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Könige und geprügelte Künstler
Und schlugen ihm das Haupt mit dem Rohr, und verspeieten ihn,
und fielen auf die Knie, und beteten ihn an.
St. Marcus 15, 19
Ein deutscher Schriftsteller – ein deutscher Märtyrer! Sie werden
es nicht anders finden.
Goethe (1830)
Am nächsten Tage entspann sich ein Gespräch, das mir gleichsam als der Abschluß der Äußerungen Manfreds über Friedrichs II. Stellung zur deutschen Literatur erscheint (vgl. S. 105 ff. und S. 308 ff.). Auch an diesem Gespräch nahm Herr Thomas Mann vorübergehend teil.
Hegemann: »Was Sie gestern von Voltaires Spott über die Selbstmorddrohungen Friedrichs des Großen erzählten, hat mir eine schlaflose Nacht bereitet. Wenn Voltaire zu diesem Spotte berechtigt gewesen wäre, dann würde das Bild des großen Königs darunter leiden, was ich unendlich bedauern müßte, denn die erhabene Erscheinung Friedrichs des Großen ist mir oft ein unentbehrlicher Herzenstrost.«
Manfred: »Sie scheinen die Auffassung Macaulays zu teilen, »von all den Waffen des Geistes, die je geschwungen wurden, war die fürchterlichste der Spott Voltaires. Heuchler und Tyrannen, die der Jammer und die Flüche von Millionen Untertanen ungerührt gelassen hatte, wurden bleich beim Namen Voltaires«.«
Hegemann: »Es tut mir leid, daß ich Sie gestern unterbrach, als Sie von Voltaires Antworten auf die königlichen Selbstmorddrohungen zu erzählen begannen. Heute fühle ich, ich muß Näheres über die Angelegenheit erfahren; nicht, weil Sie diese Antworten Voltaires als das Drolligste bezeichneten, was er geschrieben hat, sondern weil mir die Sache unseres großen Königs nahegeht.«
Manfred: »In der Tat, nichts könnte fesselnder sein, als zu verfolgen, wie Voltaire sich mit den unablässigen Selbstmorddrohungen seines Schülers und mit Friedrichs Drängen auf Friedensvermittlung abfand. Voltaire war ein überlegener Beobachter, der Geist, der Witz im Sinne Goethes besaß. »Der Witz wird immer für ein Anzeichen eines kalten Gemüts gehalten,« sagte Goethe 1809, »er ist nur das eines besonnenen, freien, schwebenden, das sich von den Gegenständen losmachen kann …; Der Witz ist das Bild von der Idee; ja er ist die Idee selbst mit dem Minimo von Realität verkörpert«. So sagte Goethe. Friedrich II. hat allerdings einmal gemeint: »Der Witz ist eine Schminke, die nur die Häßlichkeit der Züge deckt«; aber Goethe hielt den Witz gerade guter Geister würdig.
»Voltaire kannte den großen König zu genau – hatte er ihn doch selbst »den Großen« getauft – als daß er hätte ernst bleiben können beim Lesen der heroischen Jeremiaden Friedrichs II. Goethe hat besonders gerühmt, Voltaire habe in seinen Gedichten an Personen geschickt vermieden, »je die Linie der Konvenienz zu überschreiten«. Voltaire versuchte es auch gegenüber den abenteuerlichen Zumutungen Friedrichs II. mit » Konvenienz«. Zuerst beruhigte er den Aufgeregten. »Majestät«, schrieb Voltaire, »haben in Frankreich viele Parteigänger; ich weiß sogar ganz bestimmt, daß viele dort das Gleichgewicht erhalten wissen möchten, das Euer Majestät Siege herbeigeführt haben …;« »Euer Majestät bewundern den Tod Catos und Othos, …; aber unsere Sitten und Euer Majestät Lage sind durchaus nicht danach angetan, einen freiwilligen Tod zu erfordern …; Es ist geradezu Pflicht für einen Mann wie Eure Majestät, sich am Leben zu erhalten …; Ich wage noch einen Schritt weiter zu gehen; glauben Sie mir, wenn Ihre courage Sie derartig zum heldenhaften Äußersten triebe, es würde nicht gebilligt werden …;«
»Aber Friedrich ließ nicht locker und störte, mit oder ohne Vermittlung der Schwester Wilhelmine, das Schweizer Tuskulum des spottenden Patriarchen durch immer neue Aufforderungen in Poesie und Prosa, Voltaire möge Frieden vermitteln – oder ich bring' mich um! Voltaire so bestürmt, mußte deutlicher werden. Getreu seinen alten Pflichten als poetischer Berater Friedrichs II. mahnte er: »Ihre poetische Epistel an die Königliche Hoheit Ihre Schwester wird die Menschen zu Tränen rühren, vorausgesetzt, daß Sie es unterlassen, darin von Ihren eigenen Tränen zu sprechen …; Sie lieben den Ruhm und suchen ihn heute in einem Tode, wie ihn andere Menschen selten wählen …; es gibt gewisse Leute, die Sie verspotten werden. Ich füge hinzu, denn jetzt muß alles gesagt werden, daß kein Mensch Sie (wie den von Ihnen bewunderten Cato) als Märtyrer der Freiheit ansehen wird. Man muß sich selbst Gerechtigkeit widerfahren lassen: Sie wissen, an wie vielen der Höfe Europas man sich darauf versteift, Ihr Betreten Sachsens als Bruch des Völkerrechtes zu betrachten …; Ich bin bald fünfundsechzig Jahre alt, und Sie wissen, ich bin sehr unglücklich gewesen, aber ich würde den Tod eines Glücklichen sterben, wenn ich wüßte, Sie bleiben auf der Erde zurück und beschäftigen sich damit, das in Taten umzusetzen, was Sie in Ihren Schriften so oft empfohlen haben.«
Das war wohl zuviel verlangt.
»So ließ denn Friedrich nicht locker, auch nach der Schlacht von Roßbach, Voltaire immer wieder aufzufordern, er solle helfen, »daß das heroische Fieber Europas bald geheilt werde«. Voltaire sah sich gezwungen, noch deutlicher zu werden, und er vermahnte weiter: »Ich erinnere mich, daß Euer Majestät oft gesagt haben, die Bewohner Schlesiens seien Dummköpfe. Wirklich, Sire, Sie sind sehr gütig, über diese Leute herrschen zu wollen …; Gewiß ist es mir peinlich, daß ich drei Zwanzigstel meines Vermögens in Steuern abführen und mich so zugrunde richten muß für die Ehre, gegen Sie Krieg zu führen; aber glauben Sie nicht, es sei Geiz, der mich den Frieden wünschen läßt; nein, durchaus nicht, sondern ich sorge für Ihr Leben …; Eure Majestät drohen, daß Sie, wenn man Sie zum Äußersten treibt, schließlich noch Unheil anrichten und ein Taugenichts werden: ja, ist denn das eine Neuigkeit?! Was seid ihr denn sonst, ihr Herren der Erde? …;««
Selten habe ich Manfred heiterer gesehen als beim Vorlesen dieser Voltaireschen Briefstellen. Thomas Mann aber billigte diese Auffassung der Haltung Voltaires nicht und machte uns auf die recht scharfe Abfertigung aufmerksam, die Voltaire von Friedrich zuteil geworden ist: »»Lernen Sie doch endlich in Ihrem Alter, in welcher Art Sie mir zu schreiben haben! Merken Sie es sich, daß es für Schriftsteller und Schöngeister erlaubte Freiheiten und unerträgliche Unverschämtheiten gibt!««
Manfred: »Es sieht beinahe so aus, als habe Friedrich II. mit diesen Worten den preußischen Geschichtschreibern eine Freude machen wollen. Er muß damals für einen Augenblick geglaubt haben, Voltaire lasse sich von ihm einschüchtern; aber der König besann sich schnell. Er entschuldigte sich und verglich sich mit einem verwundeten Eber, der über ein unschuldiges Lamm hergefallen sei; er überschüttete Voltaire wieder mit Schmeicheleien und vor allem mit neuen Bitten, »durch ein geschicktes Manöver den Frieden herbeizuführen«. Friedrich II. hielt den »göttlichen« Voltaire für allmächtig und für eigens dazu berufen, friderizianische Fehler »wieder ins gleiche zu bringen«.
»Aber ganz abgesehen von den Vorteilen, die er aus Voltaire zu ziehen hoffte, hatte denn Friedrich wirklich Grund, in diesem Zusammenhange über Voltaire zu klagen? Hatte nicht Voltaire ganz im Sinne hoher Staatsweisheit, ja ich möchte sagen Bismarckscher Staatsweisheit, und edler Ziemlichkeit – etwa im Sinne der »Konvenienz«, die Goethe bei Voltaire bewundert – an Friedrich II. geschrieben, für ihn gehandelt und über ihn geurteilt? Und ist die Zurechtweisung, die Friedrich wagte, Voltaire möge sich eines schicklicheren Tones befleißigen, nicht besonders deshalb drollig, weil die Bewunderung des guten Tones in den Schriften Voltaires gerade ein Lieblingsgegenstand friderizianischer Betrachtungen war? Selbst preußische Geschichtschreiber, nehmen Sie zum Beispiel W. von Sommerfeld in den »Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte«, nennen Voltaire den »Schildhalter der literarischen bienséance, der als Zensor der Satiren Friedrichs II. sich mehr als einmal zu dem Ausruf gedrungen fühlte: ›Nicht so viel Injurien!‹« Goethe hat einmal gesagt: »Eigentlich ist alles gut, was ein so großes Talent wie Voltaire schreibt, wiewohl ich nicht alle seine Frechheiten gelten lassen möchte.« Diese »Frechheiten« waren es gerade, die Friedrich II., vielleicht mehr als alles andere, an Voltaire bewunderte und die er ungeschickterweise mit »Injurien« nachahmen zu können glaubte.
