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Vorwort

 

Wir Deutschen, wenn wir uns als Volk ansehen, haben uns dieses Königs wenig zu erfreuen gehabt, ja keiner hat uns so sehr geschadet, nicht bloß scheinbar, sondern wirklich.

Ernst Moritz Arndt, 1805 (über Friedrich den Großen)

 

Cromwel décapitait son Roi sur un échaffaud …; cruel envers son Roi, il gouverna sagement sa nation. Friedrich der Große (in »De la litérature allemande, ses défauts qu'on peut lui reprocher …; et par quels moyens on peut les corriger«)

 

Ἐν μύρτου
κλαδι τὸ
ξίφος φορήσω

Anfang eines altgriechischen Liedes auf Harmodios und Aristogeiton

 

Thyrannenmord oder Königsopfer waren thenern und Römern, Schweizern und Engländern, Franzosen und Amerikanern unentbehrliche Staatsaktionen in ihren völkischen Freiheitserlebnissen, deren internationale Wirkungen noch heute mächtig sind. Friedrich der Große sprach vom »freien« England; er sprach nicht vom »freien« Preußen, aber er erklärte vor seinem Tode, wie von Ekel erfüllt, er sei müde, über Sklaven zu herrschen. Vielleicht muß jedes Volk, das vom »Alten Fritz« als frei geachtet werden möchte, ein Königsopfer bringen.

Zum blutigen Abschlachten von Tyrannen und Cäsaren, sei es durch Meuchelmord oder auf feierlichem Gerüst, fand sich in Deutschland selten mehr Hand oder Herz, seitdem der Enkel unseres größten Friedrich, der letzte Staufer, auf dem Schafott verblutete, und seit es dem sagenhaften Schützen Geßlers vor einem deutschen Kaisermörder grauste. Vielleicht ist jeder Deutsche (und dächte er so königsfeindlich, wie Fichte sich manchmal geäußert hat Fichte: »Ein Fürst soll nicht sein«. Oder: »Pflichten der Fürsten? Ihre erste Pflicht wäre die, in dieser Form nicht da zu sein«.), im tiefsten Grunde seines Herzens dem letzten Wilhelm freundlich und dankbar gesonnen, weil der anspruchslose Abgang dieses Monarchen das deutsche Volk vor tyrannenmörderischen, standrechtlichen oder halsabschneiderischen Humorlosigkeiten bewahrte, wie sie in deutscher Luft nur von romantischen Räubern (in tyrannos!), überreizten Jünglingen und niedrigen Verbrechern begehrt werden. Ein König auf dem Schafott ist seit St. Helena eine Albernheit, für die sich heute die Genußfreude englisch-puritanischer Dickköpfe und französischer Marktweiber nicht mehr finden sollte, und in Deutschland fehlt das Verständnis für jene alte russische Staatsweisheit, welche die »durch Meuchelmord gemäßigte Despotie« empfiehlt, weil sie wie Graf von der Pahlen als Mörder Pauls I. und wie später Bismarck überzeugt ist, »daß die Eier zerschlagen muß, wer ein Omelett haben möchte«. Die sonst nur noch vom Hörensagen bekannte »hohenzollernsche Schlichtheit«, mit welcher der Letzte das Opfer seines Throns brachte, entspricht getreu der Art, wie sich 1738 der Soldatenkönig nach dem damals republikanischen Holland – er schwärmte für die republikanische Verfassung – zurückziehen wollte, um dort als »freier Bürger« zu leben. Sie entspricht auch getreu der Art, wie der große Friedrich sich 1759 ins Privatleben zurückziehen wollte, statt die Selbstmorddrohungen zu verwirklichen, mit denen er die Rührseligen unter seinen Bewunderern zum besten gehalten hat. Die zollernsche Schlichtheit von 1918 hat – nach links und rechts – den Romantikern der blutigen Gebärde eine Nase gedreht, und das Volk der Dichter und Denker darf sich seine »Freiheit« (wenn es wahr ist, daß politische Freiheit durch »Königsopfer« erkauft werden muß) durch ein königliches Opfer viel ernsterer, viel vergeistigterer Art erringen als durch das Vergießen von Blut, dessen königliche Opferwürdigkeit im guten und bösen Sinne zu vielen zweifelhaft ist. Wie feierlich oder wie schlicht die Könige von 1918 ihren Thronen und Kronen entsagen mochten, ist fast belanglos, denn hinter diesen leicht Entsetzten stehen, schwer entsetzbar und bei uns vielleicht unersetzlich, die großen Präger wahrer Königswürde, deren Unantastbarkeit zu bezweifeln keinem Deutschen leicht wird.

