückt worden durch die Blutsverwandtschaft: beide hatten »Hemeroiden«, von deren Entwicklung und Behandlung sie sich gegenseitig nimmerendende, fesselnde Geschichten erzählten. Es kommt oft vor, daß Kammerdiener sich für die Eingeweide ihrer Herren begeistern, aber es ist mehr als rührend, wenn man immer neue Briefe findet, in denen der große König sich ums Gedärm seines Kammerdieners sorgt. Immer wieder fleht der König seinen Lakaien an: »habe nuhr gedult! deine jetzige zufälle Komen von die Hemeroiden …; gottbewahre Dihr, habe nuhr noch ein paar tage gedult, setze Dihr auf einen Stuhl und lasse Dihr den Wrrassen (Dampf) von der warmen Milch an die Hemeroiden an-gehen, das fleget sehr zu helfen. und braf niederschlagende Sachen genomen! gottbewahre Dihr! Fch«
»Das war im September 1753. Schon ein Jahr vorher hatte die deutsche Kaiserin eine Lehrkanzel für deutsche Beredsamkeit errichtet und hatte die germanisierende Kraft ihres Reiches dadurch bewiesen, daß sie dem deutschgebildeten Slovenen Popowitsch, als einem tüchtigen Vorkämpfer deutschen Sprachwesens, den Auftrag erteilen konnte, eine deutsche Sprachlehre für die Schulen des Landes zu verfassen. Das Buch erschien 1754; Friedrich II. hat nichts daraus gelernt. Noch am 5. Juni 1755 schrieb er seinem Herzensfreunde Fredersdorf: »Du Könst Dihr auf mihr verlassen, daß ich nicht mehr Sorge vohr mihr haben könte, wann ich krank wäre, als vohr Dihr! …; Nach einem genauen exsamen Deiner umbstände findet sich, daß du geschwihr in die prostraten hast …; hier-zu Komen die Hemeroidal-Krämpfe …; diese bewegungen – wegen der Nähe des Mastdarmes an die prostraten – machen Dier alle Mohnt gegen d. 14ten entweder retension d'urine oder fibers …;«
»Es ist sicher rührend; der König, der fast an jedem Tag seiner sechsundvierzigjährigen Regierung Soldaten seines großen Heeres prügeln ließ, bis ihnen die blutigen Fetzen vom nackten Leibe hingen {Verw. auf Anmerkung} – ganz zu schweigen von den Hunderttausenden, die er schmählich unter die unfruchtbare Erde seiner Schlachtfelder brachte – er tat Buße, indem er einem Auserwählten aus diesem gemarterten Heere – Fredersdorf war ursprünglich gemeiner Soldat – die Gedärme betreute. Lächerlich, den innigen »geistigen Zusammenhang« zu leugnen. Immer wieder versichert der König seinem Liebling: »man mus wie mit einen Kindt mit Dihr umgehen« …; »gehestu zu frühe aus, So ligstu wieder 2 Mohnaht über den haufen!« …; »ich habe mihr So vihl mühe gegeben, Deine Krankheit aus-zu-Studiren« …; »wann man Dihr Könte in baumwolle verwahren, So währe es noch nicht genug.« Aber es ist nicht etwa nur des Königs Wunsch, seines Lieblings Krankheit aus-zu-Studiren und zu pflegen. Nein, er erzählt ihm ebenso gern und ausführlich von seinen eigenen Beschwerden. So zum Beispiel am 9. März 1747: »Weillen Du alle meine Umstände wissen wilst, so mus Dihr sagen, daß viehl Hipoconderie in Meiner Kranckheit ist. die linke Seite unter den Riben hinterwertz-zu Macht mihr das meiste zu thun. die Nihren Seindt viel Schuldt; und dan-unt-Wan dann Schwilt die Miltz auf, dann tuht mir der lincke arm So weh, als wann ich einen Flus daran hätte, und dann Kömtz mihr dan-untwan, als wenn ich Sticken wolte, und des Nachts Eben-so. Der Urin hilft mihr nicht anders, als wenn ich ihm Dick lasse, daß Sediment darein ist. die luf aber und bewegung tuht mihr guht. wann mir der tobe Schmertz in der Seiten Stark wirdt, dann mus ich alles Weck-brechen …;« und so weiter.
