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»Sie wissen vielleicht«, sagte Manfred lachend, »von der fast abergläubischen Bewunderung, die die Erfolge Bismarcks im Auslande gefunden haben, als sich – wie Nietzsche es ausdrückte – der »Irrtum verbreitete, daß auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe und deshalb mit den Kränzen geschmückt werden müsse, die so außerordentlichen Erfolgen gemäß seien«. Damals neigten zum Beispiel die Japaner zur Annahme, Preußen sei die erste »Kultur«-Macht der Welt, und sie schickten ihre Jungens auf deutsche Schulen, ließen sich nicht nur Ärzte, sondern auch Baumeister und Bildhauer aus Berlin kommen, und die steinernen Folgen in den Straßen Tokios sind so furchtbar, daß auch die dreihundert Erdbeben sie nicht weglöschen konnten, die es dort in jedem Jahre gibt. Da meine Mutter Wert darauf legte, daß ich nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa geschult würde, erwärmte sich mein »Realpolitik« bewundernder Vater für den Gedanken, mich auch einmal auf eine preußische Schule zu schicken. So habe ich denn während meiner bewegten Lehrjahre auch einmal, in einer kleinen Stadt, die Oberprima des deutschen humanistischen Gymnasiums besucht und mir das sogenannte Reifezeugnis erworben. Eine sonderbare Erfahrung! Unter den Lehrern gab es reizende und tüchtige Menschen, von denen mir einige bis heute wertvolle Freunde geblieben sind. Aber unter meinen Kameraden waren wenige, zu denen ich eine Brücke fand. Die mir so willkommene Kunde von den Wundern alter und neuerer Literatur – die anzuschauende Kunst wurde auch von den Lehrern gänzlich vernachlässigt – erschien den Schülern meist verdächtig oder gar widerwärtig, jedenfalls unvereinbar mit dem Lebensziel, das gerade die aufgewecktesten unter ihnen in burschenherrlichem Biertrinken und Rauchen, im Dienste der Venus vulgaris und in dem Schlägerfechten suchten, das mir so geistlos vorkommt, weil es nicht wie Degen, Säbel und Florett, und wie jeder tüchtige Sport, den ganzen Leib, sondern nur einen Arm entwickelt. Mit diesen Schülern sollte Goethes Iphigenie »durchgenommen« werden. Versuchen Sie, junge Menschen, die entweder verkatert sind oder von Kneipe, Zigarren und »höheren oder niederen Töchtern« träumen, in die Mystik der Goetheschen Freundschaft zu Frau v. Stein einzuweihen! Was blieb dem armen Lehrer schließlich übrig als die unablässige, treue Wiederholung einiger Stichwörter? Unter diesen Schlagworten spielte die »reine Menschlichkeit« eine Hauptrolle. Wenn ein Schüler, aus dem Halbschlaf erwachend, eine überhörte Frage beantworten wollte, stotterte er: »Reine Menschlichkeit«. Und »Reine Menschlichkeit« wurde dem Lehrer bald als Spitznamen angehängt. Diese Bengel glaubten dabei um so witziger zu sein, als der ausgezeichnete Mann infolge eines Naturfehlers an einer meist sichtbaren Unreinlichkeit der Nase litt. Selbst für lernbegierige Schüler war es schwer, eine säuberliche Grenze zwischen Ernst und Scherz zu ziehen, und der »mit stillem Widerwillen dienenden« Iphigenie wurde übel mitgespielt.
»Der Unfug, den man dort mit Goethes und Frau v. Steins Mystik trieb, erinnerte mich heute beinahe an den Unfug, den preußische Historiker mit den Verdiensten von Friedrich II. und seinem großen Nachfolger, Friedrich Wilhelm II., um dieselbe Mystik des heiligen »Rosenkreuzes« getrieben haben. Diese preußischen Professoren haben zwar oft die von Klopstock und Schiller bestrittenen Zusammenhänge zwischen Friedrich II. und der Blüte der deutschen Literatur aufzudecken versucht, sie haben aber stets versäumt, darauf hinzuweisen, daß ein ähnlich naheliegender Zusammenhang zwischen Friedrichs des Großen und seines Nachfolgers sexueller Moral und jener Vorliebe für das heilige »Rosenkreuz« besteht, der Friedrich Wilhelm II. dauernd und Goethe vorübergehend (im Dienste Frau v. Steins) gehuldigt haben.«
Was Ellis meinte, wurde mir erst später klar. Ich fragte, ob er denn glaube, daß die geistige Haltung in amerikanischen Schulen besser sei als in dem geschilderten preußischen Gymnasium. Ellis antwortete:
»Ich glaube in der Tat, daß die etwas einseitige sportliche Einstellung der amerikanischen Schuljugend, über die unsere Witzblätter mit Recht spotten, sie vor dem Übermaß der Verblödung schützt, das man auf manchen deutschen Gymnasien findet, wo die Ideale der Schüler und gelegentlich auch Lehrer im »Kommersbuch« wurzeln. Die körperliche Verschwellung oder Verkotzenjammerung, ja fast Vertierung, die aus dem Bilde des deutschen Studenten spricht, wie es die deutschen Witzblätter auftischen, ist zum Teil scherzhafte Verzerrung; aber doch nur zum Teil. Sie gehört fast zum Wesen einer gewissen deutschen Oberschicht. Allerdings bin ich mir erst in den letzten Tagen über die tiefe geschichtliche Verknüpfung auch dieser Dinge klar geworden, als ich eine fast genaue Schilderung des von mir besuchten Gymnasiums schon bei einem der angesehensten preußischen Verehrer und Historiker Friedrichs des Großen fand. Dieser Herr I. D. E. Preuß berichtet nämlich im fünften Buche seines 1833 erschienenen Riesenwerkes »Friedrich der Große« ([Band III, S. 119] »Friedrich als Landesvater«), wie dieser große König seine pädagogische Aufmerksamkeit vor allem dem Joachimsthalschen Gymnasium zugewandt habe, dessen Ziele er immer höher steckte, bis er schließlich sogar keinen geistig genügend entwickelten Preußen für die Verwirklichung seiner königlichen Ziele mehr finden konnte. Als Nachfolger des Hofpredigers Sack ernannte deswegen Friedrich der Große im sechsundzwanzigsten Jahre seiner ruhmreichen Regierung den Schweizer Sulzer zum »Visitator« des Gymnasiums. Die Reformvorschläge Sulzers billigte der wachsame König dann auch, aber er vergaß sie bald wieder. Er war damals besonders stark mit der Erbauung und Meublierung seines großen »Neuen Palais« beschäftigt, wofür er nach Preuß (II. 387) bis 1770 zweiundzwanzig Millionen Taler aufwendete. So versäumte er auch vier Jahre lang, einen Rektor für sein Lieblingsgymnasium zu berufen. Als Ergebnis dieses landesväterlichen Wirkens ergab sich am ohnehin reformbedürftigen Joachimsthalschen Gymnasium ein Zustand, den ein für I. D. E. Preuß zuverlässiger Gewährsmann »Anarchie« nennt und mit den folgenden Worten beschreibt:
»Es herrschte in dieser Periode der Anarchie (1771-75) am Joachimsthalschen Gymnasium ein sehr roher und wilder Renommistenton. Die Neuankommenden auf das gröbste zu mißhandeln, die Inspektoren zu verhöhnen und öffentlich zu beschimpfen, ja selbst manche Lehrer in den Klassen und im Speisesaale auszuzischen und auszutrommeln, Karzer- und Arreststrafe für eine Ehre zu halten, war so ziemlich in der Regel. Im Äußern zeichneten sich die Alumnen aus durch lange, bis weit über die Knie gehende, gewichste Stulpstiefeln, durch gelbe lederne Beinkleider und durch große Hüte, deren Seitenspitzen fast die Schultern berührten. Die Schüler der untern Klassen mußten sich von den Primanern und Sekundanern alles gefallen lassen, und die geringste Widersetzlichkeit zog ihnen körperliche Mißhandlungen zu. Fremde, und vornehmlich die Vorbeigehenden, wurden häufig beleidigt und gekränkt. Des Abends in großen Gesellschaften Tabak zu rauchen (welches nach den Gesetzen durchaus verboten ist), dabei Bier im Übermaß zu trinken und rohe Studentenlieder zu singen, oft ganze Nächte beisammenzubleiben und Karten zu spielen, war nichts Ungewöhnliches; ja, es kam selbst mehrmals zu wirklichen Ausbrüchen der wilden Roheit. Die Gymnasiasten standen in der Stadt in dem übelsten Rufe.««