Als der nächste und darum größte der ganz Großen und vielleicht Unersetzlichen liegt uns Friedrich der Zweite von Preußen am Herzen. Das Königtum der Deutschen wird offen oder heimlich leben, solange ihr Glaube an ihren »großen König« lebt, an diesen klar blickenden, nüchtern, schnell und richtig urteilenden, schnell und treffsicher handelnden, vergeistigten Tatmenschen und philosophierenden König, den uns der Zeichenstift Adolf Menzels glaubhafter gemacht hat als der ungeschicktere Griffel der preußischen Geschichtschreiber. In dem erhabenen »Philosophen von Sanssouci« verwirklichte sich mehr als der Traum eines Volkes oder eines Jahrhunderts. In ihm verwirklichte sich eine der heiligsten Hoffnungen der Jahrtautausende und der Welt; er gilt uns als die Vereinigung von König und Philosoph, wie Plato sie gefordert und wie das Papsttum sie vergeblich versucht hat. Friedrich der Große, der Wahrheiten nicht gern anders als spottend vorbrachte, hat gelegentlich darüber gescherzt, daß er nicht nur der König, sondern auch der oberste Kirchenherr und Papst seiner Länder sei. Solange seine Preußen ihn und seine Nachkommen oder Geistesverwandten dieser umfassenden Machtvollkommenheit im höchsten Sinne würdig glauben, steht die Monarchie im Herzen Deutschlands gesichert, auch wenn das Vaterland darüber zugrunde gehen sollte. Andere Völker mögen gelernt haben, ohne »Großen König« politisch zu gedeihen, wir werden auf seine Wiederkunft harren wie der Sickingen Ferdinand Lassalles, der Hutten zuruft: »Was wir wollen, das ist ein einiges, großes, mächtiges Deutschland …; Und machtvoll auf der Zeit gewalt'gen Drang gestützt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd, ein evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze des großen Reiches.« Das wollten und wollen nicht nur Ritter wie Sickingen und Demokraten wie Lassalle, sondern offen oder heimlich viele, viele Deutsche. Heute aber droht das Vaterland über den vergeblich Hoffenden zusammenzubrechen. Unser Schiff ist in Gefahr; das Schiff muß gerettet werden. Die Mannschaft ist wie gelähmt durch blindes Vertrauen auf die angebliche Kraft ihres abhanden gekommenen Kapitäns, ohne den sie weder leben noch wirken zu können vermeint. Nichts ist dringender, als daß die Mannschaft sich eilig darüber klar wird, ob denn dieser Kapitän wirklich so trefflich und unentbehrlich, und ob er nicht etwa gar die Ursache der Gefahr war, in der das Schiff schwebt. Das Schiff muß gerettet werden. Wenn es friderizianischer Geist ist, der uns retten soll, dann verdient nichts ernsteres Nachforschen als die Größe Friedrichs des Großen und als die wahren Wurzeln seiner bewunderten Kraft. Der Betrachtung dieser Größe sind die folgenden »Sieben Gespräche über das Königsopfer« gewidmet. Sie betrachten nicht nur die Feldherrnkunst des großen Königs, seine Diplomatie, seine Staats- und Verwaltungskunst, sondern auch seine Förderung der deutschen Kultur, sein Verhältnis zu den Großen der Weltliteratur und seine bedeutsame Einwirkung auf unsere Nationalliteratur, auch seine jugendlichen Beziehungen zum weiblichen Geschlecht, seine Lebensmüdigkeit als Mann und seine Einsamkeit als Greis. In der Zusammenfassung am Schluß findet sich auf wenigen Seiten mancherlei zusammengedrängt, was als das Ergebnis dieser Betrachtungen gelten mag.

 

Vorbemerkung zur vierten Auflage

Die erste auszugsweise Wiedergabe aus den Gesprächen des Amerikaners Ellis mit europäischen Zeitgenossen über Friedrich den Großen erschien in einer kleinen Auflage, veranstaltet vom Sanssouci-Verlage, im April 1924. Ihr folgte eine vermehrte Auflage im August desselben Jahres. Weitere dreitausend Exemplare wurden vom Verlage Jakob Hegner in Hellerau im August 1925 veröffentlicht. Nach diesem schnellen Erfolge habe ich mich entschlossen, in der vorliegenden vierten Auflage von den bisher aus besonderen Gründen ausgelassenen Teilen weitere wichtige Stücke mitzuteilen. Diese wesentlichen Erweiterungen sind an den Stellen der Gespräche, wo sie in den früheren Ausgaben ausgelassen waren, eingefügt oder sind – wenn es sich um Stücke aus anderen Unterhaltungen handelt – als Anmerkungen angehängt. Ich bin sicher, daß diese Ergänzungen die Ellis'schen Gedankengänge Vielen verständlicher machen werden.

August 1926.

Werner Hegemann

 

Hegemann Persönlichkeit des Kritikers

Manfred Maria Ellis, der Protagonist der folgenden Gespräche, ist einer der eigentümlichsten Männer, die mir auf mancherlei Fahrten durch die fünf Weltteile begegnet sind. Als ich ihn zum ersten Male sah – es war im Jahre 1909, und ich hatte als Leiter der Bostoner Städtebau-Ausstellung mit ihm als einem der Geldgeber dieses bahnbrechenden Unternehmens zu verhandeln – schien er sich allerdings bei flüchtiger Betrachtung kaum von den anderen Großkaufleuten, die die Ausstellung finanzierten, zu unterscheiden. Doch war schon die Umgebung, in der er mich empfing, nicht alltäglich. Er saß in seinem Geschäftszimmer im obersten Geschosse des Turmgebäudes, das damals noch den Namen seines zwei Jahre vorher verstorbenen Vaters trug und das von oben bis unten mit den Geschäftsräumen der Eisenbahn-, Land- und Bergwerksgesellschaften angefüllt schien, die dieser rastlose Vater in vieler Herren Ländern gegründet, verschmolzen oder zu beherrschen versucht hatte. Die bedenklichen Verhältnisse, die in diesem Irrgarten verwegener Gründungen beim Tode des »alten Ellis« offenbar wurden, waren zur Zeit meines Besuches kein Geheimnis mehr, und die Kraft des Sohnes, sich in dem ererbten Wirrsal zurechtzufinden und aus ihm nach wenigen Jahren erstaunlicher Tätigkeit ein fürstliches Vermögen zu retten, wurde während des hastigen Mittagsimbisses in den Klubs der Geschäftsleute besonders deswegen oft erörtert, weil der »junge Ellis« – er war damals bereits achtunddreißig Jahre alt – sich vorher, fern von Geschäften, ganz seinen europäischen Liebhabereien gewidmet zu haben schien. Auch über das Wesen dieser Liebhabereien sowie über seinen aus Neuyork zugewanderten Vater und seine aus österreichischem Adel stammende Mutter liefen allerlei abenteuerliche Gerüchte um, die, wie ich bald aus bester Quelle erfahren sollte, nicht alle übertrieben waren.