»Da Fredersdorf, dem dieses und vieles Ähnliche erzählt wurde, kein Arzt war, darf man nicht zweifeln, daß ein wahres Freundschaftsverhältnis zwischen ihm und dem leidenden Könige bestand, es sei denn, man wolle annehmen, daß sich die beiden Herren nur wie alte Weiber durch ausführliche Erzählungen ihrer Leiden die Zeit vertrieben. Aber es war nicht nur die Lust, sich gegenseitig ihre körperlichen Leiden zu erzählen, die diese Geistesverwandten verband. Sie hatten noch tiefere Geheimnisse zusammen: Fredersdorf und sein aufklärerischer König rangen gemeinsam um die Kunst des Goldmachens. Und auf diesem Gebiete war Fredersdorf der geistige Führer des Königs, der durch seinen Umgang mit allerlei »Freigeistern« anfangs ein wenig für die Alchimie verdorben war und erst allmählich unter dem Einflusse seines kongenialen Kammerdieners zu den Wunderwirkungen des Steins der Weisen und des »blutigen lams« Vertrauen faßte. Fredersdorf errichtete für die sich herzudrängenden Schwindler und Schwindlerinnen große Laboratorien in Berlin und Potsdam, und des Königs Erwartung wurde aufs höchste gespannt; mit seinem weiten staatsmännischen Blick gedachte er, die kriegerische Politik Preußens durch die neue Goldquelle beeinflussen zu lassen. Im September 1753 schrieb er darum an seinen getreuen Fredersdorf: »Was du mihr von der Frau Nothnagel gesaget hast gibt mihr würklich hoffnung; und Glaube ich, wann die letzte probe goldt ist, daß man darauf Staht machen Kan. ich denke, daß dieße Woche die Sache Clar werden mus. wann Du was davon hörest, So schreibe mir doch, denn auf die grentzen (das heißt in der auswärtigen Politik) fangen die umbstände wieder an verworren zu werden. gott bewahre Dihr!« und ein andermal: »wann wohr die frau goldt Machen Solte, So schicke Keine andere posten in der Müntze! und darbei geschriben, ich häte das golt vohr mihr Komen lassen. So kan keiner uns in die Carten Kuken!« Auch da ganz der große verschwiegene Skeptiker, Menschenkenner und Praktiker. Es ist derselbe weitsichtige und vielgelehrte Landesvater, der es verschmähte, der epochemachenden Entdeckung des Zuckergehaltes in der Runkelrübe irgendwelche Beachtung zu schenken.«
Hegemann: »Sind Sie nicht wieder ungerecht und verlangen von dem alten König Verständnis für das Denken eines jüngeren Geschlechts?«
Manfred: »Der Chemiker Andreas Marggraf machte seine Entdeckung im Jahre 1745, acht Jahre bevor der große König beinahe oder wirklich das Goldmachen erfand.«
Hegemann: …;
Manfred: »Wissen Sie, wo Marggrafs große Entdeckung gemacht wurde?«
Hegemann: »Nein.«
Manfred: »Nicht in Dresden, Wien oder Paris, sondern in Berlin, in der Hofapotheke des großen Königs. Es ist vielleicht deswegen, daß Marggrafs wichtige Entdeckung gar keine praktischen Folgen hatte. Auch seine wichtigen Beobachtungen über den Alaun wurden nicht genügend beachtet; der Gold-König lebte eben länger als Marggraf.