Nach dieser Schilderung der Lieblingsschule Friedrichs II. zur Zeit der Blüte des friderizianischen Staates und des Chodowieckischen Bürgertums fuhr Ellis fort: »Solche Dinge entstehen oder verderben nicht über Nacht. Die Zeiten sind milder geworden; aber Stulpstiefel und Lederhosen sind noch heute der Stolz deutscher Kulör-Studenten, auch sonst finde ich noch so viel Übereinstimmung zwischen dem Geiste des preußischsten Gymnasiums zur Zeit des großen Königs und dem, was ich selbst in Preußen kennen lernen durfte, daß mir auch für das preußische Gymnasium das gewaltige Dichterwort zu gelten scheint:
»Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
»Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
»Bist alsobald und fort und fort gediehen
»Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
»So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen.«
Besonders überraschend muß es werden, wenn diese akademische Jugend wieder einmal Lust empfinden sollte, in Fragen der Politik oder der Lehrfreiheit einzugreifen.«
Ich versuchte den Spott Ellis' von diesem mir bei ihm bisher ungewohnten Gebiete abzulenken und fragte erneut, wieso denn die Verhältnisse in Amerika anders oder besser seien. Er antwortete: »Der amerikanische Schüler strebt zu einseitig nach körperlicher Vollkommenheit. Dieses gefährliche Streben verpflichtet aber alle Mitläufer zu einer gewissen körperlichen Zucht oder lehrt sie wenigstens körperliche Zucht achten. Selbst die zu geistigem Leben geborenen Schüler, die mit ihren Lehrern neben dem sportlichen Betrieb etwas wie eine kleine aber ernste Sondergruppe bilden, ziehen Vorteil für sich aus dem überall verbreiteten Verständnis für Leibespflege. Nachdem die amerikanischen Schulen den deutschen Hochschulidealen den Rücken drehten und zu denen Englands zurückkehrten, träumt auch unser westlichster Farmersohn in der Schule gelegentlich von dem jungen Lord, der Leibespflege mit Geistesbildung vereint und der, wenn er selbst kein Byron ist, doch den Geistesgrößen seiner Zeit wenigstens persönlich befreundet sein möchte. {Verw. auf Anmerkung} In Deutschland gehört der Adel – sagt Nietzsche {Verw. auf Anmerkung} – »zu den Armen im Geiste« und hat noch wenig an der Formung der geistigen Bildungsideale mitgewirkt; die bürgerliche Jugend kommt oft über die bäuerliche Roheit des alten Landsknechtsideals nicht hinaus und ist, selbst wenn sie sich geistig gebärden möchte, zu gern zufrieden, mit Goethe »bei Gesang und Glase Bier auf den Tisch zu schlagen« oder mit Bierbaums »Pommern zu pummern«.«
Das Erscheinen neuer Gäste führte das Gespräch wieder zu Iphigenie, und zwar wurde die Frage nach dem patriotischen Gehalt der alten Iphigenienmythe aufgeworfen.
Die Träger des Gesprächs waren außer Manfred Ellis zuerst der französische Dichter Pierre Lièvre und der deutsche Schriftsteller Rudolf Borchardt. Lièvre hatte gerade in Athen den aufregenden Anfang des Balkankrieges miterlebt. Er war »überzeugt, daß der Iphigenien-Mythos durchaus patriotisch verstanden werden muß«, und er las, auf Manfreds Bitte, Stücke aus seinem französischen Trauerspiel »Iphigenie« vor, in dem hinreißend dargestellt ist, wie Iphigenie als patriotische Heldin für den Sieg ihres Vaterlandes in den freiwilligen Schlachtopfertod am Altar geht. Es trifft sich, daß auch in Manfred Ellis' Lustspiel »Iphigenie« die Heldin sich freiwillig am Altare opfern läßt, daß aber dieses Opfer nicht wie von Lièvre als höchstes Heldentum, sondern als jugendlich-urteilslose Unbesonnenheit dargestellt ist.
Rudolf Borchardt ging noch weiter als Lièvre; er verherrlichte nicht nur das feierliche Schlachten einer Jungfrau am Altar, sondern er pries sogar, daß erwachsene Männer im freiwilligen Schlachtopfertode am Altare geblutet haben. Wie in seinem damals gerade neu vorliegenden Aufsatze »Über Alkestis«, so erklärte Borchardt auch mündlich, daß »das echte Opfer des höchsten Mannes in einem kolossalen Sinne fromm, legitim und sachlich« sein könne.
Manfred Ellis fand die Auffassungen Lièvres und Borchardts abenteuerlich und stellte sich auf den Boden der Goetheschen Auffassung, wie sie der zweite Leitspruch verkündet, der diesem Gespräche vorangestellt ist. Die Auffassungen Lièvres und Borchardts erscheinen in der Tat so abenteuerlich, daß man sich ihre Erörterung im Hause Manfreds nur aus der außerordentlich hohen Achtung erklären kann, die Manfred Ellis für die übrigen schriftstellerischen Leistungen seiner beiden Freunde hatte.
Seit der ersten Veröffentlichung dieser Gespräche wurde mir von vielleicht zuverlässigen, wahrscheinlich aber nur witzelnden Beurteilern Borchardts nahegelegt, »daß nämlich die Blutgier Borchardts zum Teil mit seinen rassenpolitischen »arischen« Überspannungen zu tun habe und etwa gar als renegatenhafte Perversion versunkener ritualmörderischer Neigungen zu verstehen sei.«
Rudolf Borchardts eigentümliche Schwärmerei für das Menschenopfer erschien im damaligen Gespräche dadurch weniger abenteuerlich, daß andere eigentümliche Auffassungen zur Sprache kamen, zum Beispiel die unbegreifliche Art, wie Euripides und Racine in ihren Trauerspielen »Iphigenie« das Menschenopfer gleichzeitig ablehnen und und gelten lassen.
Von den zahlreichen fesselnden Wendungen des Gespräches seien hier nur wenige der wichtigsten erwähnt. Hugo von Hofmannsthal, der auf der Rückkehr von Griechenland in Neapel weilte, schilderte den Eindruck, den ihm in Athen die »Koren« gemacht hatten, jene einzigartige Sammlung von Mädchenbildern, die der Göttin Athene in der Frühzeit geopfert wurden und die vielleicht eine edel vergeistigte Form des als barbarisch abgeschafften Menschenopfers darstellen.
Auch von den in Athen geopferten Jungfrauenbildern kehrte das Gespräch wieder zur Iphigenie Goethes zurück. Der Leser der später folgenden Gespräche wird rückblickend einen gewissen Reiz in der dort {Verw. auf Anmerkung} geschilderten Tatsache finden, daß Goethes »Erkältung« gegenüber Friedrich dem Großen sich zu Goethes emsig betriebener »Verschwörung« gegen den »eigensinnigen, voreingenommenen, unrektifizierlichen« König, wie er ihn nannte, erst dann ausgestaltete, als die Übergriffe preußischer Werber den Dichter bei der Arbeit an »Iphigenie« störten.
Von Goethes Iphigenie wandte sich das Gespräch zu ihren Schwestern, der Frau von Stein und der Prinzessin des »Tasso«. Hugo von Hofmannsthal gab eine ergreifende Deutung der Prinzessin; er deutete sie nicht als Dulderin und auch nicht als die schöngeistige Gouvernante, als welche Frau von Stein so oft erscheint, sondern als makarienhaft Verklärte. Diese Deutung überzeugte alle, die das Glück hatten, sie zu hören. Einer der Zuhörer erinnerte an Goethes Wort zu Eckermann: »Meine dargestellten Frauencharaktere sind alle besser als sie in Wirklichkeit anzutreffen sind.« {Verw. auf Anmerkung} Dann wurde Goethes römische Sinneswandlung und auch die Haltung Bernard Shaws und Napoleons, Nietzsches, Platos und vieles anderes in der Frage der männlichen Keuschheit und Askese berührt.
Als ich mich nach der Rückkehr von einer gemeinsamen Besteigung des Vesuvs, auf dessen Gipfel allerlei Verwandtes besprochen worden war, mit Manfred Ellis allein fand, kam er noch einmal auf das frühere Gespräch zurück. Er äußerte ungefähr: »Dem Sokrates wird ja wohl vorgeworfen, er habe zur Xantippe gesagt: »Ich suche den Weg zur Tugend, und du forderst, ich soll dir Wirtschaftsgeld schaffen.« Mir ist das unwahrscheinlich, aber Nietzsche scheint daraus folgern zu wollen, daß »der boshafte Sokrates«, den er den einzigen verheirateten Philosophen nennt, gegen die Ehe der Philosophen gewesen sei und sich nur » ironice verheiratet« habe, »eigens um den Satz zu demonstrieren«: »ein verheirateter Philosoph gehört in die Komödie«.