Die Teilnahme, die Manfred Ellis an den Vorarbeiten für die von ihm und seinen Freunden geförderte Städtebau-Ausstellung bewies, war ganz selbstloser Art und entsprang einem lebhaften Verständnis für die schwierigen Aufgaben der vierzig Gemeinden Groß-Bostons, deren Verschmelzung und bauliche Entwicklung sie erleichtern helfen sollte. Da im Wirbel seiner allzu zahlreichen Geschäftsstunden jede Besprechung auf das kürzeste Maß beschnitten werden mußte, schlug Ellis mir regelmäßige Unterhaltungen beim Morgenfrühstück vor und lud mich ein, während der noch verbleibenden Vorarbeiten zur Ausstellung als Gast in seinem Hause zu wohnen. Dieser Einladung folgend, lebte ich drei Monate lang in der Nähe dieses durch Tatkraft und Bildung ausgezeichneten Mannes, und es entwickelte sich zwischen uns ein freundschaftliches geistiges Austauschverhältnis, in dem er bereit war, mit meinen städtebaulichen Fachkenntnissen vorlieb zu nehmen, und das mir Gelegenheit gab, schon damals mancherlei zu erfahren, was mir später das Verständnis seiner Gedankengänge und seiner schriftstellerischen Arbeiten erleichtern sollte.

Eine Lebensbeschreibung Ellis' wird von anderer Seite vorbereitet. Hier sei nur erwähnt, daß seine Jugend eine wenig amerikanische Wendung deshalb genommen hat, weil seine Mutter – eine Ururenkelin des Karl Joseph von Ligne, der in den folgenden Gesprächen über Friedrich II. verschiedentlich genannt wird – ihre Vorliebe für die europäische Heimat auch nach der Übersiedelung in die Neue Welt nicht aufgab. Sie kehrte wiederholt von Neuyork, und später von Boston, auf längere Zeit in das alte Vaterland zurück, und sie vermochte im Herzen ihres sie begleitenden einzigen Sohnes das Feuer einer in Amerika nicht gerade gewöhnlichen, beinahe leidenschaftlichen Neigung für europäisches Leben, und nicht zuletzt für ihre deutsche Heimat zu erwecken. Der junge Amerikaner fühlte sich hier bald fast ebenso zu Hause wie in Boston oder Neuyork. Den Anregungen seiner feingebildeten Mutter folgend, gelangte er früh in den fast unbeschränkten Besitz der deutschen und französischen Sprache und lernte sich auch des Italienischen mit einiger Sicherheit zu bedienen. Er studierte nicht nur auf amerikanischen Hochschulen, sondern besuchte auch ein Jahr lang ein deutsches Gymnasium und hörte vier Jahre lang auf den Hochschulen von Wien und Paris; er trat früh in Beziehungen zu den Führern europäischen Geisteslebens, reiste viel und beschäftigte sich bis zum Tode seines Vaters hauptsächlich mit Geschichte, Kunst und Literatur und mit seinen eignen schriftstellerischen Arbeiten.

Kurz, man könnte sagen, Manfred Ellis habe mit guter Veranlagung, reichlichen Mitteln und unter ungewöhnlich günstigen Umständen den Versuch gemacht, eine Bildung im besten Sinne des Wortes zu erwerben. Wie weit derartige Versuche heutzutage als gelungen bezeichnet werden dürfen, wird niemand vorschnell zu entscheiden wagen, der die zu überwindenden Schwierigkeiten erkannt hat, wie sie sich aus der tausendfältigen Verzweigung unseres unübersehbaren Geisteslebens ergeben. Bei Ellis bewunderte ich als einen der wichtigsten Erfolge seiner Bestrebungen eine ungewöhnliche Fähigkeit, den »immer fremd und fremder sich andrängenden Stoff« geistig zu bewältigen und in seinen oft überraschenden Zusammenhängen mit Altbekanntem zu würdigen.