»Die Zurechtweisung, die Friedrich seinem Lehrer angedeihen lassen wollte: »Merken Sie sich, daß es für Schriftsteller und Schöngeister erlaubte Freiheiten und unerträgliche Unverschämtheiten gibt!« wird in ihrer Vermessenheit besonders klar, wenn man sich erinnert, daß der Siebenjährige Krieg hätte vermieden werden können, wenn der Schriftsteller Friedrich II. von dieser seiner Weisheit Gebrauch gemacht hätte, statt durch seine »Injurien« die Mächtigen der Welt dem armen Preußen auf den Hals zu hetzen und statt sich an den fremden Höfen ein Vorrecht anzumaßen, das sonst nur Hofnarren beanspruchen. {Verw. auf Anmerkung} Die Erklärung für diese eigentümliche Anmaßung Friedrichs II. ergibt sich aus der weiteren Folge seines Briefes an Voltaire. Der preußische König fährt nämlich fort: »Werden Sie doch endlich Philosoph, das heißt vernünftig.« Es klingt, als ob Friedrich II. sich den Gegensatz zwischen König und Philosoph so dachte, daß ein preußischer König nicht vernünftig zu sein brauche, daß er Schwert und Narrenpritsche in einer Hand halten dürfe. Bismarck urteilte anders; manche seiner Bemerkungen über Friedrich II. könnten von Voltaire stammen. So sagte Bismarck einmal: »Wir leben zwar nicht mehr in der Zeit, wo verletzende Witze Friedrichs des Großen die Kaiserin Elisabeth und die Frau von Pompadour, also damals Frankreich, zu Gegnern Preußens machten«, aber »die heutige Politik eines Deutschen Reiches, mit freier Presse, parlamentarischer Verfassung, im Drange der europäischen Schwierigkeiten, läßt sich nicht im Stile einer durch Generäle ausgeführten Königlichen Ordre betreiben«. Wer sich dann an Bismarcks etwas hämische Bemerkung über Friedrichs II. Versendung von Gedichten mit der Unterschrift »Pas trop mal pour la veille d'une grande bataille« erinnert, bekommt den Eindruck, als ob Bismarck fähig gewesen wäre, sich ein wenig darüber zu ärgern, daß Friedrich II. während gerade der Kriegsjahre, in denen er am meisten dichtete, darüber geklagt hat, er habe keine Zeit, sich um die »Mißstände, Fehler und Nachlässigkeiten« in der Zivilverwaltung zu kümmern. Glaubt man bei Bismarcks Worten über den »Stil einer durch Generale ausgeführten Königlichen Ordre« nicht die Schilderung zu hören, die Voltaire nach eigener Beobachtung von Friedrichs II. Stundenplan zwischen dem zweiten und dritten Schlesischen Kriege gemacht hat: »Alle Staatsgeschäfte wurden etwa in einer Stunde erledigt«. (Der oft auf überraschend genauen Erkundigungen fußende Mirabeau sprach später von anderthalb Stunden.) »Die Staatssekretäre und Minister durften sich ihm selten nahen: es gab sogar welche, mit denen er niemals gesprochen hat. Sein Vater hatte die Staatsfinanzen so gut in Ordnung gebracht; alles erledigte sich so militärisch; der Gehorsam war so blind, daß ein Land von vierhundert Quadratmeilen wie eine Abtei regiert wurde …;« Der Rest des Morgens gehörte dem Spazierritte und der Flöte. Lucchesini hat zur Genüge über die vielstündige Ausdehnung der Mahlzeiten berichtet. Ähnlich wie Lucchesini (vgl. oben S. 88 ff.) und de Catt erzählt Voltaire weiter: »Nach dem Mittagessen zog sich der König zurück und machte Verse bis fünf oder sechs Uhr. Dann kam der französische Vorleser. Das Konzert begann um sieben Uhr.«
»Am 12. Mai und 17. August 1758 machte der König selbst folgende Schilderung seines Tagewerks in Friedenszeiten: »Ich stehe um 7 Uhr auf, und während ich mich anziehe, lese ich meine Briefe …; Ich habe an die vierzig Briefe zum Frühstück zu lesen, die Hälfte sagt nichts, ein Viertel sind sehr gleichgültig, die übrigen sind schlechte Nachrichten …; Das dauert bis halb neun, dann …; steige ich zu Pferd und reite spazieren; das dauert bis 11 Uhr. So habe ich Zeit, meine Gedanken reifen zu lassen …; Von elf bis Mittag diktiere ich. Ich höre die Gesuche, die Finanzen zweimal in der Woche, die Bittschriften. Ich esse um 1 Uhr, das dauert bis halb drei, denn ich esse nicht gern viel.‹ (Daß das Gegenteil wahr war, weiß man von Friedrichs Ärzten und von Fredersdorf, an den Friedrich wegen großer Mehrausgaben in der Küche am 6. Juli 1754 schrieb: › Ich versichere Dier, daß unßer fras (Fraß) nicht Kostbahr, aber Nuhr Delicat ist!‹ Daß die Mahlzeiten nebst Tischgesprächen oft viele Stunden dauerten, berichten übereinstimmend mit Lucchesini auch de Ligne und andere. (Vgl. oben S. 129.) Friedrich fährt fort: ›Dann gehe ich spazieren. Oft unterhalte ich mich über die Geschäfte. Um 5 Uhr lese ich, um 7 Uhr musiciere ich. Um 9 Uhr esse ich mit sechs Freunden, und wir reden viel Klatsch. Das ist am nächsten Morgen vergessen.‹«
Hegemann: »Glauben Sie wirklich, daß diese ausländischen Augenzeugen vertrauenswürdig sind?«
Manfred: »Welch unfriderizianischer Zweifel! ich kenne Sie nicht wieder! Wenn Sie aber wirklich – ausnahmsweise – glauben wollen, daß Nichtdeutsche, selbst wenn sie geistreich sind wie Voltaire, weniger Vertrauen verdienen als ein mittelmäßiger Tagedieb, wenn er deutsch ist, – gut, so lesen Sie bitte Baron von Diebitschs berühmte Aufzeichnungen über die › Specielle Zeit- und Geschäfts-Eintheilung König Friedrich des Zweyten‹, die der Insel-Verlag unter dem biblischen Titel ›Friedrichs des Großen Tagewerk‹ neu veröffentlichte. Baron von Diebitsch war nach dem Tode Fredersdorfs lange Jahre etwas wie Kammerdiener beim großen König. In seinen mühseligen Aufzeichnungen konnte ich nichts entdecken, was irgendwie den überzeugenden Mitteilungen Voltaires, de Catts oder Lucchesinis widerspräche. Diebitsch läßt z.B. Friedrichs Tafel »allezeit um 12 Uhr beginnen« und »oft noch später« als 4 Uhr dauern. Was aus von Diebitschs Aufzeichnungen allerdings zum Überdruß hervorgeht, ist dies: Friedrich II. vergaß bis in sein hohes Alter nie, was ihm sein Vater mit dem Stock eingebleut hatte. Wie der strebsamste Rekrutenleutnant, aber sechsundvierzig Jahre lang hat er denselben Drill fleißig wieder durchgedrillt, gedrillt, gedrillt, der ihm, dem Widerstrebenden und Fahnenflüchtigen, auf dem väterlichen oder besser alt-dessauerlichen Exerzierplatz zwangsweise in Fleisch und Blut übergegangen war. So wiederholte er in der Exercierzeit (1. April bis 17. Mai) dreimal wöchentlich von acht bis zehn morgens das kleine Einmaleins des Drills, und seine Leistung fand jährlich ihren überwältigend großartigen Abschluß in den Revuen, über die uns von Diebitsch haarklein bis auf die einzelnen Schwenkungen, die regelmäßig ausgeführt wurden, berichtet. Da gab es dann die berühmten Paradereiten der großen Kavallerieverbände, ›erst im Schritt, dann wurde im Trab, der immer stärker wurde, zuletzt im Galopp, und dann en Carrière, die Attacke gemacht‹. Das klappte immer so schön, daß die bewundernden ausländischen Besucher gebührend staunten. Daß man Menschen und Pferde derartig zu Uhrwerken machen könne, hatten sie doch nicht für möglich gehalten. Dann kam die Infanterie dran. Hören Sie, wie Baron von Diebitsch berichtet.«
Manfred las aus den Aufzeichnungen von Diebitschs folgende, allerdings überraschenden Sätze vor:
»›Gemeiniglich ließen an diesem Tage Seine Majestät die Kavallerie nichts weiter machen, sondern begaben sich nun zu der ankommenden Infanterie, die dann ebenfalls in zwei Treffen auf eine befohlene Art aufmarschierte. Hierbei wurden alle Haupt kommandos durch eine Kanone signalisiert, die in einer Entfernung vor der Mitte der Linie hielt. Dazu war ein königlicher Kommandant kommandiert, der darauf sah, daß, wenn ein anderer Adjutant des Königs den Befehl, das Signal zu geben, durch Vorreiten und Schwenken des Hutes bezeichnete, die Kanone gleich gelöst wurde. Der erste Schuß gab das Signal zum Halten, Einschwenken oder auf eine andere Art Aufmarschieren beider Linien, der zweite Schuß zum Chargieren der ersten Linie, mit übersprungenen Bataillonen, der dritte zur Chargierung mit Pelotons, der vierte gab das Signal zum Linksumkehrtmachen der zweiten Linie, der fünfte zum Feuern mit Bataillonen, der sechste mit Pelotons, der siebente zum Frontmachen der zweiten Linie, worauf auch gleich die Fahnen der ersten Linie vorrückten, um bei dem achten Schuß gleich anzutreten und zu avancieren. Auf das neunte Signal machte die erste Linie halt und chargierte abermals mit Bataillonen. Auf den zehnten Schuß machte solche linksumkehrt, ließ die Fahnen vortreten, und auf den elften Schuß trat sie zum Retirieren an. Sie marschierten dann, und der zwölfte Schuß gab der zweiten Linie das Signal zum Antreten, der dreizehnte geschah, wenn die erste Linie schon nahe an der zweiten war, und auf solchen ging die erste mit Linksum durch die zweite, welche im Avancieren blieb. Die erste Linie setzte sich in das bestimmte Alignement. Jeder Zug machte durch Linksum Front, und alles schwenkte dann links ein, nahm die Gewehre ab und blieb halten; der vierzehnte Schuß gab das Signal zum Halt, der fünfzehnte zum Bataillon chargieren; der sechzehnte zum Peloton chargieren, der siebzehnte zum Linksumkehrt, der achtzehnte zum Retirieren, welches bis an die stehende erste Linie kontinuiert wurde, dann gab der neunzehnte Schuß das Signal zum Durchziehen der zweiten Linie durch die erste, und sobald selbige in ihr Alignement kam, gab der zwanzigste Schuß das Signal zum Einschwenken. Die Kavallerie hatte sich einstweilen auf den rechten Flügel der beiden Linien gesetzt, und nun gab der einundzwanzigste Schuß an die Infanterie das Signal zum Gliederöffnen, der zweiundzwanzigste Schuß aber an das ganze Korps zum Paradevorbeimarsch. Alles was bei Seiner Majestät vorbeimarschierte, durfte nicht salutieren, aber wie sie an die Königin kamen, salutierten sämtliche Offiziere. Wenn alles vorbeimarschiert, setzten sich Seine Majestät wieder zu Pferde und ritten den nächsten Weg nach dem Schloß.‹«
Manfred, der beim Vorlesen verschiedentlich Anwandlungen von Heiterkeit zu überwinden Mühe hatte, wurde hier von seiner zehnjährigen Tochter unterbrochen, die seit einigen Minuten im Zimmer anwesend bei den letzten Sätzen auflauschte und halb traurig, halb mitleidig fragte: »Und was sagte die Frau Königin?«
Manfred antwortete ihr tiefernst: »Und Roß und Reiter sah sie niemals wieder.«
Als die Unterhaltung zu den militärischen Exercitien Friedrichs des Großen zurückkehrte, meinte Manfred: »Ich müßte nicht viel und gern Fußball gespielt haben, wenn ich mir nicht vorstellen könnte, daß derartige militärische Quadrillen einzupauken, bis sie klappen, – weiß der Teufel – keine Kleinigkeit ist. Namentlich, wenn das Ziel nicht, wie beim Fußball, durch Spielleidenschaft, sondern durch Nörgeln und Prügeln erreicht werden muß. Das kostet heldenhafte Geduld und königlichen Opfermut, und Friedrich der Große brachte dieses Opfer seit dem Erhalten seines Leutnantspatentes bis zu seinem Tode wohl jährlich an die zwanzigmal, wenn er nicht infolge allzu reichlicher Tafelfreuden oder Gicht das Bett hüten mußte.