»Ist da etwa dem Verfasser der Genealogie der Wunsch zum Vater des Gedankens geworden? Nietzsche (dem Shaw einmal »professorenhafte Narrheit« vorwarf) war selbst ein leidender Mensch, der sein heftig schwankendes körperliches Gleichgewicht nur bewahrte durch Enthaltsamkeit von vielen Dingen, die Gesunden entweder nicht schaden oder die Lebenskraft steigern. Dennoch ist es unbegreiflich, wie der doch mit Plato vertraute Philosoph Nietzsche dem Sokrates beinahe das Gegenteil von dem, was er wirklich gesagt hat, in den Mund legen konnte. Wer mit Nietzsche vom Philosophen behauptet, »diese Art Geist hat ihre Fruchtbarkeit wo anders als in Kindern«, darf nicht den Sokrates zum Anwalte derartiger asketischer Fruchtbarkeit machen, denn er kann in Platos Staat nachlesen, daß Sokrates gar nicht daran dachte, der Eheverächterei des heiligen Paulus den Weg zu bereiten.
»Paulus – selbst tüchtige Männer sind manchmal schlechte Propheten – behauptete, Gott plane »Zorngericht« und Weltende in so naher Zukunft, daß es für jeden Mann gut wäre, keine Frau mehr zu berühren. Die Ehe wollte er zwar gestatten, aber nur als ein Notmittel zur Vermeidung von Unzucht, so kurz vor dem »Zorngericht«; ein wunderlicher Heiliger! …; Der weisere Sokrates hatte, wie sich bald herausstellte, viel zuverlässigere Beziehungen zu Gott und wußte darum von Gottes Absicht, die Welt bis auf den heutigen Tag, vielleicht sogar noch länger, in alter Weise weiterzubetreiben. Sokrates hatte auch etwas von dem Verständnis eines sittlichen Mannes für die Bedeutung, die Gott in seinem Weltplane dem Verkehr der Geschlechter und der Zuchtwahl eingeräumt hat, eine Bedeutung, der nur verblendete oder entartete Menschen sich verschließen. Sokrates richtete darum sein Hauptaugenmerk nicht auf Wahnvorstellungen, wie Erbsünde und Zorn Gottes, sondern auf die Erfindung – als ob sich so etwas erfinden ließe! – verständiger staatlicher Einrichtungen und – was einfacher ist – auf die Erzeugung und Erziehung von geistig hochstehenden Menschen, die den neuen Staat regieren können. Denken und tun, tun und denken, so lautet die Weisheit der Wanderjahre Goethes. Einen Mann, der zu tun und zu denken und Kinder zu zeugen versteht, nennt Sokrates Philosoph, also nicht im heute volkstümlichen Sinne des Begriffs »Philosoph von Sanssouci«, sondern im Sinne des Übermenschen Nietzsches oder vielmehr Goethes und Shaws.
»Die Philosophen, will Sokrates, sollen den Staat regieren; heute müßte man sagen: die Welt. Unbeschränkte Fruchtbarkeit und Vielbeweibtheit der Philosophen erscheinen Sokrates als sehr wichtige Mittel, die Philosophen, also die Übermenschen, zum Heile der Welt zu vermehren: das ist seine Vorstellung von Zuchtwahl«.
Hegemann: »Dann wäre also der angebliche Plan Prinz Eugens, den späteren Philosophen von Sanssouci mit der geistig und körperlich hervorragenden Maria Theresia zu verbinden, viel sokratisch-platonischer gewesen als die Potsdamer Weiberfeindschaft?«
Manfred schien geneigt, mich freundlich auszulachen, und gab zurück: »Die Weiber verachtete Sokrates zu sehr, als daß er es der Mühe wert gehalten hätte, sehr wählerisch zu sein. Und was Prinz Eugen, Friedrich II. und die Frauen betrifft, das ist eine Frage, deren Beantwortung Sie als vorbehaltloser Bewunderer Friedrichs II. vielleicht vermeiden sollten. Friedrich der Große hat sich oft über die Frage der menschlichen Zuchtwahl geäußert, aber ich werde mich hüten, in der Gegenwart eines dezidierten Berliners Betrachtungen über diesen merkwürdigen Fürsten anzustellen«. Als ich mich begierig zeigte, Näheres von Friedrichs des Großen Anschauungen über menschliche Zuchtwahl zu hören, ließ sich Manfred zu Mitteilungen herbei, die mich überraschten und von denen ich im folgenden dasjenige wiedergebe, was gleichsam als Einleitung zu den später folgenden Gesprächen über Friedrich II. gelten kann. Manfred sagte unter anderem:
»Friedrich II. hat manchmal eugenische Regeln aufgestellt, die wahrscheinlich dem Philosophen Sokrates gefallen hätten. So sagte er zum Beispiel 1770 zum Fürsten von Ligne: »Man muß den regierenden Familien des Reichs neues Blut zuführen; ihre Bastarde taugen mehr als ihre rechtmäßigen Sprößlinge. Die Kinder der Liebe gefallen mir: denken Sie an den Marschall von Sachsen oder an meine Herren von Anhalt.««
Hegemann: »Ich dachte, Friedrich der Große habe wiederholt Verbote gegen bürgerliche Heiraten adeliger Offiziere erlassen?«
Manfred: »Gewiß! aber es gibt fast immer zwei verschieden geartete Friedriche nebeneinander, von denen man den einen als den willigen Schüler der Pariser Philosophie und den anderen als den unwilligen preußischen Zuchtmeister bezeichnen könnte: wenn man von Friedrich den Voltaire'schen Firnis abkratzt, findet man den polternden Friedrich Wilhelm I. Aus dieser »buntscheckigen Mischung von Menschlichkeit und Barbarei«, wie Lord Malmesbury Friedrich den Großen aus eigener Anschauung beschrieb, erklären sich auch die widersprechenden Äußerungen, die Friedrich in der Frage der menschlichen Zuchtwahl getan hat. Daß ihm die Kinder der Liebe gefielen, wäre wohl am besten durch den Bericht seiner Schwester Wilhelmine zu beweisen, die ihm bereits als Sechzehnjährigem zwei von den dreihundertundfünfzig Geschwistern zu Geliebten gibt, die sie dem Marschall von Sachsen angedichtet hat. Und die von Friedrich gerühmten Bastarde von Anhalt waren nicht nur Kinder, sondern auch Enkel der Liebe. Ihre Mutter war eine Predigertochter. Ihr Vater war der Enkel des Apothekers, der den fürstlich Anhaltschen »pfeffer so mitt maußdreck vermischt« hat, wie Liselotte von der Pfalz sich ausdrückte, die, in Legitimitätsfragen unerbittlich, sich über die Anhalt'sche mésalliance sehr erbost hat. Ich denke mir, daß Friedrich II. die Briefe der beneideten Liselotte nicht erst als erwachsener Mann, sondern schon als junger Mensch kennen gelernt hat. Für ihre stolze deutsche Ablehnung unwürdiger Französelei hatte der junge Deutschenfresser Friedrich allerdings kein Verständnis, wohl aber für ihren religiösen Freimut (der ja zur Zeit Friedrichs II. durch Voltaire Tagesmode geworden war) und besonders für den Legitimitäts-Wahn mit dem die am Pariser Hof vereinsamte Pfälzerin gegen »die alte Zott« eiferte; diesen Namen gab sie der frommen Frau von Maintenon, mit der Ludwig XIV. sich heimlich verheiratet hatte. Liselotte selbst könnte den fast unglaublichen Bescheid geschrieben haben, den Friedrich II. dem erbprinzlich-anhaltischen Apothekerenkel gab, als der sich mit einem Fräulein aus dem niederen Adel verheiraten wollte: »Einen solchen Flecken in einem regierenden Hause können Jahrhunderte nicht verwischen«. Während in dem von Friedrich II. gepriesenen »freien« England der Adel ungehindert seiner »Rasse neues Blut zuführen« durfte, schrieb Friedrich II. auf ein Gesuch um Bewilligung einer » mésalliance«: »Fui, wohr er so was vohrschlagen kan«; oder verglich er eine solche Ehe mit »Stinkent Fet und Schmierige buter« (Preuß, Urk. II. 226); aber als voltairesierenden Franzosen beschäftigte ihn gleichzeitig der Gedanke der Blutkreuzung oft.