Unterhaltungen mit Manfred Ellis nahmen äußerlich meist denselben Verlauf: bei der ersten Erörterung einer Frage schien er fast zurückhaltend, obgleich er sich selten ganz unvertraut mit irgendeinem Gegenstande zeigte, und obgleich sein Gedächtnis und seine Belesenheit in Erstaunen setzten, wohin man sich auch wenden mochte. Wenn ihn die Frage fesselte, um die es sich handelte, konnte man sicher sein, daß er bald zu ihr zurückkehren würde, nachdem er unterdessen in seine geistigen Rüstkammern hinabgestiegen war, so daß er einem unerwartet als neu gewappneter Mann entgegentrat. Wenn sich die Unterhaltung bei einer dritten und vierten Zusammenkunft fortsetzte – und nichts tat Ellis lieber, als einen Gedanken in immer tiefere Abgründe zu verfolgen – gestaltete sich das Gespräch manchmal fast wunderlich. Es war dann oft, als hätte Ellis nächtlings seine Nachschlagebücher oder eine ganze Bücherei durchstöbert, und die Art, wie er dann immer neue Gewichte in die schwankende Wage der Erörterung zu werfen vermochte, bald diesen Zeugen, bald jene Quelle heranzog, oft den bekräftigenden Beleg gleich gedruckt zur Hand hatte und nachdenklich schlagende Stellen daraus vorlas oder aus dem Stegreif übersetzte, das hatte etwas, was weniger leidenschaftliche Sucher im Irrgarten der Wahrheit pedantisch finden mochten und was auch leidenschaftliche Wahrheitsfreunde manchmal zum Widerspruch reizte. Einer seiner Freunde hat einmal in Manfred Ellis' Wesen eine Erinnerung an das Gebaren jenes von Bernard Shaw liebevoll verspotteten Großkaufmanns Undershaft (aus dem Lustspiel Mesalliance) sehen wollen, der die Zuschauer durch seine unermüdlichen Hinweise auf diesen oder jenen Schriftsteller erheitert oder langweilt. Und doch war der Vorwurf des Dilettantismus, wenn er etwa gegen Ellis erhoben werden konnte, wohl nur deshalb begründet, weil heutzutage jeder nur Liebhaber sein kann, der nicht gewillt ist, sich in einem der tausend Sondergehege der wissenschaftlichen Forschung zu verstecken, in denen die nach letzter Gründlichkeit Hungernden den Wald manchmal vor Baumwurzeln zu sehen aufhören.

In Europa sind wenige Beobachter darauf vorbereitet, Amerikanern vom Schlage Manfred Ellis' Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; das Vorhandensein, ja die Daseinsmöglichkeit solcher Männer begegnet hier nicht geringerem Zweifel und Erstaunen als die von Wilhelm Bode entdeckte Tatsache, daß geistvolle Sammlertätigkeit amerikanischer Humanisten in der Neuen Welt viele der würdigsten und umfassendsten Schatzkammern alter Kunst aufzubauen vermocht hat. Wer etwa zweifelnd nach amerikanischen Erscheinungen suchen möchte, die mit Manfred Ellis verglichen werden könnten, der möge sich mit der Entwicklung mancher der vornehmen Familien Neu-Englands oder Neuyorks beschäftigen; in den Lebensgeschichten der verschiedenen Mitglieder der neuenglischen Familie Adams zum Beispiel wird er unter den Enkeln und Urenkeln zweier Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika so überraschende Mischungen von Geschäftsmann und Schriftsteller, Politiker und Philosoph, Eisenbahnpräsident und Kunstkritiker finden, daß weitere Zweifel an den unbegrenzten Möglichkeiten auf diesem Gebiete schwinden sollten. Unter den Männern, an die ich hier denke, sei der Freund Theodore Roosevelts, Henry Adams, rühmend hervorgehoben, dessen eingehende Veröffentlichungen über die französische Gotik und über naturwissenschaftliche Fragen und dessen eigene Lebensbeschreibung, diese besonders, zu den beachtenswertesten Zeugnissen des heutigen amerikanischen Geisteslebens gehören.

Ellis' vorhin geschilderte Art, eine ihm willkommene Unterhaltung fast ins Uferlose zu erweitern, kam mir erst recht verblüffend zum Bewußtsein, wenn ich ihn später auf seinen Besitzungen in Maine und in Süd-Kalifornien besuchte oder wenn ich ihn als Herrn Manfred – unter diesem Namen reiste er hier – in Deutschland oder Frankreich traf, wo er meist Muße hatte und über eine durch nichts beengte geistige Aufnahmefähigkeit verfügte. Als ich mich einmal Montags darüber wunderte, daß er so viele neue Einwände in einer uns beschäftigenden Frage vorbringe, von denen er am vorhergehenden Freitag geschwiegen habe, antwortete er mir wie ein Kaufmann: »Wenn ich Anteile einer mir unbekannten Gesellschaft in Zahlung nehmen muß, habe ich gelernt, mich eilig über Wesen und Wert des Unternehmens zu unterrichten. Das muß und kann sehr schnell geschehen, wenn man weiß, worauf es ankommt. Warum wäre es in anderen, weniger tief ins alltägliche Leben einschneidenden, aber wichtigeren Fragen anders? Ein Edelmann soll jeder Anforderung gewachsen sein. Gewiß lacht man über den irischen Junker, der, gefragt, ob er Geige spielen könne, antwortete: »Ich weiß nicht; ich habe es noch nicht versucht.« Mir erschien dieser Mann immer als ein Vorbild anständiger Unbefangenheit. Sie kennen wahrscheinlich die Spottreime, die einst auf den englischen Marineminister Goshen, den Vetter des deutschen Verlegers Göschen, gemünzt wurden:

Mr. Goshen
Has no notion
Of the motion
Of the ocean.