»Wie sich dieser friderizianische Opfermut bezahlt machte, dafür gibt der preußische Generalstabsmajor Colmar von der Goltz folgendes tückische Beispiel. Nachdem er in seinem Buche ›Roßbach und Jena‹ (1883) nachgewiesen hat, daß das preußische Heer 1806 im ganzen nicht etwa schlechter, sondern in vieler Beziehung besser war als das Heer Friedrichs II., und daß auch die Führer (unter ihnen Scharnhorst und Blücher) keineswegs ganz jeden guten Geistes bar waren, sagt v. d. Goltz: ›Bei Jena trat die preußische Infanterie mit Echelons vom rechten oder linken Flügel, oder auch aus der Mitte an, um mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen zu avancieren, bis Musik und Paradeschritt im feindlichen Feuer ihr natürliches Ende fanden.‹ Fast wie bei einer Spezialrevue des großen Königs.«
Einer der Teilnehmer am Gespräch wandte ein: »Lassen Sie sich nicht durch die großen Schau exerzieren, die Friedrich jährlich gab, darüber hinwegtäuschen, daß der König, unabhängig davon, jedes Jahr auch die ernsthaftesten großen Truppenübungen abhielt?«
Manfred: »Richtig! darüber berichtet v. Diebitsch auch; hören Sie, was er darüber meldet.« Manfred las vor:
»›Den 23. war allemal ein großes Manöver …; Se. Majestät gaben eine Generalidee zur Disposition, nach welcher das Königliche und das feindliche Korps ihre speziellen Dispositionen formierten; sie waren zwar jedesmal verschieden, da aber dieselbe Gegend immer zu diesem Manöver gebraucht wurde, überdies Se. Majestät wegen der vielen anwesenden Fremden solche nicht zu lehrreich machen wollten, so schränkte sich deren Veränderung nur auf geringen Unterschied ein. Der Feind besetzte gemeiniglich die Gegend zwischen Steglitz, Tempelhof und Britz und wurde von der Königlichen Armee mehrenteils von beiden Flügeln attackiert, oft tourniert und überwunden.‹ Es ist unverzeihlich und recht bezeichnend für die revolutionäre Gesinnung Bonapartes, daß der Feind 1806 diesem verständigen Beispiel nicht folgen wollte.«
Manfred fuhr fort: »Jährlich, nachdem diese großen Berliner Schlachten geschlagen waren, kamen die Reisen in die östlichen Provinzen und dort wiederholte sich, wie man bei v. Diebitsch genau nachlesen kann, in Garnison auf Garnison das Berliner Schauspiel in geringeren Ausmaßen. Revue folgte auf Revue, und › Spezialrevue‹ auf › Spezialrevue‹. Das waren die berühmten jährlichen › Revuereisen‹.«
Hegemann: »Auf diesen Reisen wurden viele nichtmilitärische Dinge von großer Wichtigkeit erledigt.«
Manfred: »Zweifellos. Hören Sie z.B. die aus v. Diebitschs Berichten über die Art, wie Friedrich II. die Zeit zwischen den Revuen in den Provinzen ausfüllte: ›Se. Majestät unterhielten sich nun im Saal vorzüglich mit den anwesenden Polen, sprachen jedoch, wenn sie sonst nicht etwa ungnädig waren, auch mit dem General und Kommandanten, doch nur wenig, und begaben sich dann zur Tafel.‹«
»Friedrich II. meinte augenscheinlich, daß es einem so vorzüglichen causeur wie ihm gelingen müsse, durch Zurücksetzung der Deutschen und Bevorzugung der Polen wieder gutzumachen, was er durch seine Vernichtung der sächsisch-polischen Personal-Union der deutschen Durchdringung Polens unwiederbringlich geschadet hatte.«
Unter Manfreds Gästen war ein Herr F. von Goetz, der auf das »Reisegespräch des Königs Friedrich II. von Preußen im Jahre 1779« Unter diesem Titel hat Herr von Goetz das Gespräch neuerdings bei Georg Stilke wieder veröffentlicht. Auch Helmolt und andere haben es neuerdings wieder veröffentlicht. Deswegen mögen hier die früher weggelassenen Bemerkungen Manfreds über das Gespräch Platz finden. hinwies, aus dem Manfred schon früher eine bezeichnende Probe gegeben hatte (vgl. oben S. 128/9). Herr von Goetz sprach mit Bewunderung von den Leistungen des Königs, wie sie aus diesem Reisegespräch zu erkennen seien. »Kurz und bestimmt«, sagte Herr von Goetz, »sind die Anordnungen des greisen Königs. Seine Fragen treffen den Kernpunkt. Dazwischen köstlicher Humor. Die schlanke, nervige Herrscherhand hält statt des Degens den Krückstock, auf den sich der gebeugte Körper stützen muß. Aber in leuchtender Klarheit beherrscht sein Geist die Aufgabe, die er sich gestellt hat.«
Nach einigem Hin und Her über den Wert dieses »Reisegesprächs« suchte Manfred ein Exemplar des 1784 als Handschrift gedruckten Werkes hervor und sagte: »Ich habe in diesem Gespräch bisher nur eine dichterische Leistung des preußischen ›Vaterland‹-Dichters Gleim sehen können. An Flauheit und Unglaubwürdigkeit schien sie mir seinen übrigen Gedichten kaum nachzustehen. Ich glaubte sie nur deshalb nicht verurteilen zu dürfen, weil der Dichter den Geldertrag der Fürsorge für Soldatenkinder bestimmte, welche vom gefeierten Könige vernachlässigt wurden.«
Manfred blätterte in diesem Reisegespräch Friedrichs II. und las Proben vor wie diese: »Der reisende König fragt den Oberamtmann: ›Warum baut Ihr keinen Hanf?‹ Oberamtmann: ›Er gerät hier nicht; in kaltem Klima gerät er besser. Auch können unsre Seiler den russischen Hanf in Lübeck wohlfeiler und besser kaufen.‹ König: ›Was sät Ihr denn dahin, wo Ihr sonst Hanf hinsätet?‹ Oberamtmann: ›Weizen.‹ König: ›Warum baut Ihr aber kein Färbekraut, keinen Krapp?‹ Oberamtmann: ›Er will nicht fortkommen: der Boden ist nicht gut genug.‹ König: ›Das sagt Ihr nur so; Ihr hättet sollen die Probe machen!‹ Oberamtmann: ›Das habe ich getan; allein sie ist mir fehlgeschlagen.‹ König: ›Was sät Ihr denn dahin, wo Ihr würdet Krapp hinbringen?‹ Oberamtmann: ›Weizen.‹ König: ›Na, so bleibt beim Weizen.‹«
Manfred meinte lachend: »Auf mich wirkt dies ganze Gespräch etwa wie die berühmte Anekdote von Friedrich dem Großen und dem Bahnwärter: ›Der König traf auf einer seiner aufreibenden Revuereisen einmal einen Mann aus dem Volke und fragte ihn leutselig: »Ist er ein Bahnwärter?« »Nein, Majestät,« antwortete der Mann, »die Eisenbahn ist ja noch gar nicht erfunden.«‹ Diese und ähnliche Geschichten erzählt man sich von der Leutseligkeit Friedrichs des Großen. Wenn Sie da einen mit ›leuchtender Klarheit herrschenden Geist‹ erkennen, dann verstehe ich auch, was Sie über Friedrichs II. ›köstlichen Humor‹ sagen. Hier ist eine Probe.«
Dann las Manfred aus des Königs Reisegespräch folgendes vor: »Der König fragt: ›Was ist das für ein Mensch, der da rechts?‹ Amtsrat Klausius: ›Der Bauinspektor Menzelius.‹ König: ›Bin ich hier in Rom? es sind ja lauter lateinische Namen! Warum ist das hier so hoch eingezäunt?‹ Amtsrat: ›Es ist das Königliche Maultiergestüte.‹ König: ›Wie heißt die Kolonie?‹ Amtsrat: ›Klausiushof. Sie kann auch Klaushof heißen.‹ König: ›Sie heißt Klau-si-us-hof! Wie heißt da die andere Kolonie?‹ Amtsrat: ›Brenkenhof.‹ König: ›So heißt sie nicht!‹ Amtsrat: ›Ja, Majestät, ich weiß es nicht anders.‹ König: ›Sie heißt Bren-ken-ho-fi-us-hof.‹«
Herr von Goetz nahm das »Reisegespräch« vom Tisch und entgegnete: »Wenn Sie eine kräftigere Probe friderizianischen Humors suchen, empfehle ich Ihnen folgendes.« Und er las vor: »Der König erzählte: ›Als ich noch Kronprinz war und in Ruppin stand, da war ein alter Bürger, der wußte die ganze Bataille von Fehrbellin zu beschreiben. Da fragt' ich ihn: »Vater, wißt Ihr denn nicht, warum sich der Große Kurfürst und Karl XI. von Schweden miteinander gestritten haben?« Da antwortete der Alte: »O jo, dat will ick Se wohl seggen. As unse Chorförste is jung gewest, hät he in Utrecht studiert, und da is de König von Schweden as Prinz ohk gewest. Da hebben nu de beede Herrn sick vertörnt, hebben sick in den Haaren gelegen, und dit is nu de Picke davon!«‹ Und der Dichter Gleim fährt fort: ›Ihro Majestät haben wirklich so plattdeutsch gesprochen, sind aber bei Tafel so müde geworden, daß sie eingeschlafen sind. König Friedrich ist dann zeitig zu Bett gegangen …;‹«
Manfred: »Die plattdeutsche Antwort des Alten ist ausgezeichnet. So also stellte er sich das Zustandekommen eines Krieges vor und war völlig einverstanden damit. Und sind denn nicht die schlesischen Kriege Friedrichs II. nach seinem eigenen Geständnis noch willkürlicher vom Zaun gebrochen worden!« (Vgl. oben S. 133/4 und 298 f.) »Und war nicht Bismarck ähnlicher Meinung wie der Alte von Ruppin?« (Vgl. Sechstes Gespräch.) »Mir scheint, hätte Friedrich II. statt seiner berühmten Revuereisen gelegentlich eine Reise zur Kaiserin nach dem niebetretenen Wien gemacht, dann hätte er mehr gelernt und viele Mißverständnisse hätten vermieden, Hunderttausende am Leben erhalten und die Lebenskräfte Deutschlands viel wirksamer gesteigert werden können.«
Hegemann: »Sie dürfen nicht unterschätzen, was Friedrichs jährliche Reisen in die östlichen Provinzen für die Entwicklung dieser Gegenden und für die Zusammenfassung Preußens gewirkt haben.«
Manfred: »Friedrichs II. westliche Provinzen hatten vermocht, ihrem königlichen Zwingherrn klar zu machen, daß seine Besuche unerwünscht seien. Er hat darum den Westen in den 23 Jahren nach dem Siebenjährigen Kriege nur zweimal besucht und dort auch nur noch wenig Unterstützungsgelder verteilen lassen. Ich wüßte nicht, daß die westlichen Provinzen Preußens deswegen rückständiger seien als die östlichen. Im Gegenteil scheint Max Lehmanns Ansicht richtig, daß nach 1806 die Rettung aus den westlichen Provinzen kam, in denen Friedrich II. die Zerstörung des ständischen Lebens, also des Volkslebens, und sein militär- und steuerpolitisches Drangsalieren eingeschränkt oder eingestellt hatte und in denen er keine Festungen mehr baute, weil er diese nichtostelbischen Länder abstoßen wollte.