»In seinen Unterhaltungen mit seinem vertrauten Marquis de Lucchesini zum Beispiel vermutete Friedrich II im Kardinal Mazarin oder in einem schwedischen Offizier den wirklichen Vater des über alles bewunderten Ludwig XIV.; und da er sich nachweislich und wiederholt mit derartigem Klatsch beschäftigt hat, gewinnt sogar Dampmartins Bericht etwas Glaubwürdigkeit, wonach Friedrich auch dem Hohenzollernhause das fehlende neue Blut zuzuführen versuchte, indem er seinen, ihm so widerlichen, kronprinzlichen Neffen im Bett der ersten Kronprinzessin durch einen tüchtigen Offizier vertreten lassen wollte. Da sich die Kronprinzessin unpatriotischerweise widersetzt haben soll, und da Friedrich der große Mann der Widersprüche ist, darf man auch Kaiserin Katharinas hierher gehörigen Aufzeichnungen nicht alle Glaubwürdigkeit absprechen, obgleich ihr Inhalt von dem etwas gehässigen Bruder Friedrichs II., dem Prinzen Heinrich, eingeblasen wurde. Das ausgezeichnete Blatt für preußische Heldenverehrung, die »Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte«, teilen hier folgende ungeschminkte Aufzeichnung der Czarin mit« (und Manfred übersetzte aus der genannten Quelle, die er zur Hand hatte): »Als Friedrich Wilhelm, der spätere König, durch den Tod seines Vaters (1758) Kronprinz von Preußen wurde, hatte er nur ein Kind, und zwar eine Tochter. Auch die durfte er kaum sein eigen nennen; von der Kronprinzessin selbst wurde sie nur die kleine Moller genannt; Moller war Trompeter im Regimente des Kronprinzen. Die Kronprinzessin (die erste) konnte ihren Gemahl nicht ausstehen und sah in ihm, ganz wie Friedrich II. es tat, nur einen schwerfälligen, langweiligen Narren. Der Fürst von Ligne nannte ihn die Keule des Herkules …; Die erste Kronprinzessin galt für sehr liebenswürdig …;, die zweite war weder hübsch, noch liebenswürdig, noch geistreich; Friedrich II. hat sie eigens für seinen Neffen ausgewählt, um ihn dafür zu bestrafen, daß er mit der ersten nicht auszukommen verstand. Friedrich sagte: für einen Dummkopf schickt sich eine Dumme.«
»Ist es nicht bedeutsam,« so schloß Manfred nachdenklich diese kleine Vorlesung, »den Weisen von Sanssouci so unsokratisch über die Zuchtwahl im herrschenden Hause philosophieren zu hören? Oder ist nicht wenigstens die philosophische Unbefangenheit der Unterhaltungen zwischen Kaiserin Katharina und dem Bruder Friedrichs des Großen zu bewundern?«
Hegemann: »Diesen Aufzeichnungen der Kaiserin Katharina möchte ich keinen Glauben schenken. Es wäre zu widersinnig, wenn Friedrich, der unter seiner eigenen Ehe mit einer ungeliebten Frau so sehr gelitten haben soll, seinen Neffen zu ähnlichen Leiden verdammt hätte.«
Manfred: »Wenn es widersinnig wäre, dann wäre es friderizianisch. Aber ist es widersinnig? »Für einen Dummkopf schickt sich eine Dumme«, sagte Friedrich. Er hielt nur eben sich selbst nicht für einen Dummkopf. Bei seiner eigenen Verlobung 1732 beanstandete er, vorsichtig hinter Vaters Rücken, vor allem die Dummheit der vom Vater gewählten Braut. War sie dumm oder deutsch? Gellert wurde ihr Lieblingsdichter. Es war die Dummheit der Braut (der Sohn wollte »lieber die größte Hure von Berlin als eine Fromme«), die Friedrich eine der frühesten unter den zahlreichen Selbstmorddrohungen eingab, mit denen er seine Absichten zu unterstützen liebte. Als er am 19. Februar 1732 seine beiden denkwürdigsten Bräutigamsbriefe schrieb, versicherte er nur im ersten, an den prügelgewaltigen Vater, in »untertänigster Submission« seine Bereitwilligkeit, die vom Vater gewählte Braut zu heiraten. Der Vater weinte vor Freude; mit jener Rührseligkeit, die bei Sadisten häufig sein soll. Im zweiten (gleichzeitig abgefaßten) Briefe, an den einflußreichen Minister Grumbkow, schrieb der listige Friedrich: »Der König sollte bedenken, daß ich mich nicht für ihn verheirate, sondern für mich …; noch weiß ich Auskunftsmittel: ein Pistolenschuß befreit mich von meinem Kummer und meinem Leben.« Aber Grumbkow, der erschreckt zum Könige laufen und den Furchtbaren umstimmen sollte, bekam den Brief zu spät. So heiratete Friedrich denn; er erschoß sich nicht und wußte deswegen später, daß es ungefährlich sei, auch seinem kronprinzlichen Neffen eine ungeliebte, »dumme« Braut aufzudrängen.«
Nachdenklich fuhr Manfred nach einer Weile fort: »Diese beiden sich schlau widersprechenden Bräutigamsbriefe vom 19. Februar 1732 zeigen vielleicht besser als vieles andere nicht nur das zerrissene Herz des geprügelten Kronprinzen, sondern auch seine von Bewunderern als »Verschlagenheit« gepriesene Art, wie er bis in sein Alter glaubte, wichtige Verhandlungen als »trompeur et demi« führen zu können. Man hat so 1732 schon in der Nußschale den Helden des Siebenjährigen Krieges, der gleichzeitig mit beiden Parteien verhandelt und dazu mit Selbstmord droht, ohne jemand damit einzuschüchtern.
»Wenn der ungeschickte Grumbkow nicht Friedrichs zustimmenden Brief an den glücklichen Vater früher zu sehen bekommen hätte als die kronprinzlichen Selbstmorddrohungen, dann hätte wahrscheinlich dieser Grumbkow die Drohungen ernst genommen, und der schlaue Friedrich hätte vielleicht etwas erreicht. Ob 1757 die Franzosen seine Selbstmorddrohungen ernst nahmen und ihn deshalb die Schlacht von Roßbach gewinnen ließen, darüber sind die Gelehrten noch nicht einig.« Ich verstand damals diese Anspielung Manfreds nicht; er ist später ausführlicher darauf zurückgekommen. Vorläufig beschäftigte mich noch der Gedanke an den gedemütigten Neffen Friedrichs des Großen, und ich fragte, ob Manfred etwas über das Schicksal der zweiten Ehe des Kronprinzen wisse.
Manfred antwortete mit einer Gegenfrage:
»Ob nicht Friedrich, der körperlich ja schließlich nur noch ein sehr kleines Männchen war, seinem baumlangen Nachfolger doch noch Anerkennung gegönnt haben würde, wenn er geahnt hätte, wie unermüdlich sich dieser dicke Neffe auch nach seinem Regierungsantritt noch bemüht hat, die Versäumnis des großen Onkels nachzuholen und der preußischen Königsfamilie das fehlende neue Blut doch zuzuführen? Dieser »teutsche« Nachfolger des französischen Friedrich II. ist hauptsächlich berühmt geworden durch sein »Religionsedikt«, welches dem philosophischen Junggesellen Kant das Leben schwer machte, und mit dem der König »der Verfälschung der Grundwahrheiten des Glaubens der Christen und der daraus entstehenden Zügellosigkeit der Sitten Einhalt tun« wollte; daß König Friedrich Wilhelm II. vielleicht ein Schüler des Sokrates war, daß er den königlich-philosophischen Fruchtbarkeitslehren des platonischen Staates viel musterhafter nachlebte als der pflichtvergessene, kinderlose Kant, und daß er sich somit vier- oder fünfmal rechter und linker Hand verheiratet hat, wird noch nicht genug gewürdigt. Ich habe mich oft über die Bescheidenheit der preußischen Geschichtschreiber gewundert, die genug Rühmens von den Leistungen Ludwigs XV. machen, aber die Verdienste des frömmsten unter den Hohenzollern-Königen im Dunkeln lassen. Auch dramatisch ließen sich seine Taten wirkungsvoll ausnutzen; die eigenartigen Verwicklungen, die sich bei den meist fruchtbar nebeneinander herlaufenden ehelichen Verbindungen des Preußenkönigs oft ergaben, würden auch dem Lichtspiel dankbare Vorwürfe liefern, wenn auch bei dem »vielgeliebten« und vielbeweibten König von Preußen die Formen der Liebe weniger vornehm und der Wert der liebenden Frauen geringer waren als bei dem französischen Vorbilde, Ludwig XV. Dafür verdient aber die – im Dienste des preußischen Königs – verständnisvolle Mitarbeit führender Adelsfamilien sowie der kirchlichen und juristischen Behörden gerühmt zu werden, die in Berlin so viel hingebender als in Paris ihrem Könige die Bahn für seine erstaunlichen Leistungen geöffnet haben. Die unerbittliche Verständnislosigkeit der kirchlichen Behörden in Frankreich führte zu dem großen »Kulturkampfe« Ludwigs XV. und der Frau von Pompadour, einem Kampfe, der – anders als die kleine Nachahmung, die Fürst Bismarck in Preußen versucht hat – mit der Niederlage der Geistlichkeit endete. Die allzu unbeugsame Geradheit und vorurteilsvolle Nackensteifheit der 1764 aus Frankreich verjagten Jesuiten fand damals im duldsameren Preußen Zuflucht, wo sie aber die von Bismarck bekämpfte Macht nur allmählich gewannen. Im Preußen Friedrich Wilhelms II. gab das Oberkonsistorium noch ausdrücklich und unter geschichtskundiger Berufung auf Luthers verständnisvolle Billigung der Doppelehe seine Zustimmung zu den morganatischen Nebenehen des Königs – wenigstens, wenn es sich um Trauungen mit adligen Damen handelte. Eine der bürgerlichen Geliebten, die standhafte Rietz, schrieb allerdings sehr verständnislos an ihre Mutter: »Kann man sich etwas Tolleres denken …; Der Oberhofprediger hat für hundert Friedrichsdor am Freitag die Trauung an der linken Seite im Schlosse zu Charlottenburg vollzogen. Denken Sie, liebe Mutter, man hat sogar auf Befehl ein Gesetz über die linke Handtrauung zugunsten dieser erzkomischen Winkelmariage entworfen. Die Welt lacht …; aber was wird aus mir?« Sie wurde Gräfin Lichtenau, aber die morganatische Ehe mit ihrem Könige, von der sie so verständnislos gesprochen, blieb ihr versagt.