Die englische Flotte und das englische Weltreich haben nicht darunter gelitten, daß immer wieder sogenannte Laien in die führenden Stellen traten, weil diese Laien in einem höheren Sinne gebildet waren, als man in dem nichtenglischen Teile der Welt verstehen will. Wer urteilen will, muß unbefangen hören können und wissen, wer gehört zu werden verdient. Das ist die Kunst, die ich vor allem erlernen möchte. – Das Geheimnis, warum ich heute mehr weiß als letzten Freitag, ist leicht erklärt. Es gibt hier ein gutes Antiquariat. Wenn ich über eine Frage mehr wissen möchte, als ich in meinem Gedächtnis oder meiner Bücherei finden kann, bitte ich den unglaublich beschlagenen deutschen Herrn an den Fernsprecher und bin nach kurzer Erwähnung der Stichworte fast immer sicher, zwei Stunden später seinen Diener bei mir begrüßen zu dürfen mit fünfzig bis hundert Druckschriften aus der Hinterlassenschaft eines immer pünktlich gerade verstorbenen Sammlers, dessen Lebensaufgabe es gewesen zu sein scheint, gerade diese eine mir unerwartet auftauchende Frage von Grund auf zu erforschen. Gibt es eine Frage, über die nicht schon einmal ein ernster Arbeiter ein Buch, eine Broschüre, ein Gymnasialprogramm ausgeschwitzt oder zu der nicht ein urteilsloser Tor einmal wertvollen Stoff zusammengetragen hätte? »Den Erben laßt verschwenden an Adler, Lamm und Pfau das Salböl aus den Händen der alten toten Frau«. Es ist fast beschämend, zu arbeiten wie ich, nachdem die harten, oft hohlen Nüsse geknackt und alles Für und Wider von mühseligen Händen aufgedeckt worden ist. Man hört als Geschworener in ein paar Stunden die Anklage und die Verteidigung, an denen die hochgelehrten und vielgewandten Rechtsanwälte monate- oder jahrelang gearbeitet haben, und urteilt dann kurz und bündig mit Ja oder Nein. Fiat mundus, pereat justitia: die Gerechtigkeit mag dabei leiden, aber nur so und nicht anders erhält sich die Welt.«

Manfred übertrieb kaum. Seine Fähigkeit, sich schnell und verständnisvoll durch eine krause Sache hindurchzulesen, überstieg, was ich für möglich gehalten hätte. Genau wie er mit mir über Goethe oder Friedrich II. sprach, hörte ich ihn mit Amerikanern über Streitfragen aus dem Leben Washingtons oder Walt Whitmans oder mit Engländern über Einzelheiten aus ihrer Verfassungsgeschichte sprechen. Auch wem diese Art, die Welt der Geister mit Siebenmeilenstiefeln durchmessen zu wollen, nicht zusagt, der wird doch vielleicht mit wohlwollendem Lächeln die eigenartigen Fernblicke und Verkürzungen prüfen, die sich dabei oft ergeben. Wie Ellis sich zum Beispiel in den Gesprächen über Friedrich den Großen mit dem von Thomas Mann angeregten politischen Opfergedanken abfinden wollte, wirkte auf mich wie die Kindlichkeit der Riesentochter, die Bauern, Pflug und Gespann in ihrem Schurz nach Hause trägt und ihrem Vater als Spielzeug auf den Tisch stellen möchte. Es lohnt, den Versuch einmal gesehen zu haben, wie sehr man auch die Abfertigung billigen mag, die ihr zuteil wurde und die an den Bescheid erinnert, den Goethe gab, als Matthison die kleinen Eisenfiguren Friedrichs II. und Napoleons gar zu sorglos in die Tasche steckte: »Wir müssen säuberlich verfahren mit solchen Helden.«

Wem es bedenklich erscheinen möchte, mit einem Ausländer über Fragen zu sprechen, die so tief in die politischen Verhältnisse des eigenen Vaterlandes einschneiden, der würdigt nicht genügend den Geist wirklicher Vorurteilslosigkeit, mit dem Manfred Ellis sich gleichermaßen für deutsche wie amerikanische Dinge zu erwärmen oder zu erkälten pflegte. Im übrigen wäre ich dankbar, wenn mir jemand raten könnte, wie man sich verhalten soll, wenn einem ein lieber ausländischer Freund, mit dem man allerlei gemeinsam durchlebt und durchkämpft hat, über deutsche Verhältnisse mit derselben Unbefangenheit wie über die Verhältnisse seines eigenen Vaterlandes spricht. Wenn dieser Freund gebildet, besonders belesen und gar älter ist als man selbst, liegt in einer solchen Unterhaltung eine gewinnreiche Auszeichnung, die aus patriotischen Bedenken abzulehnen mir unbesonnen erscheinen würde. Wenn dieser Freund schließlich wie Manfred Ellis ein begeisterter Verehrer und Bekenner der überragenden Bedeutung Goethes ist, dann gewährt seine Unterhaltung gerade für einen Deutschen etwas derart zu froher Hoffnung Anregendes, daß man ihm auch weniger Angenehmes zugute halten müßte.