Womit sich übrigens der große Friedrich in Wahrheit auf seinen wichtigen Revuereisen beschäftigte, das hat er seinem Lehrer am 29. September 1775 selbst geschildert. Damals schrieb er an Voltaire: ›Wollen Sie erfahren, womit wir uns auf der schlesischen Reise unterhalten haben? So sollen Sie denn wissen, daß Sie mir Merope und Mahomet recitiert haben, und wenn die Erschütterungen des Wagens zu stark wurden, habe ich die Stücke auswendig gelernt, die mir den tiefsten Eindruck machten. So habe ich mich auf der Reise beschäftigt und oft ausgerufen: »Gesegnet sei das glückliche Genie, das gegenwärtig oder abwesend mir immer dieselbe Freude macht.«‹ Gleichviel, ob Friedrich hier flunkerte oder geglaubt werden möchte – mir scheint, das konnte nur ein blutiger Dilettant schreiben. Ich habe kein Königreich verwaltet; aber wahrscheinlich bin ich in meinen Geschäften besser bedient als Friedrich II., der alles allein machen wollte. Der Gedanke, daß es bei einem einmal jährlichen flüchtigen Besuche einer Provinz nicht genug dringende Denk- und Bittschriften, nicht genug drängende Berichterstatter und Kenner der örtlichen Verhältnisse geben könne, um Voltaire für acht Tage völlig in den Hintergrund zu drängen, kommt mir sehr kindlich vor.«
Hegemann: »Wollte da Friedrich nicht nur seinem Freunde Voltaire etwas Angenehmes sagen?«
Manfred: »Auch im Siebenjährigen Krieg rühmte Friedrich seinem Vorleser de Catt immer wieder: ›Sehen Sie, wieviel ich gelesen habe.‹«
Ein anderer Teilnehmer, der greise Herr v. W.-M., wandte ein: »Während seiner Revuereisen mag sich Friedrich der Große vorwiegend dem militärischen Dienste gewidmet haben. Aber das waren doch nur verhältnismäßig kurze Episoden in seinem Leben. Sie können doch nicht bezweifeln, daß ein Mann, der täglich um vier Uhr morgens aufstand, eine Arbeitskraft allerersten Ranges gewesen sein muß.«
Manfred: »Um vier Uhr? warum nicht um drei Uhr morgens! denn auch das kam vor, wie Diebitsch vertrauenerweckend berichtet.«
Herr v. W.-M. vermahnte mit milder Nachsicht: »Na also! schämen Sie sich einmal ein bißchen, sprechen Sie mit Ehrfurcht von der nimmermüden Energie des großen Königs.«
Zur Entgegnung nahm Manfred wieder v. Diebitschs Aufzeichnungen in die Hand und las vor: »»Bei allen Revuen gingen Seine Majestät sehr früh und oft schon vor acht Uhr schlafen. Den 26. ließen sich Seine Majestät um drei Uhr wecken.«
»Das bezieht sich auf die Zeit der Revuereisen. Ich beneide den großen König um seine großen sieben Stunden Schlaf; ich selbst schlafe meist nur sechs.«
Herr v. W.-M.: »Infolge der Erschöpfung der Reise mag der König länger geschlafen haben. Sie müssen an sein regelmäßiges Leben in Potsdam denken!«
Manfred: »Auch darüber berichtet v. Diebitsch genau: »In Potsdam brachte dann der älteste Offizier von der Wache des ersten Bataillons Garde den Rapport, den jedoch Seine Majestät nicht allemal selbst annahmen, denn da dieser Offizier nach dem Zapfenstreich, welcher im Winter und Sommer um neun geschlagen wurde, erst die Ronde gehen mußte, um zugleich von der Richtigkeit der Wachen zu rapportieren, so kam derselbe oft erst zurück, wenn Seine Majestät sich schon niedergelegt.«
»In Potsdam also um neun zu Bett und um vier Uhr aufgestanden: sind nicht sieben Stunden Schlafs ein normales Maß für einen Helden, der täglich drei bis sechs Stunden am Mittagstisch sitzt und sich außerdem täglich an ein- bis zweistündigen Konzerten erfrischt?«
Ich versuchte abzulenken und fragte: »Widerspricht nicht gerade Friedrichs Vorliebe für die Musik der These, er sei schwatzhaft gewesen, die manchmal aufgestellt wird?« (Vgl. oben S. 130.)
Manfred: »Halten Sie es für unmöglich, daß ein schwatzhafter Mensch täglich ruhig ein bis zwei Stunden lang Musik anhört? Vergessen Sie nicht, daß Friedrich der Große gewohnt war, in diesen Konzerten die erste Flöte zu spielen und sich also auch da zu hören. Später, als er nicht mehr blasen konnte, darf man wohl annehmen, daß er beim Konzerte ruhebedürftig war. Bedenken Sie, er hatte vorher seinem Vorleser zwei Stunden lang Gedichte vorgelesen, davor zwei Stunden lang gedichtet und davor drei bis sechs Stunden lang seinen Tischgenossen etwas vorgeplaudert. Schließlich erschöpft sich doch auch die Geberlaune eines ganz großen Königs.«
Herr v. W.-M.: »Sie kommen nicht darum herum, und die Akten beweisen es, daß Friedrich trotz allem eine ganz ungeheure Arbeitsleistung täglich hinter sich brachte. Sehen Sie sich nur einmal an, was er allein an Berichten, Marginalien und Geschäftsbriefen täglich geleistet hat! Lesen Sie das fünfbändige ›Urkundenbuch‹, das 1832 der vortreffliche Preuß zu seiner unbestechlichen Geschichte des großen Königs veröffentlichte. Wer aufbauende staatsmännische Arbeit und unermüdliche Treue zu schätzen weiß, kann nichts Erhebenderes lesen als dieses Tagebuch königlicher Arbeit.«
Manfred griff erfreut in ein halboffenes Bücherpaket, das auf einem Nebentische lag, und entgegnete: »Es trifft sich, daß mir gestern mein Antiquar von diesem bedeutsamen ›Urkundenbuch‹ ein Exemplar des ersten Bandes zusandte. Auf Ihre Empfehlung hin bin ich neugierig auf seinen Inhalt.«
Herr v. W.-M. nahm Manfred den Band aus der Hand mit den Worten: »Dieses vortreffliche Buch wird Ihre Zweifel an unserem großen König heilen.« Dann las er aus der »Vorrede« des Buches folgenden Satz vor: »›Gegenwärtige Urkunden werden, als unmittelbare Tatsachen, gewiß anschaulicher, als jede aus den Quellen erst abgeleitete Lebensgeschichte, den großen König in seiner unverdrossenen Treue als Landesvater darstellen.‹« Und Herr von W.-M. legte, nicht ohne gewisse Feierlichkeit, den Band in Manfreds Hände zurück.