»– ich las übrigens kürzlich, daß das Wort »morganatisch« gar nichts mit fata morgana noch mit morgenländisch zu tun hat, sondern trotz des magischen Klanges von der guten deutschen »Morgengabe« abgeleitet zu sein scheint, welche die damit überraschten morgenschönen Frauen selten abgelehnt haben sollen. Wie innig die morganatische Ehe dem deutschen Wesen verwandt ist und wie recht darum der ja urdeutsche Martin Luther mit ihrer Genehmigung getan hat, geht unter anderem auch daraus hervor, daß im mittelalterlichen Italien eine morganatische Ehe auch als eine nach deutschem Rechte geschlossene Ehe bezeichnet wurde, weil der Adel, der allein morganatische Ehen schloß, deutscher Abkunft war. Es war demnach nur billig, daß die preußischen Rechtslehrer mit dem von Luther, der preußischen Geistlichkeit und dem Könige gegebenen Beispiele wetteiferten und die morganatische Ehe, die sogenannte Ehe linker Hand, auch für nicht königlich Geborene in das echt friderizianische Landrecht einführten, eine Einrichtung, die Graf Mirabeau gelegentlich seiner Berliner Studien sehr bewunderte, wie ja begreiflich ist nach den Scherereien, die man wegen seiner Sophie auch ihm in dem übertrieben sittenstrengen Frankreich gemacht hatte.
»Das alles zeigt,« folgerte Manfred, »daß sich wirklich zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Entwicklung des norddeutschen Ehelebens unter königlich preußischer Führung als vielversprechende Verwirklichung der sokratischen Fruchtbarkeitslehre auszugestalten begann. Daß trotzdem noch nicht alle Schwierigkeiten überwunden waren, machte mir gestern ein Freund klar, der ernste Einwendungen gegen den letzten Aufzug meines Lustspiels »Iphigenie« erhob, weil dort Iphigenie des Thoas Nebengemahlin wird. In einem geschichtlichen Rückblick beklagte er die traurige Ratlosigkeit des Schoßhündchens, mit dem Herzog Karl August, als er auf dem berühmten Tanzkongreß in Wien weilte, seine in Weimar zurückgebliebene Gemahlin erfreuen wollte. Mangels sorgfältigerer herzoglicher Anweisungen wußte das arme Tier bei seiner Ankunft in Weimar nicht, ob es sich in den Schoß der Herzogin oder in den der Frau von Heygendorf, geb. Jagemann, legen sollte. Daß die wechselseitigen Beziehungen mehrerer Gemahlinnen ein großes Maß von Takt erfordern, darüber hat mich dieser Verurteiler der morganatischen Iphigenie nicht im unklaren gelassen; er bestand darauf: »Das Verhältnis zwischen Iphigenie und des Thoas Gemahlin rechter Hand, das ist die größte Schwierigkeit Ihres Stückes, der Sie viel mehr Aufmerksamkeit hätten schenken müssen!« Es überzeugte ihn nicht, als ich ihn auf Goethes Stella und Cäcilie und auf das »Wir sind dein!« Cäcilies verwies. »Das sind Redensarten eines Dichters,« sagte er, »auf die praktische Durchführbarkeit kommt es an. Friedrich Hebbel hat mit Recht Goethes Stella als ›ein durchaus unsittliches Produkt‹ bezeichnet und sich dagegen gewehrt, ›im Institut der Ehe allen möglichen Sünden-Greuel unterbringen‹ zu wollen.« Ich entgegnete, Hebbel habe doch den Grafen von Gleichen gelobt und auch selbst gezeigt, wie man zwei Frauen haben und sogar im selben Hause einträchtig beieinander wohnen lassen kann. »Eine höchst bedauerliche, eine ganz verwerfliche Ausnahme!« rief mir unzufrieden mein Monogamist. Ich erzählte ihm von den angenehmen Eindrücken, die ich beim Besuche einer Mormonenkolonie in Mexiko gewonnen hatte, wo die verschiedenen Frauen eines Mannes verschiedene Güter bewirtschaften und sehrzufrieden leben.»Das sind halbbarbarische Verhältnisse!« meinte mein Zweifler. Ich erinnerte an Ludwig XV., der sich nachts manchmal gleichzeitig mit zweien von den fünf Schwestern einschließen ließ, die er geliebt hat. »Das waren verworfene Menschen«, rief mein Richter. Vergebens erzählte ich ihm, daß Friedrich der Große einer der beiden Schwestern schriftlich die »tief in sein Herz gegrabene Dankbarkeitsschuld Preußens für die ewige Allianz« versichert hat, die sie zwischen Friedrich und Ludwig XV. herbeiführen half. »Diplomatische Höflichkeitsphrasen«, rief mein Scharfrichter. Daß Friedrich II. es als den schönsten Traum bezeichnet hat, König von Frankreich zu sein, rührte ihn nicht. »Das bezog sich auf Ludwig XIV., nicht auf Ludwig XV.« Ich erweichte ihn auch nicht durch meinen Bericht über die Art, wie Louvois den Besuch Ludwigs XIV. in Dünkirchen vorbereitete, indem er dem Kommandanten der Stadt in den noch erhaltenen Tagesbefehl schrieb: »Richten Sie für Frau von Montespan das Zimmer ein, das auf dem Plane mit L bezeichnet ist, und lassen Sie daselbst eine Tür zu den Gemächern des Königs brechen. Die Herzogin von la Vallière wird in dem Zimmer wohnen, das auf dem Plane mit V bezeichnet ist, woselbst dieselbe Maßregel getroffen werden muß.« Mein hochnotpeinlicher Freund entschied: »Französisch-unsittlicher Mißbrauch königlicher Gewalt.« Ich rief das Gedächtnis der großen Maria Theresia an, die, im Vollbesitze aller Hoheitsrechte wie eine Bienenkönigin, ihrer treugeliebten Drohne Franz sechzehn Kinder gebar und dann nach seinem Tode weinend zu seiner schluchzenden Geliebten, der Fürstin von Auersperg, sagte: »Meine liebe Fürstin, wir haben viel verloren.« »Wiener Sittenverderbnis«, rief der Entrüstete und verließ mich.
»Solche Leute wollen dem großen Moralpsychologen Bernard Shaw nicht glauben, daß gerade edle Frauen sich lieber mit einem Zehntel von dem zufrieden geben, was sie für einen Mann erster Güte halten, als mit zehn Zehnteln eines Mannes zehnter Güte, ja, daß sich um einen Mann erster bis zehnter Güte oft mehr als zehn Frauen zanken; und solche Leute wollen dem großen Sokrates nicht glauben, daß ein Mann erster Güte die Pflicht hat, sich nicht nur zu verzehnfältigen, sondern zu verdreißig- und versechzigfältigen!
»Denn sicher, statt wie Nietzsche auf die Schädlichkeit des Beischlafs für Philosophen hinzuweisen, will Sokrates im Gegenteil den Philosophen in dieser Hinsicht kaum Schonung genehmigen. Er meint, »daß dem Staat ein Ende des Unheils nicht beschieden sein wird, ehe nicht das Philosophengeschlecht zur Herrschaft gelangt«, daß deshalb die Philosophen zwischen dem dreißigsten und fünfzigsten Jahre möglichst viele Kinder zeugen müssen und daß ihnen »mehr Gelegenheit zu ehelichen Freuden geboten werden soll als den anderen«. Um dieses Übermaß zu ermöglichen, meint der weitsichtige Sokrates: »Unsere Herrscher werden, wie es scheint, mancherlei Trug und Täuschung anwenden müssen zum Heile der Beherrschten«. Jedesmal, wenn die Frauen, wie in Athen die Staatsmänner, durchs Los verteilt werden, »muß man also«, sagt Sokrates, »eine gewisse Art schlau erdachter Lose erfinden, damit der minder Würdige bei der Zusammenpaarung«, wenn er nicht oft oder nur eine weniger begehrenswerte Frau erhält, »die Schuld auf den Zufall schiebe, nicht aber auf die herrschenden Philosophen«. Seine »unbedingt richtige« Absicht hoffte Sokrates durch »Hochzeiten so heilig wie nur möglich« zu heiligen.