»Und, weiß der Kuckuck, warum sollte sich der große König um die altbackene Chemie kümmern (der Chemiker Marggraf war älter als er), die vielleicht nur die Zuckerausfuhr begründen und seinen Handelsgesellschaften aus dem ewigen Bankerott helfen konnte, wenn doch die neue königliche Alchimie das Gold bald zentnerweise und bar in den preußischen Kriegsschatz strömen zu lassen versprach? In den Tagen seines Goldrausches, im September 1753, schrieb der König an Fredersdorf: »Ich bite Dihr, Schreibe mihr doch, ob das stük, was du mir vergangen (neulich) gewisen (gezeigt) hast, würklich goldt geweßen ist, und ob die Frau gewisse meinet, Mohntag einen Centener zu machen.« Dann wurde der an schnelles Handeln gewohnte König ungeduldig oder schöpfte Verdacht, sein Freund Fredersdorf könne die für Preußens Heil wichtige Entdeckung dem sorgenden Landesvater unterschlagen. Friedrich der Große schrieb darum einen zweiten Mahnbrief, in dem es heißt: »schreibe mir doch Mohntag, ob der Centener Wahr ist. wohr das ist, so werde alles zur augmentation (Herstellung im Großen) so veranstalten, daß ich Künftig frühjahr den anfang machen Kan.«
»Es handelte sich beim ersten Centener also nur um eine Vorbereitung zum Anfang, und da der geniale Friedrich nicht leicht fehlgriff, wird es an der Fortsetzung nicht gefehlt haben. Man darf daher sicher damit rechnen, daß Friedrichs später ausgesprochene Zweifel an der Goldmacherkunst nichts als Beweise für die äußerste Verschlagenheit des großen trompeur et demi sind, mit der er geschickt das von ihm selbst ausgesprochene Ziel erreichte: »so kan keiner uns in die Carten kuken!« (Vgl. oben S. 289.)
»Später allerdings schrieb Friedrich der Große: »Ich ziehe unsere Einfachheit und unsere Armut den Reichtümern vor« (vgl. oben S. 216). So darf man denn annehmen, daß er sein Geheimnis des Goldmachens absichtlich mit ins Grab nahm und daß er vielleicht überhaupt keinen Gebrauch davon machte, es sei denn, daß er vielleicht die zweiundzwanzig Millionen Taler {Verw. auf Anmerkung}, die er gleich nach dem Siebenjährigen Krieg für sein »Neues Palais« ausgab, und die hohen Pensionen, die er seinen Goldmachern bezahlte, aus dieser einwandfreien Quelle bestritten hat. An seinen Alchimisten Drop allein zahlte er mit achttausend Talern viermal soviel, als er dem schon berühmten Winckelmann zubilligen wollte; ja sogar mehr als an Voltaire, der damals gerade den Sekretär der Akademie Friedrichs II. »in einem von Bosheiten strotzenden Briefe ersuchte, ihn aus der Liste der Mitglieder zu streichen«.« (Vgl. Koser, I, 524.) »Ob Frau Nothnagel, welcher Friedrich der Große auch ein »Patent« verliehen und befohlen hatte, sie solle zu seinen alchimistischen Besprechungen »in Mans-Kleidren«, kommen, nicht wesentlich mehr erhielt als Voltaire, der kein Gold machen konnte, und selbst mehr als Drop, ist schwer festzustellen, da der verschlagene König gelegentlich Befehl gab, Rechnungen zu verbrennen. {Verw. auf Anmerkung}
»Bezeichnend ist, daß Friedrichs »eigene Lumpenhunde« auch hier wieder (vgl. oben S. 79 und 233 f.) »über den großen Menschen raisonnieren« und zu verstehen geben, der große König habe das Geheimnis des Goldmachens schließlich doch gar nicht entdeckt. Da aber alle Handlungen Friedrichs, und wären es auch mißglückte Bemühungen Gold zu machen, immer Beweise für seine überragende Größe sein und Stoff für den »Panegyrikus alle Jahre« (vgl. oben S. 233 f.) liefern müssen, haben sich Friedrichs »Lumpenhunde« auch hier eine verschmitzte Deutung ausgedacht. Friedrichs Versuch, – so erklären sie – mit Hilfe seines kongenialen Kammerdieners und der ebenbürtigen Frau Nothnagel und dem »blutigen Lamm« Gold zu machen – statt sich um die