Hierauf gab Manfred eine Probe seiner unwiderstehlichen Begabung als Vorleser und Plauderer. Er öffnete mit den Worten: »Sie machen mich wirklich neugierig«, den Band in der Mitte und las erst flüchtig, dann mit steigender Anteilnahme den folgenden von Friedrich dem Großen gezeichneten Brief:
»›Potsdam, den 11. August 1749. Mein lieber Etatsminister von Marschall. Einer Namens Simonis bittet in der Anlage um Wiedererstattung 150 Thaler welche er Anno 1746 zur Recrutencasse wegen der ihm ertheilten Assessoratstelle im Pommerschen Schöppenstuhle erleget hat, und weshalb er niemalen zu einer Hebung einiges Tractements gekommen, und befehle Ich Euch, daß Ihr Mir darüber Euren Bericht abstatten sollet. Ich bin etc.‹«
Manfred machte ein fragendes Gesicht, und Herr v. W.-M. erläuterte fast triumphierend: »Sie sehen wie treu sich der große König auch um das Kleinste kümmerte.«
Manfred: »Die nächste Urkunde, Nr. 419, ist vielleicht wichtiger, sie ist französisch. Aha, der Major de Chazot will sich einen Landsitz bauen, und Friedrich der Große setzt ihm auseinander, daß das hierzu ins Auge gefaßte Stück Land unverkäuflich ist. – Vielleicht haben wir noch mehr Glück mit der folgenden Urkunde, Nr. 420.«
Manfred las vor: »›Seine Königliche Majestät in Preußen lassen Dero General-Dir. hierbei originaliter zufertigen, was die Einwohner der Stätte Stettin und Pyritz wegen des ihnen neuerlich verbotenen Kesselbrauens für Haus consumation allerunterthänigst vorgestellet haben …;‹«
Manfred schien enttäuscht und schlug vor: »Nehmen wir lieber die nächste. Hier ist Urkunde Nr. 421: ›Seiner Königlichen Majestät in Preußen haben auf beigehende Vorstellung des Juden Abraham Levi in Gnaden resolviret, daß derselbe für das von dem Generalmajor v. Schmettau erhandelte Privilegium nicht mehr als 50 Thaler Recruten Gelder, 10 Thaler Trauschein und sonsten die gewöhnlichen Canzleigebühren bezahlen soll, und wollen Allergnädigst, daß dero General Dir. solcherwegen das Erforderliche weiter verfüge. Potsdam den 23. Aug. 1749.‹ Wenn das etwa heißen soll, daß die landesväterliche Fürsorge des großen Königs sogar den kleinen Handelsjuden zugute kam, dann wird diese wichtige Urkunde sicher allen denen Freude machen, die etwa die Störungen im westpreußischen Handel (vgl. oben S. 183) aus Friedrichs II. willkürlicher Vertreibung von 4000 westpreußischen Juden herleiten wollten (vgl. Oeuv. posth. V, 159), oder die es mißbilligen, daß Friedrich II. den Philosophen Mendelsohn von der Liste der in die Akademie zu Wählenden strich. Ob die nächste Urkunde ebenso schön ist? Hier also Nr. 422: ›Sr. Königl. M. in Pr. etc. ertheilen Dero Gen. Dir. auf ihren unterthänigsten Bericht v. 23. d., wegen der von dem Feldjäger Friedrich zu fordern habenden 350 Thaler 12 Groschen für gelieferte Mauersteine, hierdurch zur allergnädigsten resolution …;‹ Nehmen wir lieber Nr. 423, sie scheint von auswärtiger Politik zu handeln: ›Mein lieber Obrist v. Mütschefall. Es ist ganz recht, daß Ihr nach Eurem Schreiben vom 25. dem Capitän v. Keller Eures Regiments, welcher ohne Euer Vorwissen für seinen eigenen Kopf einen Unteroffizier und zwei Mann nach dem Sächsischen commandieret, in Arrest nehmen lassen, und muß desfalls über ihn nach geschehener Untersuchung durch ein vereidetes Krieges Gericht gesprochen werden. Ich bin etc. …; Potsdam, d. 28. Aug. 1749.‹ Schnell weiter! wir finden sicher noch etwas ganz Großkönigliches. Diese Urkunden sind ja ausgewählt als besonders bezeichnend für das Wesen und Treiben des großen Königs! Hier ist die Folgende, Nr. 424.«
Manfred las den Anfang von Urkunde Nr. 424 vor: »›Sr. Königl. M. etc. ertheilen usw. wegen des Hauptmanns Grünberg, welcher gebeten auf seinem an der sächsischen Grenze belegenen Gute Lippen in der Schonzeit Hirsche schießen zu dürfen, hierdurch zur allergnädigsten resolution: daß dem Cap. v. Grünberg zwar erlaubt sein soll, das Wild so auf die sächsische Gränze aus Sachsen übertritt, auch in der Schonzeit zu schießen, auf Höchstdero Territorio aber muß er die gesetzte Schon- und Setz-Zeit dem Edikt gemäß ohnverbrüchlich halten …;‹ Aha, ein wahrhaft königliches, weil fast salomonisches Urteil! aber doch wohl weder weidmännisch noch großdeutsch gedacht? Ob Nr. 425 ebenso königlich verschmitzt ist?«
Manfred las den Anfang von Urkunde Nr. 425: »›An den Oberforstmeister v. Glöden in Preußen. Vester lieber Getreuer. Die mir unterm …; übersandte zween Luchsbälge sowohl, als auch die vor 10 Stück verkaufte und davor bekommene 33 Thaler 8 Groschen habe ich zurecht erhalten, und ist solches ganz gut. Ich bin etc. Potsdam, den 31. August 1749.‹ Es ist, als sollten wir aus den Groschen nicht herauskommen. Aber halt, in der nächsten Urkunde erscheint Friedrich als der geistliche Vater seiner Länder. Hier in Urkunde Nr. 426 erteilt der König ›dem Bürgermeister und Rath des Städtchens Wilhelmsthal zur allergnädigsten resolution: …; daß, wann ihr Pfarrer noch nicht wieder bei ihnen ist, sie sich um einen anderen umthun mögen, der ihnen den Gottesdienst verrichte. Potsdam, d. 31. Aug. 1749.‹ Friedrich der Große hat also doch Sinn für Religion gehabt! Das ›Urkundenbuch‹ beginnt lebendig zu werden. Die nächste Urkunde beschäftigt sich mit dem preußischen Heere; Urkunde Nr. 427 lautet folgendermaßen: ›Sr. Königl. M. in Pr. etc. ertheilen dem Bürger aus der Schweiz Herrenschlund auf seine übergebene allerunterthänigste Bittschrift v. 3. dieses hierdurch zur allergnädigsten resolution: Wie höchstdieselben nicht abgeneigt sein, Ihn mit einer Accise- oder Zollbedienung bei ereignender vacance versehen zu lassen, wann derselbe vorhero Seinem Versprechen gemäß zwei gute und tüchtige Recruten anhero geliefert und praesentiert hat. Potsdam, d. 5. Sept. 1749.« Verzeihung, das riecht nach Sklavenhandel; also schnell die nächste! Hier ist Urkunde Nr. 428: ›Mein lieber General Leutnant v. Bredow (Infanterie). Die verwitwete Hartwichen zu Quedlinburg beschwert sich, daß der Lieutenant v. Kleist Eures Regiments ihre Tochter durch verschiedene unerlaubte Mittel dahin beredet, daß sie sich mit ihm ohne ihr Vorwissen versprochen, der etc. v. Kleist solches auch allenthalben bekannt machte und die Tochter dadurch zu andere vorteilhafte Vorschläge verhinderte. Da nun dergleichen Versprechen null und nichtig ist, und ich den Lieutenants das Heirathen nicht erlauben, noch zugeben werde, daß sie sich mit Personen bürgerlichen Standes verehelichen; So sollet ihr den Lieut. v. Kleist für dieses Unternehmen bestrafen und ihm bei meiner höchsten Ungnade …;‹ Diese königliche Anteilnahme hat dem liebekranken Leutnant v. Kleist sicher das Leben gerettet. Wenigstens starb der ausgezeichnete, deutsche, aber wohl ebendeshalb von Friedrich II. nicht gewürdigte Dichter des ›Frühling‹ erst 10 Jahre später im Siebenjährigen Krieg, und nicht von eigener, sondern von Feindeshand.
»In einer Urkunde, in welcher Friedrich II., der soviel gedichtet und mit Selbstmord gedroht hat – in seiner eigenen Ehesache (vgl. oben S. 51) und in anderen Sachen – sich mit einem Leutnant v. Kleist beschäftigt, muß man zwischen den Zeilen lesen. Etwas Eigentümliches um diese von Kleists, sie verstehen das Dichten und das Sterben und vielleicht sogar das ›ewig Leben‹ noch besser als der große König, dessen › mourir en roi‹ und dessen angebliches ›Kerls, wollt ihr denn ewig leben?‹ heute noch bewundert wird!
»Etwas Eigenes auch um die altjüngferliche Romantik dieses ›Urkundenbuchs‹. Die nächste Urkunde behandelt schon wieder eine Heiratsangelegenheit. Hier ist Nr. 429: ›Ew. Liebden Schreiben in welchem Sie Mich abermals um meine Einwilligung zu Dero vorhabenden Heirath mit der Prinzessin v. Holstein ersuchen, ist mir wohl eingehändigt worden. Ich kann aber Euer Liebden nicht bergen, wie Ich diese Heirath für Ihnen garnicht vorteilhaft finde …;‹
»Die nächste Urkunde, Nr. 430, behandelt dann wieder die wichtige Heeresangelegenheit der beiden von einem Schweizer, diesmal Herrenschwandt, zu liefernden Rekruten; der König ermahnt seinen ›lieben Obristen v. Natalis, Gouvernör zu Neuchatel‹: ›Ich will nicht allein, daß Ihr dem schweizerischen Bürger Namens Herrenschwandt, dazu alle hülfliche Hand leisten, sondern auch, wann er Euch solche Recruten überliefert, sie annehmen und selbige bei sicherer Gelegenheit an die nächste Garnison zum weiteren Transport abgeben sollet.‹ ›Unterirdische Sklavenbeförderung‹ nannte man das in Nordamerika vor dem Sklavenbefreiungskriege; aber die ›unterirdische Bahn‹ war dort eine menschenfreundliche Einrichtung für die Sklaven, die sich nach Kanada retten wollten. Friedrichs des Großen ›Untergrund-Bahn‹ dagegen war eins der menschenfeindlichen Werkzeuge eines ›großen‹ Sklavenhalters.