»Empfindsame Leser der platonischen Schriften haben gemeint, des Sokrates Plan, die Frauen auszulosen, sei nicht ganz geschmackvoll oder gar im Widerstreit gegen die besten Erfahrungen der Zuchtwahl. Was den guten Geschmack anbetrifft, will ich Sokrates zu Ehren an das Urteil des alten Bischofs von Canterbury denken, der gefragt wurde, ob nach seiner langjährigen Beobachtung die Liebes- oder die Vernunftehen glücklicher seien; er antwortete: »Ich wage kein Urteil zu fällen. Wenn man die Namen der heiratsfähigen Mädchen wie Lose in einen Sack füllte und jeden heiratslustigen Mann mit verbundenen Augen hineingreifen und so wählen ließe, könnte das Ergebnis kaum überraschender sein als die widerspruchsvolle Entwicklung der mannigfaltigen Ehen, die ich zu beobachten Gelegenheit hatte. Das Ergebnis widerspricht zu oft allen Erwartungen!« Das ist eine Wahrheit, deren Erkenntnis dem echten Philosophen geradezu angeboren zu sein scheint; jedenfalls habe ich mich oft beglückwünscht, nicht zu den Philosophen zu gehören, weil bei diesen Opfern der Wissenschaft Drang und Fähigkeit, sich sozusagen für jede beliebige Frau zu erwärmen, oft zu derselben atemberaubenden Höhe entwickelt ist, auf der Leporellos Registerarie den Übermenschen Johannes Tenorio, genannt Don Juan, entdeckt. Es ist wohl recht eigentlich eine Tugend der großen Liebhaber und der Philosophen, wie ja auch Gottes und der Könige, in Frauenangelegenheiten – wenn ich so sagen darf – ganz »über den Parteien zu stehen«. Das »suum cuique« oder: »einer jeden Gerechtigkeit widerfahren lassen«, ist das Wesen philosophischer Anschauung. Der geistvolle scholastische Philosoph Duns Scotus hat mit seinem potuit – decuit – fecit das Wesen Gottes klar erkannt und damit den Streit um die unbefleckte Empfängnis siegreich zu Ehren Mariä entschieden. Jeder Philosoph scheint dem göttlichen Beispiel nachzustreben. Er weiß, die größte Sünde, die eine irdische Frau begehen kann, ist: nicht zu lieben; der Philosoph – potuit – decuit – fecit! – er kann sie davor bewahren! es ziemt ihm, sie davor zu bewahren! und er bewahrt sie! Auch dem Heile der menschlichen Zuchtwahl scheint damit überraschenderweise gedient zu sein; die Urkräfte scheinen noch nicht zu wissen, in welcher Richtung das Menschengeschlecht sich entwickeln soll; sie stecken noch mitten im Versuchemachen; tüchtige Philosophen helfen fleißig, und die meisten Männer eifern ihnen nach.
»Die wichtigste Ehe, die innerhalb der letzten zweihundert Jahre geschlossen wurde, war meines Wissens die Ehe der Eltern Goethes; ich habe noch nie gehört, daß es eine Liebesheirat im romantischen Sinne des Wortes gewesen sei.«
Manfred schwieg eine Weile, als sänne er nach über die furchtbare Tragweite des eben geäußerten Gedankens; dann fuhr er fort:
»Es ist sicher kein Zufall, sondern Ausdruck einer tiefen sittlichen Gesetzlichkeit und Seelenverwandtschaft, daß gerade die Mutter Goethes von besonders warmer Verehrung für den großen König von Preußen erfüllt war. In ihren wundervollen Briefen an ihren Sohn schrieb sie: »Daß der König die Messe …; hir bleibt …; das ist mir und der gantzen Stadt ein wahres Jubelfest – denn so wie der König von uns allen geliebt wird, ist wohl schwerlich noch ein Monarch geliebt worden – wenn er einmal weg geht; so weine ich dir gewiß 8 Tage, und vergessen wird Er von uns allen Zeitlebens nicht.««
Ich äußerte meine Freude über diese verständnisvolle Würdigung Friedrichs des Großen und fragte, in welches Jahr denn sein Besuch in Frankfurt a. M. falle. Über Manfreds Gesicht ging ein Zug ungeduldiger Enttäuschung. Er antwortete:
»Der Brief ist vom 15. März 1793, und selbstverständlich sprach Frau Aja vom vielgeliebten Friedrich Wilhelm II., auf den deshalb wahrlich Goethes Wort zutrifft: »Wer den Besten seiner Zeit genug getan, der hat gelebt für alle Zeiten.« Denn wenn Sie die Jungfrau Maria ausnehmen, ist für einen Deutschen nicht Frau Rat Goethe die Beste aller Zeiten?«
Ich stimmte zu, wenigstens soweit Frau Goethe und Jungfrau Maria in Frage standen, und Manfred fuhr fort: »»Man muß den regierenden Familien neues Blut zuführen«, sagte Friederich II. in einem Augenblicke geistiger Klarheit.
»Sokrates prophezeite, daß seine Vorschläge (die heute wohl mancher Biologe gutheißen würde) »mit Hohngelächter und Schmach würden überschüttet werden«. Nachdem auch in Sanssouci, sehr zum Schaden des von dort aus regierten Landes, der sokratische Gedanke der Philosophen-Zuchtwahl unausgeführt blieb, hätte es Sokrates sicher gefreut, zu hören, daß im neunzehnten Jahrhundert endlich in Utah, einem wesentlich größeren Staate als Preußen zur Zeit Friedrichs II., der Versuch gemacht wurde, griechischer Weisheit zum Siege zu verhelfen. Passen Sie mal auf, was ich Ihnen jetzt erzählen will, wird recht lustig klingen, es ist aber doch vielleicht ziemlich ernst. In Utah, so wird glaubhaft berichtet, soll der Patriarch der Mormonen, der große »Philosoph« Smith, ganz im Sinne von Sokrates versucht haben, den Schein gleichmacherischer Gerechtigkeit mit weiser Bevorzugung der Besten zu verbinden. Wenn der Patriarch als Prophet und Beichtvater zu erlesenen Jungfrauen seiner Gemeinde sprach, hat er, so heißt es, ihnen oft die göttliche Weisung übermittelt, langsam betend links herum um den Tempel zu wandeln und sich den ersten ihr begegnenden Mann, als von Gott gesandt, zum Gemahl zu erwählen. Es soll sich dann fast regelmäßig begeben haben, daß der so wandelnden Jungfrau der Patriarch selbst, rechts herum wandelnd, als der von Gott gesandte Erste begegnete. Als ich gelegentlich einer Kraftwagenfahrt durch die farbenprächtigen Wüsten von Nevada und Utah versuchte, an Ort und Stelle Auskünfte über diese Ausbreitung der Platonischen Lehre einzuziehen, wurde mir versichert, daß der geschilderte Gebrauch auch mit der Lehre Jesu Christi im Einklang stehe, wie sie von ihm nach der Auferstehung verkündigt worden sei. Scherz und Ernst wohnen dicht beieinander. Es gibt Nörgler, die fragen, ob es weise und tugendhaft gehandelt war, daß das amerikanische Volk seit 1862 versuchte, durch Bundesgesetz die weitere Befolgung der sokratischen Lehre zu verhindern. Statt auf die von Sokrates, Jesus und Smith beabsichtigte »Vermehrung der Heiligen wie Sand am Meer zur Verbreitung ihrer Herrschaft« verließ sich mein bevölkerungsdurstiges Heimatland auf die massenhafte Heranziehung von Einwanderern aller Herren und besonders aller Sklaven Länder. Die ersten hochrassigen Einwanderer: Briten, Holländer, Franzosen, Deutsche, sind verschluckt worden von Millionen oft sehr zurückgebliebener Neukommer. Es wird Jahrhunderte dauern, ehe sich diese bunt zusammengewürfelten Massen zu einem bildungsfähigen Volke zusammenschließen können. Die alten heiligen Hoffnungen auf eine demokratisch erleuchtete Zukunft Amerikas sind schwer bedroht, im Gedränge des Pöbels zertreten zu werden. Da aber Amerika durch die bloße Wucht seiner Größe und seines Reichtums die weiße Welt beherrschen wird, sind die Folgen vielleicht sehr ernst. Wem, so könnte man fragen, ist das ungeheure Opfer gebracht worden? Der Sittlichkeit des Neuen Testamentes, das an den nahen Weltuntergang glaubte und darum die Fruchtbarkeit der Erzväter verachtete? Der Sittlichkeit, die »durch Mäßigung und durch Entbehren« Weltgeschichte machen will, wo kaum Kranke damit geheilt werden können?