Was ich allerdings, nicht dem Amerikaner Manfred, sondern mir, nicht verzeihen kann, ist meine Unfähigkeit, auf seine Einwände, namentlich in den Unterhaltungen über Friedrich den Großen, besser zu antworten, als ich es getan habe; und ich warne jeden, der ins Ausland zu gehen beabsichtigt, weil er dort mit ähnlichen Einwänden gegen gewisse Erscheinungen der deutschen Entwicklung wird rechnen müssen, wie sie Manfred Ellis in den hier wiedergegebenen Gesprächen angedeutet hat, und denen geschickt zu antworten auch die sogenannte höhere Erziehung in Deutschland doch wohl nur ungenügend vorbereitet. Andererseits verspreche ich mir gerade von dem unbefangenen Vergleich widersprechender Anschauungen viel Gutes für die segensreiche Gestaltung der öffentlichen Meinung in der Welt.

Bevor ich die Wiedergabe der Unterhaltungen über das Königsopfer versuche, möchte ich noch einige Worte über die Zitate und über die Sprache sagen, deren sich Ellis bediente. Ich habe bereits die mannigfaltigen Sprachkenntnisse erwähnt, die Ellis besaß; es schien für ihn fast gleichgültig, ob er sich auf deutsch, französisch, italienisch, oder ob er sich in der Sprache seiner Heimat, auf englisch, ausdrückte. Dennoch war Deutsch, die Sprache seiner Mutter, doch nicht eigentlich seine Muttersprache. Das Fremde, was seine Ausdrucksweise öfters auffallend machte, zeigte sich namentlich in der fast gezwungenen sprachlichen Reinheit, deren er sich befleißigte; wie sie ja bei gebildeten Ausländern, die die Sprache mehr aus Büchern als im täglichen Verkehr gelernt haben, nicht ungewöhnlich, wie sie aber uns – in dieser Richtung besonders anspruchslosen – Deutschen leicht übertrieben erscheint. Manfred Ellis erklärte mir seine Anschauung in dieser Sache einmal folgendermaßen:

»Das im mündlichen und schriftlichen Verkehr heute geduldete Deutsch ist – jedermann weiß es – oft barbarisch, verglichen mit der reineren und klareren Umgangs- und Schriftsprache der englischen und lateinischen Völker. Das Deutsch des täglichen Umgangs unterscheidet sich zu wenig von dem Stammeln der Halbgebildeten, die sich im Sumpf ihrer Gedanken krampfhaft an Klötze klammern wie »sehr interessant«, »absolut nicht«, »ein'n Moment!«, »ganz egal«, »kolossal«, »direkt«, »extra« und »kaput«. Auch den Gebildeten unter den deutschen Schriftstellern sind Freiheiten erlaubt, die ich mir als Ausländer nicht gestatten darf. Wenn zum Beispiel der gewiß geistvolle Rudolf Borchardt von »perniciösen Vorurteilen«, von »Grausamkeitssubstraten«, »aristokratischen Avantagen«, »jungfräulichen Perceptionsorganen«, »maßloser Bassesse« und vom »enrichierten Deutschland« spricht, so mögen das bei ihm wertvolle Schönheitspflästerchen sein, die die gesunde Farbe seiner Sprache um so lebendiger hervorheben oder sie in petronischem Hochglanze schillern lassen. Wenn ich mir als Fremder derartiges erlauben wollte, würde ich nie das beklemmende Gefühl überwinden, in das verspottete Kauderwelsch mancher meiner deutsch-amerikanischen Landsleute in Pennsylvanien oder Milwaukee zu verfallen, die sich in der lebendigen neuen Sprachgemeinschaft, noch mit leider toten Überresten der alten Muttersprache beschwert, beschwerlich bewegen. Es mag sein, daß sich vieles auf deutsch nicht ausdrücken läßt: nicht mehr, oder noch nicht, oder vielleicht nie; aber das darf mich nicht kümmern. Ich will meinen deutschen Weihnachtsbaum mit Wachskerzen, nicht mit elektrischen Glühbirnen putzen. Was mich fesselt, ist: zu entdecken, was sich denn eigentlich auf deutsch ausdrücken läßt, und welche Überraschungen der gute Geist dieser einst für Großes bestimmten Sprache sich noch vorbehält.«

Ich nahm diese Äußerung Manfred Ellis' zum Anlaß, ihn zu seinen Bemühungen um reine deutsche Ausdrucksweise zu beglückwünschen. Er antwortete mir: »Beglückwünschen Sie mich nicht; bedauern Sie mich lieber. Mir ist es oft versagt, das flotte diplomatische Gardedeutsch des großen Bismarck, das sich doch manchmal zu Lutherscher Kraft erhebt, zu genießen, zum Beispiel: »Ich wurde in ein Schlafkoupé komplimentiert, wo ich schlechter situiert war als in meinem Fauteuil«, oder »Es ist dies eine Stelle, wo die konstitutionellen Theorien an Inkommensurabilität leiden«. Ja, der Genuß der erhabensten Werke Goethes ist mir manchmal verkümmert; Stellen wie: »Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Welt«, muten mich an wie heilloses Küchenlatein; ich kann oft ihren tieferen Sinn nicht einmal verstehen, und wenn zum Beispiel in dem ebengenannten Beispiel die beiden aus dem Französischen übernommenen griechischen Fremdwörter vertauscht würden, könnte ich mir ebensoviel dabei denken. Es ist ja möglich, daß solche Sprachmengungen unverdaute Überreste sind, die von der Entwicklung der Sprache ausgestoßen werden sollen; aber wie rückständig, wie entwicklungsfremd stehe ich da, wenn etwa die deutsche Sprache, wie einst das Latein in der Hand des Petronius, sich künftig erst recht mit fremden Zugaben bereichern und eine hochentwickelte Bastardsprache werden soll, wie einer der größten englischen Sprachmeister, John Ruskin, seine und meine Muttersprache einmal treffend genannt hat.«