»In der folgenden Urkunde, Nr. 431, aber wirft der König die Sorge um den Schleichhandel mit Sklaven hinter sich und wird ganz der väterliche Förderer der Künste. Hier ist Urkunde 431: ›Sr. Königl. M. in Pr. etc. wollen dem Gymnasio Academico zu Alt-Stettin auf die allerunterthänigste Vorstellung des Concilii Professorum sehr gerne allergnädigst erlauben und vergönnen, daß Selbige die vorfallenden Solennen Actus ferner mit öffentlicher Musique celebrieren, und sich dadurch von den andern Schulen distinguiren möge; Höchstdieselben hoffen aber auch …;‹« Manfred hatte eine Anwandlung stärkerer Heiterkeit, faßte sich und fuhr fort: »Stellen Sie sich die stürmische Freude vor, die dieser Akt königlicher Huld im Gymnasium Academico zu Alt-Stettin ausgelöst haben muß. – Viel ernster ist aber die lange Urkunde Nr. 432. Es handelt sich um einen Aufruhr in Ostpreußen. Der König schreibt: ›Nachdem es fast das Ansehen haben will, als wann den Unterthanen würklich zuviel geschehen wäre und man ihnen zum Aufruhr Anlaß gegeben hätte …; Dieweil aber den erwähnten Unterthanen, wann ihnen auch zuviel geschehen, nicht gebühret, dieserhalb einen Aufruhr zu erregen; So haben Sie dem General Major v. Stosch dato aufgegeben, daß er die Rädelsführer aufheben soll …;‹ Gebührt Friedrich dem Großen etwa auch ein Lorbeerkranz für die endgültige Niederkämpfung der Bauernkriege?
»Versöhnlicher wirkt das Folgende. Die nächsten drei Urkunden, Nr. 433 bis 435, zeigen den großen König wieder als Heiratsvermittler; das heißt allerdings dem Capitän v. Burka, der ›inständigst‹ um Heirats-› conzession‹ gebeten hat, läßt der König in Urkunde No. 433 bedeuten, daß ›er sich nur gänzlich diese Heiratsgedanken aus dem Sinn schlagen möchte‹. Dagegen erlaubt er in Nr. 434 dem Grenadier Husfeld, ›daß er sich mit einer Namens Luise Rothenbergen verheiraten dürfe, wann es an Dem ist, daß sie 600 Thaler hat, und überhaupt ihr zusammengebrachtes Vermögen sich auf 1000 Thaler beläuft‹. Weniger glücklich als dieser Grenadier wird der ›liebe Capitaine v. Albe‹ beschieden. Der strenge König schreibt ihm: ›Da Euch mehr denn allzuwohl bekannt ist, wie ich nicht will, daß sich Meine Officiers mit Personen bürgerlichen Standes verheiraten sollen, und Ich Euch bereits einmal meine Einwilligung zu Eurer vorgehabten Heirath mit des Amtmanns Meyerhoffs Tochter abgeschlagen habe; so wundert es mich nicht wenig, daß Ihr mich desfalls abermals in Eurem Schreiben v. 11. d. habt behelligen können, und hoffe Ich, Ihr werdet Mich für das künftige damit verschonen, und Euch diese Heirathsgedanken nur ganz vergehen lassen. Ich bin etc. Potsdam, den 16. Sept. 1749.‹ Das klingt höchst ungnädig; die Tochter des Amtmanns war vielleicht nicht weniger tüchtig als Minna von Barnhelm, aber der Brief des wirklichen Königs lautete sehr anders als der Bühnenbrief des ›wohl affectionierten Königs‹, der als deus ex machina den Major v. Tellheim und seine Minna hochbeglückt.
»Und doch war dieser ›wohl affectionierte König‹ Lessings durchaus nicht nur Erfindung. Es gab einen solchen König, wenn auch nicht für einen deutschen Major und eines deutschen Amtmanns Tochter. Aber in denselben Tagen, in denen der große König das anständige Lebensglück eines treu ausharrenden Offiziers zerstörte, schrieb derselbe König sehr ›wohl affectioniert‹ an den Italiener Algarotti, der als Freund Voltaires und der Frau von Chatelet und als internationale Tagesberühmtheit andere Ansprüche auf gute Behandlung machen konnte als ein preußischer Hauptmann und Edelmann. Friedrich II. behauptete zwar, ›in meinen Staaten gilt ein Leutnannt mehr als ein Kammerherr‹. Friedrich aber schrieb dem Herrn Algarotti, den er zum Grafen und gar Kammerherrn gemacht hatte, in sehr viel süßlicheren Tönen als dem Hauptmann. Friedrich schrieb an seinen italienischen Kammerherrn Algarotti, der sich als bezahlter Zuhörer, ähnlich wie später Lucchesini« (vgl. oben S. 91) »bei Friedrich II. krank gelangweilt und der sich zur Erholung aus dem Staube gemacht hatte, den aber Friedrich zurücklotsen wollte: › Je souhaite que vous ayez moins besoin de médecins que de maquereaux‹; zu deutsch: ›Ich wünsche Ihnen, daß es nicht die Ärzte, sondern die Zuhälter sind, die Ihnen fehlen.‹ Dazu dichtete der geistvolle Fritz de Brandebourg für den Italiener ein langes Gedicht über die Freuden der Liebe. Wenn dieser Brief Friedrichs II. an Algarotti nicht › offiziell‹ in den Oeuvres des Königs stünde, sind Sie sicher, daß seine Weisheit nicht eher wie die eines Friseurlehrlings wirken würde? Bewundern kann ich diese Weisheit höchstens auf gut Berlinisch: ›zum Kotzen‹. Aber der große König war nicht damit zufrieden, seinem entflohenen Gaste die Zuhälter empfohlen zu haben, sondern es drängte ihn, den Kupplerdienst selbst zu besorgen, und so empfahl er dem Baron Algarotti denn, er solle doch ja zurückkommen und sich an die Tänzerin Denis von der Königlichen Oper machen. Hoffentlich stimmt es Sie nicht traurig, daß Algarotti zwar zurückkehrte, aber bald darauf wieder, trotz der Kupplerkünste des Königs (wie dieser am 25. III. 1755 an Wilhelmine schrieb) ›sich heimlich auf und davon machte‹ und nie wiederkam. Ahnlich entwichen Darget, Chazot, d' Arnaud, de Masson aus der stechenden Sonne der königlichen Gunst. Und unfroh schrieb Friedrich II. Ende Februar 1754 an den entronnenen Darget: ›Dieser Winter war schrecklich …; ich bin einsamer als mir lieb ist. Unsere Gesellschaft ist zum Teufel gegangen. Der Narr (Voltaire) ist in der Schweiz, der Italiener (Algarotti) ist heimlich durchgebrannt, Maupertuis liegt auf dem Siechbett und d 'Argens hat sich den kleinen Finger verletzt.‹
»Dagegen stimmt es Sie vielleicht heiter, daß nicht sehr lange, nachdem der große König dem Hauptmann von Albe und des Amtmanns Tochter das Heiraten verbot und Herrn Algarotti die Tänzerin Denis und die Zuhälter empfahl, vom englischen Gesandten nach London berichtet wurde (1773): ›In Berlin gibt es weder ehrenhafte Männer noch ehrbare Frauen mehr. Bei beiden Geschlechtern herrscht völlige Verderbtheit der Sitten, …; eine notwendige Folge der königlichen Unterdrückung usw. usw.‹«
Herr v. W.-M.: »Sie, ein Amerikaner, werden doch nicht auf diese englische Prüderie hineinfallen.«
Manfred antwortete lachend: »Aha, Sie wollen auch bei mir den Nationalitätenwahnsinn entfachen? Mir scheint aber, der englische Gesandte wollte kaum viel anderes sagen als Ernst Moritz Arndt, der Friedrich II. vorwarf, er habe ›allenthalben die zarten Keime der menschlichsten Gefühle auf das erbarmungsloseste zertreten‹.«
Herr v. W.-M. erklärte uns nun ausführlich, wieso Friedrichs Haltung staatsmännisch weise und weltmännisch geistvoll genannt zu werden verdiene. Ich muß gestehen, daß er mich nicht ganz zu überzeugen vermochte.
Die Unterhaltung kehrte zum »Urkundenbuch« zurück.
Manfred ließ das Buch, aus dem er so unterhaltsam vorgelesen hatte, fallen und meinte: »Ich kann diesem Urkundenbuch keinen Geschmack abgewinnen. Der König, der diesen Krimskrams täglich unermüdlich von sich gab, erinnert zu sehr an die übergeschäftigen königlichen George von England-Hannover. In Preußen versteift man sich darauf, diesen Typ innenpolitisch großartig zu finden? In England hat ihn kein Mensch, vor allem kein Edelmann, übertrieben ernst genommen, und die amerikanischen Farmer haben ihm kurzerhand aufgekündigt. Die großen englischen Staatsmänner haben ihre eifrigen George je nach Bedarf für große oder kleine Zwecke aus dem Marionetten-Kasten geholt oder in die Versenkung getaucht, ähnlich wie etwa Bismarck seinen alten Kaiser nach Bedarf ›beim Porte-épée faßte‹. Ich kann nicht glauben, daß England und Amerika ihre gegenwärtige Stellung in der Welt errungen hätten, wenn man dort die Fähigkeit besessen hätte, sich durch die wichtigtuerische Geschäftigkeit eines Friedrich II. einschüchtern oder begeistern zu lassen.«
Herr v. W.-M., dessen verschiedene Bemerkungen zu Manfreds Vorlesung aus dem »Urkundenbuch« vorhin nicht mitgeteilt wurden, wandte hier folgendes ein: »Sie gehen in ihrer amerikanisch ›großzügigen‹ Art etwas zu leichtfertig über die tausend alltäglichen Schwierigkeiten des kleinen Preußenlandes hinweg. Friedrichs des Großen unermüdliche treue Kleinarbeit war in diesen kleinen Verhältnissen unerläßlich und darum höchst wichtig.«
Manfred: »Mir erscheint auch sehr wichtig, was uns eben die ›Urkunden‹ über Friedrichs des Großen ›Kleinarbeit‹ berichteten, aber wichtig vor allem deshalb, weil es mir einen neuen Begriff davon gab, welchen Dingen der König die knappen ein oder zwei Morgenstunden widmete, welche er täglich dem Regieren opferte.«
Herr v. W.-M.: »Sie verstehen doch richtig, daß Friedrich die von Ihnen vorgelesenen Urkunden nicht selbst ausgearbeitet, sondern nur die Anweisungen dafür gegeben hat? So blieb ihm noch viel Zeit für wichtigere Dinge.«
Manfred: »Aus dem verhältnismäßig guten Deutsch der Urkunden hatte ich bereits entnommen, daß der Wortlaut nicht von dem gebildetsten Preußenkönige, der Deutsch nach seinem eigenen Geständnis nur ›wie ein Kutscher‹ sprach, sondern von einem ungebildeten, aber deutschen Schreibsklaven stammen muß. So blieb dem König während seiner knappen Regierungsstunden in der Tat Zeit für ›Wichtigeres‹. Er schrieb oder entwarf unzählige Denkschriften über Dinge, von denen er nichts verstehen konnte, weil er die Gelegenheit sie kennen zu lernen mit dem Deklamieren Voltaires verbrachte. Er schrieb auch die berüchtigten ›Testamente‹, die Bismarck ›dauernd sekretieren‹ möchte. (Vgl. oben S. 394.) Und er schrieb oder entwarf im einzelnen die Briefe an seine Gesandten im Ausland (die er ›Briefträger‹ nannte) und schweißte so mit seinen genialen › intrigues‹ das europäische Festland zum Bunde gegen Preußen zusammen (› trompeur et demi‹!). Als er es merkte, war er selbst am meisten erstaunt darüber, was er, ein wahrer Zauberkünstler, in der folgerichtigen Regelmäßigkeit seiner knappen Morgenstunden alles zu leisten vermocht hatte. ›In einer Minute liest seine Majestät wenigstens zehn Briefe und antwortet gleich hinterher, ohne sie zum zweitenmal zu lesen‹, schrieb de Catt am 11. Oktober 1758 in sein ›Tagebuch‹.