»Man muß fürchten, daß Sokrates, wenn er wiedererstanden dem amerikanischen Volke die Ehre seines Besuches erweisen wollte, in ähnlicher Weise wegen seiner Anschauungen über die Ehe am Betreten des Landes verhindert werden würde, wie es neulich dem Dichter Maxim Gorki geschah.
»Nietzsches Überzeugung, daß gerade die mächtigsten und instinktsichersten Künstler sich in Zuständen geistiger Schwangerschaft und Vorbereitung des Beischlafes enthalten, könnte nicht lächerlicher widerlegt werden als durch den Ruf: une femme, mit dem Napoleon – die Staatskunst erschien Sokrates als die oberste der Künste – gelegentlich seine Arbeit unterbrochen haben soll, um sie nach flüchtigem Genuß wieder aufzunehmen. Es ist derselbe Napoleon, an dem Goethe die »wiederholte Pubertät genialer Naturen« bewundert; derselbe Napoleon, dessen Zustände geistiger Spannung beleuchtet werden durch seine eigene Schilderung: »Ich bin wie ein niederkommendes Mädchen.« Ist es Zufall, daß Napoleon gerne fragte: Sind Sie verheiratet? Wieviel Kinder haben Sie? Und daß er gerade auch an Goethe diese Fragen gestellt zu haben scheint.
»Statt aus dem Opfer der Sinnlichkeit, wie es Paulus, Leonore von Stein und Nietzsche als Vorbedingung hoher Geistigkeit gemeinsam empfehlen, kann lebensfähige, höchste Geistigkeit vielleicht am siegreichsten aus hoher Leibeskraft und befriedigter Sinnlichkeit erwachsen. Vielleicht darf nur der ungestraft mit dem Scheitel die Sterne berühren, der mit festen markigen Knochen auf der wohlgegründeten sinnlichen Erde zu stehen vermag.
»Bismarck als glücklicher Ehemann ist ein Kapitel für sich.
»Der große Ariost war ein glücklicher Ehemann.
»Racine, der größte Dichter der Franzosen, ein Mann von geistiger Erhabenheit, ist ein besonders glücklicher Ehemann gewesen. Reizend wird erzählt, wie Racine mit Frau und Kindern einträchtig einen großen Fisch zum Mittagessen schlachtete, als ein königlicher Bote den Dichter zur Tafel Ludwigs XIV. lud. Racine konnte sich nicht losreißen und sagte schließlich dem Höfling: »Erzählen Sie dem König, wie Sie uns hier beisammen getroffen haben, und daß meine Kinder untröstlich wären und mich für einen Spielverderber halten würden, wenn ich jetzt wegginge. Bitte, fragen Sie den König, ob ich nicht lieber morgen kommen könnte.« Nietzsche könnte da wohl einwenden, daß der Anfang der Ehe Racines – er heiratete als achtunddreißigjähriger Mann – zeitlich mit dem Anfange seines zwölfjährigen Verstummens als Dichter zusammenfällt. Dem entgegen würde man darauf hinweisen, daß Racines Verstummen kaum etwas mit seiner Ehe zu tun hatte, daß es vielmehr zusammenhängt mit jener geheimnisvollen großen Wendung im Leben des Dichters, die ihn nach dem Mißerfolge seiner »Phèdre« der Kunst entsagen ließ, und die ihm religiöse Vertiefung und höchste Reife brachte. Schenkte der Ehemann doch der Welt nach zwölfjährigem Schweigen zwei unschätzbare Trauerspiele, von denen »Athalie« nach dem Urteile Voltaires »die Meisterschöpfung des menschlichen Geistes« ist und darum Friedrich II. zu der Behauptung hinriß: er möchte weit lieber die »Athalie« gedichtet als die Siege des Siebenjährigen Krieges erfochten haben.
»Erst als »Athalie« wieder ebensowenig Anklang fand wie einst »Phèdre«, verstummte Racine für immer. »... es fehlte das Publikum, dergleichen mit Empfindung zu hören und aufzunehmen«, sagte in überraschend ähnlicher Lage Goethe, als er Weimar und Deutschland tadeln mußte und Paris rühmte. »Hätte ich Wirkung gemacht und Beifall gefunden, so würde ich euch ein ganzes Dutzend Stücke wie die ›Iphigenie‹ und den ›Tasso‹ geschrieben haben.« Warum nicht?! Tizian und Beethoven haben auf Bestellung, und immer Ausgezeichnetes, geschaffen. Und Racine hätte vielleicht der Phädra und Athalie viele Schwestern geben können, wenn diesmal nicht sogar in Paris die Menschen dem Genie mit stumpfsinnigem Widerstande begegnet wären.
»War es bei Racine sicher nicht die Ehe, die ihn verstummen machte, so lähmten Goethes geistige Schöpferkraft weder Ehe noch Verzweifeln an dem »Wahn, als sei es möglich, ein deutsches Theater zu bilden«. Bei der Wahl seiner Frau hat Goethe nicht soviel Urteil bewiesen als Racine. Schade, nichts ist mehr geeignet, an Goethes Physik, an dem Werte seiner früheren Geliebten, ja an dem Werte aller ihn umgebenden Frauen irre zu machen, als dieser Fehlgriff. Irgendwo war etwas nicht in Ordnung, wenn dieser größte Herzenskenner eine Frau wählen mußte, die nicht nur seiner nicht würdig war, sondern die manchmal sogar gestört zu haben scheint. Einen wertvollen Vergleich bietet Molière, auch ein Künstlerphilosoph und Herzenskenner ersten Ranges, der mit vierzig Jahren eine ganz junge Frau heiratete und dabei noch schlimmer fehlgegriffen haben soll. Wenn die Verleumdungen, die gegen Molières Frau in Umlauf gesetzt wurden, begründet sind, dann findet sich eine Erklärung für Molières Mißgriff vielleicht in seiner ungünstigen gesellschaftlichen Stellung; ihm war als Schauspieler nicht nur der Sitz in der Akademie, sondern wahrscheinlich auch die Hand mancher ihm zusagenden Frau unerreichbar. Armande Béjart …;! Christiane Vulpius …;! Dem Ehemann Molière gelingen die kühnsten Griffe nach dem Kranze des größten Lustspieldichters der Welt, und Goethe, dem reizendsten Liebhaber und Ehemann, den man sich denken kann …; »umleuchtet der Glanz des helleren Äthers die Stirne«. Manche halten den Goethe des »Werther«, des ersten »Faust«, andere den des »Tasso« und der »Iphigenie« am höchsten. Vielleicht könnte man das jeweilige Alter eines Mannes aus seiner Vorliebe für gewisse Werke Goethes bestimmen. Als Vierzigjähriger finde ich die höchste Geistigkeit Goethes in der »Helena«, der »Pandora«, dem »Diwan«, vielleicht in der Farbenlehre, um nur einige der Sonnen zu nennen, die »auf einmal wunderbar im Süden aufgingen«.
»Das Feuer dieser Kunstwerke nährt seine Flamme nicht aus Entbehren, sondern im Gegenteil aus der heiter verklärten Sinnlichkeit, man könnte fast sagen Häuslichkeit. »Angenehme, häuslich gesellige Verhältnisse gaben mir Mut und Stimmung, die römischen Elegien auszuarbeiten und zu redigieren.« Das »ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh geworden«, ist wohl etwas zu schwarz gemalt, denn man darf daneben den beseligten Dank halten, mit dem Goethe von den zwanzig Jahren seit seiner Reise nach Italien spricht:
Zwanzig Jahre ließ ich gehn
und genoß, was mir beschieden;
eine Reihe, völlig schön,
wie die Zeit der Barmekiden.
»Das Geheimnis der beseligenden Wechselwirkung zwischen beglückter Sinnlichkeit und höchster Geistigkeit ist nirgends hinreißender zum Ausdruck gebracht als in dem mangelhaft reimenden Gedicht »Selige Sehnsucht«.
In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.
Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.