damals wissenschaftlich ernstgenommenen Bemühungen hervorragender Chemiker wie Marggraf zu kümmern – beweist seine geniale Vorahnung der Elektronen- und Atomspaltungstheorie des zwanzigsten Jahrhunderts, welche die Herstellbarkeit des Goldes in den Bereich des Denkbaren gerückt hat. Friedrichs Entschluß, mit Frau Nothnagel Gold zu machen und die preußischen Finanzen aufzubessern, ist also gar nicht lächerlich. Im Gegenteil, die Verehrer des großen Königs versichern: »Wir sehen in diesem Entschluß, den Friedrich seiner eigenen Neigung zu Skepsis und Mißtrauen und seiner entsetzlichen Angst, ›vohr der gantzen Welt ridicul‹ zu werden, abringen mußte, geradezu eine große sittliche Tat! Wenn je, so war er hier der ›erste Diener seines Staates‹!« {Verw. auf Anmerkung}
»Sie verstehen, Voltaire ließ sich durch die rothaarige Venus von Rupelmonde religiös begeistern (vgl. oben S. 259), Goethe ließ sich durch Frau von Stein zu »gereinigter Sittlichkeit« emporheben (vgl. oben S. 276), und dem großen König gelang mit Hilfe der Frau Nothnagel »eine große sittliche Tat«!«
Dann schien Manfred nachzudenken, und als er wieder begann, klang seine Stimme etwas tiefer: »Nothnagel? »Der von Göttern du stammst, von Gothen oder vom Kothe«, schrieb Herder an Goethe, von dem wir lernten, daß »der Eigenname eines Menschen nicht etwa wie ein Mantel, der bloß um ihn her hängt, sondern ein vollkommen passendes Kleid ist«. Ist es nicht ergreifend und muß es wenigstens einen Deutschen nicht geradezu religiös stimmen?: sein großer König, den »Lumpenhunde« der Französelei, Aufklärerei und beschränkter Adelsvorurteile bezichtigen, nimmt in der großen Stunde der Not und der »sittlichen Tat« dann doch nicht zu einer Marquise de Cultendre (vgl. oben S. 272), sondern zu einer Frau aus dem Volke, aus seinem Volke, zu einer Deutschen Zuflucht. Er »nimmt seinen Recours an Madame Nothnagel«, um mit Worten zu sprechen, die Friedrich II. selbst am fünften Geburtstage Goethes geschrieben hat. Es ist der echteste, der sittlichste Friedrich, der Frau Nothnagel »in Mans-Kleidern« zu sich befiehlt, um mit ihr, fern von dem Aufklärungswahn des endlich verbannten Voltaire, in die Tiefen gotisch mittelalterlichen, deutsch romantischen Geisteslebens hinabzusteigen, faustische Retorten und Hexenkessel brodeln zu lassen und »das Menstrum von den Grünen löwen, so den Drachen im Feüer zerrissen hat, in den Kolben zu tun«, wie es zwischen den alchimistischen Geheimzeichen eines noch erhaltenen Goldrezeptes des königsvertrauten Fredersdorf heißt. Not bricht Eisen und Not lehrt beten. Schon der Name der Frau Nothnagel erweckt gralsburgenhafte Passions-Erinnerungen. Und da der Grüne löwe und das blutige lam, von dem Friedrich der Große und seine Rezepte sprechen, gleichbedeutend ist mit dem »Großen Elixier« und dem »Stein der Weisen«, die nicht nur höchste Tugend, sondern auch die ewige Seligkeit verbürgen, so ist Zweifel kaum mehr berechtigt, daß Frau Nothnagel, diese preußische Sybille, diese heilige Hexe und Hebamme preußischer »Sittlichkeit« auch die große Seele des Religionsspötters Friedrich in den frommen Himmel des zweiten Faust gerettet hat. Wie der geläuterte Weise dann den Schätzen seiner Goldmacherkunst entsagt: »Ich ziehe unsere Einfachheit und Armut den Reichtümern vor«, das ist wahrlich »eine sittliche Tat« von echt friderizianischem Ausmaß!«
Manfreds Stimme war während seiner letzten Ausführungen immer tiefer und feierlicher geworden, und ich bin mir heute noch nicht ganz klar darüber, ob ihn plötzliches Verstehen für ein ihm fremdes aber tiefes Volksleben seelisch ergriff oder ob er aus freundschaftlicher Rücksicht für mich ein unstatthaftes Hohngelächter im Halse erwürgte.