»Aber auch dieser großen europäischen Politik, an der er sich berauschte, maß der König, wenigstens wenn der Zeitaufwand als Maßstab gelten darf, nicht annähernd so viel Bedeutung bei wie seiner königlichen Förderung der Künste und Wissenschaften, das heißt also seiner Schriftstellerei, seiner Musik (er hat über hundert Musikwerke komponiert; einige sind sehr niedlich) und seinem Briefwechsel mit Franzosen, an deren wissenschaftlichem oder künstlerischem Weltruhm er teilzunehmen drängte. Der Schlüssel zu dem Verständnis des größten Preußenkönigs scheint mir in der noch nicht genug gewürdigten Tatsache zu liegen, daß Friedrich II. sich ernst nahm: als Geschichtschreiber, als Dichter und als Musiker. Und wenn Vielschreiberei Ehrfurcht verdient, dann verdient Friedrich wirklich ›der Große‹ genannt zu werden. Professor G. B. Volz hat ja nachgewiesen, daß die meisten der Geschichtswerke, die Friedrich II. in Nachahmung Cäsars verfaßte, vom König mehrere Male umgearbeitet und eigenhändig übertragen worden sind. (Allerdings schrieb Cäsar in seiner Muttersprache und verzichtete auf die schon ›gebildete Sprache‹, damals das Griechische. Friedrich war zu diesem großartigen Verzicht unfähig.) Noch fleißiger als an seinen Geschichtswerken arbeitete Friedrich II. an seinen Dichtungen. Friedrich II. hat oft mit neckischer Bescheidenheit über seinen dichterischen Ehrgeiz gespottet. Das hinderte ihn aber nicht daran, seine Gedichte zweimal, dreimal, fünfmal, nein, achtmal und vielleicht öfter umzuarbeiten. ›Ich will, daß mein Gedicht in Sicherheit vor den Kunstrichtern der Gegenwart und der Zukunft sei‹, mit diesen Worten begründete Friedrich II. seine immer neuen Umarbeitungen de Catt gegenüber. Während seine Soldaten unter seinen Augen plünderten und sengten, dichtete Friedrich unermüdlich und gab seinem Vorleser immer neue Proben kindlicher Selbstbewunderung: ›Finden Sie nicht, daß meine Verse etwas von der Leichtflüssigkeit Racinescher Verse haben?‹ › Delectat sua opera cum ardore inextinguibili.‹ ›Glauben Sie, daß man meinen »Salomo« mit dem Voltaires gleichstellen kann?‹ (Vgl. de Catt-Koser, S. 289, 410, 411, 415, 423 und viele andere Stellen.)
»Es ist wahrscheinlich nur, weil nicht alle verworfenen
Fassungen der Gedichte auf die Rückseite von aufbewahrten Staatsakten geschrieben sind, daß man nicht von jedem einzelnen friderizianischen Gedichte nachweisen kann, daß es ebenso in acht verschiedene Fassungen umgemodelt worden ist, wie es sich von einem der friderizianischen Lobgedichte auf Ludwig XIV. nachweisen läßt
Im Hohenzollernjahrbuch 1916 hat Professor G. B. Volz – wahrscheinlich zur Ertüchtigung der damals im Felde stehenden Truppen – die unermüdliche Beharrlichkeit Friedrichs des Großen durch Veröffentlichung der acht Fassungen des von Friedrich verfaßten Lobgedichtes auf Ludwig XIV. öffentlich dargetan. Dazu schrieb Volz begeistert: »Hier ist der schaffende Künstler am Werke!« In der letzten der acht Fassungen finden sich die Worte, die auf den allseits gemiedenen Friedrich II. am wenigsten zutreffen:
Louis à sa couronne ajouta ce fleuron,
Il eut tout à la fois Térence, Cicéron,
Sophocle, Euclide, Horace, Anacréon, Salluste.
Et l'on revit les jours d'Alexandre et d'Auguste..«
Herr v. W.-M.: »Ich glaube, da übertreiben Sie. Das glorreiche Gedicht des Königs vor der Schlacht von Roßbach, sein unerbittliches
penser, vivre et mourir en roi
das hat er sicher nicht achtmal umarbeiten müssen! das war der geniale Wurf eines schöpferischen Geistes in großer Stunde!«
Manfred: »Da könnten Sie wohl recht haben. Bei diesem Gedicht glaubte Friedrich vielleicht nicht achtmal ummodeln zu müssen, weil ihm da der große Racine die schöpferische Vorarbeit geleistet hatte. In Racines »Athalie«, welche der große Friedrich mit Recht höher stellte als die Taten des Siebenjährigen Krieges, schließt der königstreue Oberpriester seinen Aufruf für den jungen König bekanntlich mit der vielzitierten Aufforderung:
De vivre, de combattre, et de mourir pour lui.
»Und den König selbst vermahnt dieser tüchtige Priester mit den Worten:
Et périssez du moins en roi, s'il faut périr.
»Friedrich II. hat bekanntlich diese Mahnung weder vor Maxen, als er seine demütigen Friedensangebote machte, noch nach Maxen, als er sich ins Privatleben zurückziehen wollte« (vgl. oben S. 369) »allzu ernst genommen; er hat aber, unter Anlehnung an Stimmung und Tonfall Racines, vielleicht wirklich seine freie Umdichtung ohne zahlreiche Umarbeitungen geleistet. Sein Bruder Henri behauptete allerdings, diese Gedichte »am Vorabende einer großen Schlacht« seien in Wirklichkeit vom betriebsamen König längst vorher ausgearbeitet worden (vgl. oben S. 343 und Schlußwort), und Bismarcks Spott über diese Gedichte läßt vermuten, daß er sie auch nicht zu den unveräußerlichen Beweisstücken friderizianischer Größe rechnete.
»Ich bin immer wieder erstaunt über die innere Verwandtschaft zwischen Menschen, die sachlich zu denken vermögen, wie Goethe, Voltaire oder Bismarck. Goethes größter Sieg ist die Überwindung seiner weniger fruchtbaren Leidenschaft für die bildenden Künste, um desto unumschränkter Herrscher des Wortes zu sein. Friedrich II. frönte von frühester Jugend bis ans Grab, im Kriege noch mehr als im Frieden, seiner unfruchtbaren Leidenschaft, Schriftsteller und Musiker sein zu wollen, und hat ihr so unmäßig viel Zeit geopfert, daß er mir den Anspruch, ein großer unumschränkter Herrscher genannt zu werden, verscherzt zu haben scheint. Ihm fehlte die Kraft, sachlich zu denken; er war ein Schwärmer und verdiente deshalb den Spott großer Realisten wie Voltaire und Bismarck.
»Bismarck hatte weder während noch nach seinen Kriegen Zeit für tägliche Konzerte, Dichtungen und unfruchtbare Schmähungen mächtiger Nachbarn, und mir dünkt, er beurteilte Friedrichs II. Leistungen auf diesen Gebieten ähnlich, wie Voltaire es tat. Auch scheint mir das Maß von »Konvenienz« im Goetheschen Sinne, das Voltaires Briefe an Friedrich II. beobachten, erstaunlich groß, denn schließlich: Voltaire war doch nicht etwa königlicher preußischer Minister, sondern nur ein geflohener oder – wenn Sie wollen, ein schmählich weggejagter Kammerherr. Immerhin möchte auch ich glauben, daß Voltaire, wenn er auch Friedrichs II. Meister des guten Tones war und selbst von Goethe wegen seines Hoftones bewundert wurde, doch nicht so gut wußte, was sich ziemt, wie Goethe selbst.«
Das klang widerspruchsvoll genug. Auf meine Bitte erklärte Manfred seine Ansicht, und zwar folgendermaßen:
»Der »ausgezeichnete Ton« und »feine Takt« die Friedrich II., und die »Konvenienz« und der »Hofton«, die Goethe um die Wette an Voltaire rühmen, waren brauchbar und gut, aber nur für den Verkehr mit Emporkömmlingen oder kleinen Fürsten, nicht mit Königen im höchsten Sinne des Wortes. Es gab einen besseren Ton als den Voltaires, und Goethe wußte es. Die »Konvenienz« Voltaires war gut genug für Fürsten wie »Katharina und Friedrich die Großen, …; Heinrich von Preußen« und andere, die Goethe nennt. Sie alle, wie Goethe es ausdrückt, »bekannten sich als Vasallen Voltaires«; und die »Frechheiten« Voltaires, die Goethe nicht gelten lassen will, wurden von ihnen bewundert. Für sie alle bedeutete guter Ton eben der Ton Voltaires; was sollten sie sonst viel von gutem Ton wissen? Nehmen Sie zum Beispiel Friedrich und Heinrich von Preußen; die Eindrücke ihres Elternhauses mögen ihnen eine Vorstellung vom Wesen eines Tollhauses, aber unmöglich vom guten Ton gegeben haben. Lavisse, der unveröffentlichte Akten des französischen Hofes prüfen konnte, versichert zwar, daß man Friedrich schon als vierzehnjährigen Kronprinzen »in Versailles fast wie ein Kind des Hauses betrachtete«, aber die Verschwörungen des Knaben gegen den eigenen Vater zeigen, daß er von den aus Versailles, durch Vermittlung des französischen Gesandten, für ihn abfallenden Brocken erst recht verwirrt wurde. Wenn Friedrich als Zwölfjähriger einen Aufsatz verfaßte: »Manière de vivre d'un prince de grande maison« und als Fünfzehnjähriger sich mit » Frédéric le Pfilosophe« unterzeichnete Als Erwachsener kürzte er bekanntlich seinen Namen zu Federic., dann mögen diese Übungen nicht kindlicher sein als die französischen Briefe, die Goethe als Kind schrieb. Aber Goethe wuchs und schuf sich einen eigenen guten Ton. Der Unterschied zwischen Goethes und Friedrichs II. Entwicklung offenbart sich in auffälliger Weise in der Art, wie beide Männer kurz vor ihrem Tode über den »Götz von Berlichingen« gesprochen haben. Goethe konnte sich dem französischen Schweizer Soret gegenüber rühmen, daß er nie nach dem Urteil der Franzosen geschielt habe, und daß trotzdem manches in der neuen französischen Literatur »dans le fond n'est que le reflet de ce qui est devenu la litterature allemande depuis cinquante ans. Ainsi, le genre des comédies historiques tout-à-fait nouvelles chez les Français se trouve déposé dans mon Goetz depuis un demi-siècle«. Im Gegensatz zu Goethe hat Friedrich II. immer nach dem französischen Urteil geschielt; er überwand nie ganz den Geisteszustand, in dem er einst als Knabe seine »Manière de vivre« schrieb und, nachdem er sein Leben lang französische Aufsätze verfaßt hatte, die von Voltaire angeregt und die von Voltaire oder anderen Franzosen verbessert werden mußten, wollte es das Mißgeschick, daß die literarische Laufbahn des Königs mit seinem unhöflichen Angriff gerade auf den »Goetz« schließen sollte, dessen von Goethe gerühmter Erfolg in Frankreich von keiner der französischen Dichtungen des Königs erreicht worden ist.