Keine Ferne macht dich schwierig …;
Geistigkeit ohne Sinnlichkeit erscheint mir wie Kunst ohne Überlieferung, wie gesellschaftliches oder gar politisches Leben ohne volkstümliche Teilnahme – etwas Ungeheuerliches, Totgeborenes, fast etwas Widerliches, wie künstlich gemachte Sprache, ein Volapük statt des gewachsenen, lebendigen Wesens, dessen Nähe beseligt. Kunst und Staatsleben ohne Überlieferung – unmöglich!«
Manfred Ellis hatte sich fast in einige Erregung hineingeredet. Dann brach er plötzlich ab, griff nach einem Manuskriptbande, auf dem ich »Briefwechsel Friedrichs II. – Fredersdorf« las, und sagte in einem anderen Ton: »Friedrichs II. Note an seinen Kammerdiener Fredersdorf: »kann er eine hübsche Hure mitbringen, so ist es gut, denn die fehlet uns«, welche von dienstfertigen Kolporteuren des Königs ins Jahr 1754 verlegt wird, kann wohl – wenn sie nicht zu den »unausrottbaren« Anekdoten gehört – nur als harmlose Prahlerei des Königs gedeutet werden; es sei denn, daß er krank war oder Musik wünschte. Krank? Ja, am 6. Dezember 1745 – also viel früher schon – schrieb er aus dem zweiten Schlesischen Krieg an Fredersdorf: »Schlaff und apetit fehlet mir und bin ich wie die Schwangeren Weiber, die unordentliche lüste haben, aber es wil doch nicht recht fohrt.« Oder Musik? Ja, der große Weise von Sanssouci pflegte in seinem anmutigen Rokoko-Deutsch die gottbegnadeten Künstlerinnen seines Jahrhunderts, die er nicht selten zwangsweise für sich singen ließ, im schriftlichen Verkehr mit seinem Minister (!) Fredersdorf »Huren« zu nennen, durchaus nicht, weil er sie etwa dazu gemacht hätte – dazu war er zu höflich? oder hatte zuviel Achtung vor dem harterarbeiteten Virtuosentum dieser Künstlerinnen? – sondern wohl nur der Einheitlichkeit seiner königlichen Kunstpflege zuliebe. So wie er etwa an seine Schwester Wilhelmine am 16. Mai 1753 schrieb: »Wie ich sehe, willst Du Dir einen Schriftsteller anschaffen«; oder an Fredersdorf Ende August 1754: »Um die Truppe zu kompletieren, müssen noch drei Schurken dazu« (er meinte: noch drei Schauspieler); oder Ende Juni 1754 an denselben: »er Sol mihr einen Jungen buben Kaufen in Rohm, der eine Schöne Stime hat«. (Er legte Wert auf Kastraten-Gesang.) Man sieht, der preußische Weise hatte die Grenzen zwischen Käuflichkeit, Prostitution, Kunst und Schurkerei auch damals noch nicht erforscht.
»Als Einundzwanzigjähriger schrieb er: »Ich liebe das weibliche Geschlecht, aber ich liebe es etwas flüchtig. Ich will von ihm nur den Genuß, und dann verachte ich es.«
»Aber von Hurerei hielt er sich schon früh ebenso fern wie von platonischer Fruchtbarkeit zur Vermehrung seines Volkes von Kriegern und Denkern. – Je mehr ich darüber nachsinne, desto unklarer wird mir, was dieser König, der doch für einen sittlichen Denker gilt, eigentlich wollte. Der Königliche Historiograph Preuß (I. 427) berichtet, daß Friedrich der Große in seiner Garde sogenannte »Liebstenscheine« verteilen ließ, »das heißt die Erlaubnis, nach der ein Soldat mit einem Frauenzimmer, welches er geschwängert, in einer natürlichen Ehe lebte«. Andererseits berichtet derselbe preußische Historiograph, daß Friedrich die Ehe bei seinen Freunden und Soldaten so erfolgreich zu hintertreiben wußte, daß zum Beispiel, »als sein berühmtes baireuthisches Dragonerregiment 1778 ins Feld rückte« – wieder gegen den deutschen Kaiser – »von allen vierundsiebzig Offizieren nicht ein einziger verheiratet war«.«
Noch einmal brach Ellis plötzlich ab und schloß dann mit der Frage: »Ist Ihnen übrigens gegenwärtig, daß der »Exjesuit von Sanssouci« – so nannte sich Friedrich II. am 20. April 1776 – dem damals zweiundachtzigjährigen Voltaire empfahl, Kinder zu zeugen?: »Das wäre ein gutes Werk.« So viel unverbindliche Einsicht und Leutseligkeit zeigte der königliche Philosoph selbst gegen den achtzehn Jahre älteren »Patriarchen«, den er oft »Schurken« genannt hat, aber zu dem er noch lange »jeden Morgen betete«. (22. VI. 1780).«
Mir war nichts gegenwärtig, und wir sagten uns gute Nacht. Wohin Ellis' Gedanken zielten, wurde mir nur sehr allmählich verständlich. Seine Betrachtungen wurden später, im dritten Gespräche fortgesetzt. Zeitlich folgte erst die eigenartig fesselnde Erörterung zwischen Manfred und einigen seiner amerikanischen Freunde über König Ödipus und das von ihm gebrachte Opfer seiner Krone und seiner Augen, mit dem er sein gottverfolgtes Volk zu retten suchte. Diese Erörterung soll hier übergangen werden, ebenso wie die eingehende Unterredung, die Ellis an einem der folgenden Tage mit verschiedenen angesehenen deutschen und französischen Schriftstellern über Napoleon I. und Friedrich II. hatte. Diese Gespräche über Ödipus und Napoleon sind so umfangreich, daß sie den Rahmen des vorliegenden Buches sprengen würden; sie müssen deshalb als eine gesonderte Veröffentlichung erscheinen. Hier sei nur erwähnt, daß eine überraschende Verwandtschaft zwischen Friedrich II. und Napoleon festgestellt wurde, daß Napoleons Beziehungen zum weiblichen Geschlecht »fast ebenso roh« erschienen wie die Friedrichs II., daß beide das »Bündnis zwischen der französischen Philosophie und dem Säbel« (Taine) versuchten, daß beider Pläne scheiterten, daß aber Napoleons Tun in mancher Hinsicht großartiger, verheißungsvoller und weniger zerstörend, ja sogar aufbauend (das glaubte ja auch Goethe) genannt wurde. Erwähnt sei hier auch Bismarcks Hinweis (13. IV. 1880) auf Karl I. von England, »der anständig auf dem Schafott gestorben …; das sei ein ebenso ehrenvoller Tod wie auf dem Schlachtfelde«; wozu Ellis bemerkte: »Mir erscheint es immer fast wie Geschmacklosigkeit, wenn Köpfe im Frieden oder Krieg behandelt werden wie Fingernägel, die man nach Bedarf abschneiden kann. Köpfe, die man abgeschnitten hat, sitzen nachträglich oft um so fester. Die englische Kopfabschneiderei hat sich auch gerächt. Der große Milton, den man in Deutschland vielleicht noch nicht genug (statt Friedrichs II.) als den geistigen Vater Klopstocks und somit der neueren deutschen Literatur verehrt, mußte sein erhabenes, sein übermächtiges dichterisches Feuer auf lange Zeit ganz in den Dienst der Politik stellen und mußte Buch auf Buch zur Rechtfertigung der Hinrichtung seines Königs schreiben. Seinen lodernden Schriften über: »Die Dauer des Amtes von Königen und Obrigkeiten« und die »Verteidigung des englischen Volkes« stellten die Royalisten ihr »Eikon Basilike« – das Bild des Königs – entgegen. Aber Milton antwortete mit seinem »Eikonoklastes«, einem Buch, dessen Titel man in das gegen Fremdwörter stolzere Deutsch mit »Bilderstürzer« oder »Götzendämmerung« oder »Wie man mit dem Hammer philosophiert« oder mit »Königsopfer« übertragen könnte. Hätte Milton seine politischen Kampfschriften zehn Jahre vor der Hinrichtung seines Königs geschrieben, statt hinterher, dann wäre dieses plumpe Königsopfer vielleicht nie nötig geworden. Die trotzdem festen sittlichen Grundlagen der inneren Politik des »freien« England sind später viel bewundert worden, z. B. von Bismarck, von Ranke und von den vielen Staatsmännern, die englische Verfassungsgesetze nachahmten. Wer diese Bewunderung teilt, wird bedauern müssen, daß ein Milton ebenbürtiger Dichter wie Goethe in den Jahren, die er der Politik bereitwillig opferte, seine Zeit mit geringfügigem Kleinkram oder mit erfolglosen Vorstößen in die große Politik vergeuden mußte, statt wie Milton, die politischen Grundlagen seines Volkes zu stützen oder wenigstens zu legen.«
Schließlich seien noch die Worte Goethes erwähnt, auf die Ellis sich ebenfalls in der Unterhaltung über Odipus berief:
Daß Ödipus sich die Augen ausreißt, ist eine Dummheit und nicht weinerlich; daß Aristophanes sich über die Menschen mokiert, ist ein Ernst, aber nicht lächerlich.
Sophokles ist ironisch …; Das sogenannte Trauerspiel ist eigentlich das wahre Lustspiel und das sogenannte Lustspiel das eigentliche Trauerspiel, wenn man über etwas weinen oder lachen dürfte.