Ich habe mir lange überlegt, wie ich Manfreds eigentümliche Art, im deutschen Gespräch jedes Fremdwort durch ein kleines Zögern und ein kleines Etwas in der Betonung anzudeuten, in der gedruckten Mitteilung zum Ausdruck bringen könnte. Mir ist dann während des Druckes der Gespräche aufgefallen, wie Kaiser Wilhelm I., der augenscheinlich ein feines Empfinden für das Fremdkörperhafte nichtdeutscher Worte besaß, in seinen Briefen Fremdwörter durch besondere Lettern heraushob, genau wie das beim Schreiben entwickelterer Sprachen, zum Beispiel der englischen, getan zu werden pflegt. Da dieser von unserem großen Kaiser befolgte würdige Brauch ganz vorzüglich das andeutet, was Manfred im Gespräch beim Gebrauch von Fremdwörtern gefühlt zu haben scheint und mitzuteilen verstand, habe ich, soweit es noch möglich war, die kaiserliche Schreibweise nachgeahmt.

Für die nicht seltenen Berufungen auf allerlei geschichtliche Quellen und Schriftsteller, von denen Manfred Ellis in der mündlichen Unterhaltung geschickt Gebrauch machte, ist es mir schwer gefallen, eine für die gedruckte Veröffentlichung geeignete Form zu finden. Seine Art zu plaudern würde vielleicht am besten gekennzeichnet durch das von ihm erwähnte Wort Ernst Moritz Arndts über den Freiherrn von Stein: »... Wo von ernsten Dingen gesprochen, ja wo nur, wie im leichten Gespräch geschieht, darüber hingewinkt oder nur gelächelt ward, schien Stein immer als der Fürst …;« Bei der Zusammenstellung der folgenden Gespräche schien es mir aber unstatthaft, dieses »darüber Hinwinken oder nur Lächeln« wiedergeben zu wollen. Im Gespräch ist man bereit, einem vertrauenswerten Manne auch widerspruchsvoll erscheinende Berufungen auf diesen oder jenen Zeugen gelten zu lassen, ohne daß der Zeuge immer gleich selbst erscheinen müßte. In einem gedruckten Berichte erwecken solche leichten Erwähnungen schnell den Verdacht der Unzuverlässigkeit. Mir schien es deshalb bei der Herausgabe der Gespräche notwendig, die Bereitschaft etwas zu übertreiben, mit der Ellis wörtliche Wiedergaben wichtiger Buchstellen in die Unterhaltung einzuflechten pflegte, und ich muß hier versichern, daß er nicht der scholastische Pedant war, als den ihn meine Übertreibung erscheinen läßt.

Ebenso muß ich hier Manfred Ellis ausdrücklich vor einem anderen Verdachte schützen, den ihm mein geringes schriftstellerisches Vermögen und die mir gebotene Rücksicht auf die noch lebenden Teilnehmer der Gespräche einbringen könnten: Ellis nimmt und behält in den folgenden Unterhaltungen viel öfter das Wort, als er es in Wirklichkeit zu tun pflegte. Der Grund dafür liegt in meinem begreiflichen Bestreben, gerade seine Gedanken hier ausdrücklich zur Geltung zu bringen; denn diese Aufgabe hatte ich mir gestellt, nachdem mir die Anschauungen Manfred Ellis' durch wiederholtes längeres Zusammenleben mit ihm so vertraut geworden waren, daß ich den Versuch, sie wiederzugeben, vielleicht wagen durfte. Für die Äußerungen der übrigen Teilnehmer an den Unterhaltungen habe ich im Gegenteil große Zurückhaltung beobachtet und meist nur das berichtet, was den Ellis'schen Bemerkungen den Anstoß gab. Sind doch die übrigen Teilnehmer fast alle anerkannte Meister der Feder, die seit diesen Gesprächen ihre Anschauungen über die wichtigsten der damals erörterten Fragen der Öffentlichkeit viel überzeugender vorzutragen verstanden haben, als es mir oder irgendeinem andern möglich sein könnte, während die von Manfred M. Ellis vorgetragenen Anschauungen bis heute noch wenig Nachklang fanden.

Ich brauche nicht zu betonen, daß ich nicht alle von Manfred vorgebrachten Äußerungen billige.

* * *

Die Unterhaltungen fanden statt im Jahre 1913 in der Villa Boccanera in Neapel, wohin sich Manfred mit seiner Familie nach der Rückkehr von seinem Anwesen in der Südsee (Oconomowoc, »Eiland der Seligen«) wieder zurückgezogen hatte, um die Nachbarschaft des großen Benedetto Croce und die Gesellschaft alter Freunde zu genießen. Die Freuden edler Geselligkeit lockten Manfred Ellis immer besonders stark, wenn er nach langer arbeitsamer Zurückgezogenheit nach Europa zurückkehrte; (er hatte damals aus dem Süden das Manuskript seines Buches über »Luther« und anderes mitgebracht). Seine wirtschaftlichen Verhältnisse erlaubten ihm Gastfreundschaft im großen Sinne, und seine in viele Teile der Welt reichenden Beziehungen machten oft sein jeweiliges Absteigequartier zum Treffpunkt erlesener Menschen von verschiedenster geistiger und nationaler Herkunft. Ich kann mich kaum entsinnen, im Hause Manfreds weniger als zehn Gäste, weniger als fünf Nationalitäten angetroffen zu haben. Nirgends habe ich stets freudig begrüßte Freunde mit größerer Freiheit kommen und gehen sehen. Unterhaltungen in Manfreds Hause bewegten sich darum oft in aussichtsreicher Höhe und waren von provinzialer Beschränktheit ungewöhnlich frei.