»Über Shakespeares Stücke und über Goethes »Götz« schrieb der Weise von Sanssouci in seiner dissertation: »Wie kann eine so niedrige Mischung von Gemeinheit und Hoheit, von Narrenpossen und Trauerspiel rühren und gefallen! Man muß Shakespeare diese sonderbaren Ausschweifungen vergeben, denn die Zeit der Geburt (!) der Künste ist nicht ihre Blütezeit. – Aber da kömmt mir nun noch so ein Götz von Berlichingen auf die Bühne, eine schändliche Nachahmung jener schlechten englischen Stücke, und das Parterre klatscht in die Fäuste und verlangt mit Begeisterung die Wiederholung solcher ekelhaften Plattheiten.« So schrieb Friedrich II. und glaubte sich irrigerweise (vgl. oben S. 110) durch seinen Lehrer Voltaire gedeckt.
»Gewiß wurden auch um 1780 viele »ekelhafte Plattheiten« geschrieben und sicher nicht nur von Friedrich II. selbst. Aber es gehört ein geradezu friderizianisches Geschick dazu, um unter zahllosen »Plattheiten« gerade Goethes Götz als die ärgste nennen zu können, ein gewöhnlicher Ochse im Porzellanladen hätte das nicht gekonnt. Dasselbe überragende Geschick bewies Friedrich bei seiner Beurteilung des deutschen Kirchenliedes. Es gab zur Zeit Friedrichs noch »dümmere« Kirchenlieder als heute, es gab grauenhaftes Zeug über uns »Sündenlümmel« usw. Aber Friedrichs literarischer Feingeschmack suchte sich bei seiner polternden Verurteilung gerade Paul Gerhardts edelstes Kunstwerk aus und würdigte dessen unvergänglichen Wert am achtzigsten Jahrestage der Erhebung Preußens zum Königreiche mit folgenden eigenhändig geschriebenen Worten: »Es stehet einem jeden frei zu singen: Nun ruhen alle Wälder oder dergleichen dummes und thörichtes Zeug mehr.« Begeistert über die so gewährte »Freiheit« schrieb Preuß (III, 227/9): »Die hier mitgeteilten königlichen Bescheide atmen das schönste Gefühl von Freisinnigkeit auf dem Thron«; während der weniger begeisterte, aber heute mehr begeisternde Lessing nur tiefe Verachtung für diese friderizianische »Freiheit« empfand.« (Vgl. unten S. 528 und oben S. 233-34, 314, 119.)
»Daß der Ton Voltaires dem großen Friedrich so gut gefiel, erklärt sich vor allem daraus, daß er keinen besseren kannte und daß sein eigener viel schlechter war. Ihm mußte der Sinn für menschliche und königliche Würde fehlen, weil ihm der Begriff der guten Gesellschaft nicht geläufig sein konnte, und – worauf es hier besonders ankommt – weil ihm die Vorstellung eines würdigen Verhältnisses zwischen dem unbeschränkten König und seiner Umgebung fehlen mußte: von seinem Vater, der seine Untertanen auf der Straße überfiel und mit dem Krückstock durchprügelte – »nicht fürchten, lieben, lieben sollt ihr mich« – war ihm diese Vorstellung nicht vermittelt worden. Welches Verhältnis könnte dagegen schwieriger und – ja, zarter sein als das zwischen gebildeten Menschen und dem lebenden Sinnbild der unumschränkten Gewalt?
»Aus den Äußerungen Goethes ließe sich ein unschätzbares Buch zusammenstellen, das den Titel führen könnte: »Über den Umgang mit den Fürsten der Erde; geschrieben vom Großfürsten des Geistes«. Folgende beiden Aussprüche Goethes scheinen mir seine und Voltaires Auffassung klar in Gegensatz zu bringen. Goethe sprach von Voltaires »kleinen Gedichten an Personen« und sagte: »sie gehören ohne Frage zu den liebenswürdigsten Sachen, die er geschrieben. Es ist darin keine Zeile, die nicht voller Geist, Klarheit, Heiterkeit und Anmut wäre«. »Und man sieht darin«, sagte Eckermann, »seine Verhältnisse zu allen Großen und Mächtigen der Erde und bemerkt mit Freuden, welche vornehme Figur Voltaire selber spielt, indem er sich den Höchsten gleich zu empfinden scheint und man ihm nie anmerkt, daß irgendeine Majestät seinen freien Geist nur einen Augenblick hat genieren können.« »Ja«, sagte Goethe, »vornehm war er. Und bei all seiner Freiheit und Verwegenheit hat er sich immer in den Grenzen des Schicklichen zu halten gewußt, welches fast noch mehr sagen will. Ich kann wohl die Kaiserin von Österreich als eine Autorität in solchen Dingen anführen, die sehr oft gegen mich wiederholt hat, daß in Voltaires Gedichten an fürstliche Personen keine Spur sei, daß er je die Linie der Konvenienz überschritten habe«. (Armer Goethe? er liebte Ludovica? und sie wehrte im voraus seine leidenschaftlichen Gedichte ab?)«
Manfred fuhr fast verlegen fort:» Goethes Worte widersprechen meiner Auffassung keineswegs. Hören Sie weiter. Ein andermal sagte Goethe zu Eckermann: »Wer wie ich sein ganzes Leben hindurch mit hohen Personen zu verkehren gehabt, für den ist es nicht schwer. Das einzige dabei ist, daß man sich nicht durchaus menschlich gehen lasse, vielmehr sich stets innerhalb einer gewissen Konvenienz halte.« Diesen Gegensatz zwischen Voltaires »sich den Höchsten gleich zu empfinden« und Goethes »sich nicht durchaus menschlich gehen lassen« hat Goethe noch einmal zusammengefaßt in die Worte: »Wenn er (ein preußischer Dichter Hiller) vor einem großen Könige sich auch ein kleiner König dünkt, wenn er der liebenswürdigen Königin viertelstundenlang getrost in die schönen Augen sieht, so soll er deshalb nicht gescholten, sondern glücklich gepriesen werden. Aber ein wahrer Dichter hätte sich ganz anders in der Nähe der Majestät gefühlt, er hätte den unvergleichbaren Wert, die unerreichbare Würde, die ungeheure Kraft geahnt, die mit der ruhigen Persönlichkeit eines Monarchen sich einem Privatmann gegenüberstellt. Ein einziger Blick aus solchen Augen hätte ihm genügt; in ihm wäre so viel aufgeregt worden, daß sein ganzes Leben sich in eine würdige Hymne verloren hätte.« Das mag übertrieben klingen; und doch, wie treffend, wie edel und menschlich erscheint es, wenn man nicht vergißt, daß es sich auf dem Festlande damals um unumschränkte Könige handelte, die noch immer da waren, obgleich Fichte längst treffend erkannt hatte, daß »ihre erste Pflicht wäre, in dieser Form nicht da zu sein«!
»Sehr tief hat übrigens Goethe den »unvergleichbaren Wert« des Monarchen selbst dann empfunden, wenn dieser Monarch nicht etwa Napoleon oder Kaiserin Ludovica, sondern Bayerns (und Lolas) König war; »es sei nichts Kleines, sagte er, einen so großen Eindruck, wie die Erscheinung des Königs, zu verarbeiten, ihn innerlich auszugleichen. Es koste Mühe, dabei aufrecht zu bleiben und nicht zu schwindeln«. Voltaire hatte keine derartigen Schwindelanfälle; teils weil er mehr im »Strom der Welt« geschwommen, teils weil er weniger Sinn für das Heilige hatte als Goethe; teils weil er die Rute in der Hand hielt, mit der »unbeschränkte« Könige in Schranken zu weisen waren. Voltaire hatte zwar die Welt zur Verehrung des großen Ludwig zurückgerufen; aber der Kampf seines Lebens war so sehr gegen die Auswüchse aller weltlichen und kirchlichen Zwangsherrschaft gerichtet, daß er in den Herren der Erde vor allem »Taugenichtse« sah. Voltaire hatte also eigentlich wenig Lust, »sich dem Höchsten gleich zu empfinden«, und seine Fähigkeit, sie als »Taugenichtse« zu behandeln, mußte ihn im Stiche lassen, sobald er wirklich mit einem »Höchsten«, mit einem Könige zu tun hatte, also nicht mit Leuten, die wie Friedrich II. geistig von ihm abhängig waren, oder die, wie Katharina von Rußland, obendrein in ihm einen mächtigen Beichtvater sahen, dessen Vergebung wirklicher oder angeblicher Sünden von Wert für die Sicherheit eines nicht einwandfrei erworbenen Thrones galt. Verglichen mit den »Vasallen Voltaires« war Ludwig XV., den Voltaire »meinen König« nannte, ein auf eigenem Throne sitzender »Höchster«, dessen Erziehung und dessen Macht unabhängig war von Voltaire. Mehr als das, Ludwig XV. saß auf dem Throne des großen Ludwig.