Die im nachfolgenden wiedergegebenen Gespräche wurden angeregt durch die reizende Liebhaberausgabe des Lustspiels »Iphigenie«, das Manfred Ellis als Zweiundzwanzigjähriger (1893) verfaßt und das einige seiner Freunde (1913) einem kleinen Freundeskreise zugänglich gemacht hatten Ein Neudruck erschien 1924 im Sanssouci-Verlag, Berlin.. Zur Zeit, als diese Gespräche stattfanden, arbeitete Manfred an einem größeren Aufsatz über »Iphigenie oder das Königsopfer«, der wahrscheinlich nicht vollendet wurde und dessen Bruchstücke verloren zu sein scheinen. Der Aufsatz nahm seinen Ausgang von dem Opfer der Iphigenie und von verwandten, im Grunde unköniglichen Opferungen und leiblichen und geistigen Entsagungs- und Wahnvorstellungen und war gedacht als gelehrte Vorrede zu Manfreds für die Veröffentlichung ungeeigneter Wiener Fastnachts-Trilogie »Maria Theresia und ihr rasender Hofnarr« (aufgeführt in der Wiener Deutschen Gesellschaft, Fasching 1911), bestehend aus den drei kleinen Rätselspielen: »Der Hanswurst im Furchtbaren«, »Hanswursts Verbrennung« und »Die Kaiserin im Himmel«. Das Hauptstück dieses Aufsatzes, überschrieben: »Friedrichs II. von Preußen große Felonie und die deutsche Barbarei«, faßte die Entwicklung des deutschen Geisteslebens, wie sie etwa Friedrich Nietzsche in seinen heute nicht mehr »Unzeitgemäßen Betrachtungen« aufgedeckt hat, als ein schädliches Naturereignis, das wenigstens zum Teil aus gewissen preußischen Verirrungen erklärt werden könne. Ähnliches hat neuerdings (1924) Hugo Ball in seinem geistreichen Buche »Die Folgen der Reformation« versucht, wobei er, ein frommer Katholik, aber zu ganz anderen Schlüssen kam als Ellis, der nicht Katholik, sondern eher Schüler des »Heiden« Goethe genannt werden kann.

Als Ganzes sollte Manfred Ellis' Aufsatz eine Ablehnung des Opfergedankens darstellen, wenigstens des Opfergedankens in den rohen Formen, die er in der Kunst, in der Politik und in der Religion meist angenommen hat.

Die 1924 auszugsweise mitgeteilten Aufzeichnungen der Gespräche Die sieben Gespräche über das Königsopfer. Unterhaltungen eines Amerikaners mit Rudolf Borchardt, Pierre Lièvre, Hugo von Hofmannsthal, Georg Brandes, Klara Hofer, Thomas Mann, Litton Strachey, Bernard Shaw und anderen über Goethe, Voltaire, Friedrich II. und Christus. Herausgegeben von Werner Hegemann, Berlin 1924, im Sanssouci-Verlag. machte ich auf Manfreds Bitte gleich nach, manchmal sogar während der Unterhaltung. Sie geben in großen Umrissen eine Vorstellung von dem, was Manfred in seinem Aufsatz berühren wollte, aber nun leider nicht mit seiner Meisterhand zu einem Kunstwerk gestaltet hat. Den unaussprechlichen Reiz dieser scheinbar zufällig, doch zielsicher und, recht eigentlich im Stegreif, verwegen schweifenden Unterhaltungen wiederzugeben, ist meiner Kraft leider nicht vergönnt. Der Versuchung, ihren Inhalt aus der zufälligen Form der Gespräche, die ihn gebaren, loszulösen, um ihn in eine geordnete Abhandlung über die angerührten Fragen zu verarbeiten, glaubte ich widerstehen zu müssen, weil ein Umarbeiten meine Auffassung statt der Manfreds, auf die es ankam, in den Vordergrund gerückt hätte. Aus dem Festhalten an der Form der Gespräche, wie sie sich mit wechselnden Teilnehmern zufällig entwickelt haben, ergaben sich Wiederholungen, die zu vermeiden ich keinen besseren Ausweg wußte als die langweiligen Seitenhinweise oder Anmerkungen, welche angeben, wo der in Frage stehende Gedanke in anderem Zusammenhange behandelt oder näher erörtet wird. Der Versuch, das Erörterte durch Überschriften gleichsam unter verschiedene Kapitel zu gliedern, wird wenig befriedigen, da in allen Gesprächen ähnliche Gedanken, nur aus anderen Gesichtswinkeln heraus, ins Auge gefaßt und die Fragen der ersten Gespräche erst in den letzten beantwortet werden.

Die im folgenden wiedergegebenen Auszüge aus den Gesprächen versuchen nur diejenigen Stücke zusammenzureihen, die sich auf Friedrich den Großen beziehen.

Berlin-Nikolassee, 31. Dezember 1924.

W. H.


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