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Joseph Viktor von Scheffel an Emma Heim

Rom, den 3. Dezember 1852. Via delle 4 fontane N. 17, 2 piano.

Teure und insonderheit hochverehrte Kusine! Ob Du Deinen armen Vetter Josephus noch zu den Lebenden rechnest, – ob Du seiner lächelnd oder mit Achselzucken, – oder gar nicht gedenkst, weiß ich nicht. Wenn Du außerdem der Ansicht bist, daß derselbe wenig Lebensart besitzt, so muß ich leider selbst damit einverstanden sein, denn ich habe einen sehr freundlichen Brief von Dir, noch in der Heimat, bis jetzt unbeantwortet gelassen, habe mich auch heimlich über die Grenze verzogen und keinen Abschied von Dir genommen, wiewohl ich mir's noch als besondere Gnade von Dir ausgebeten hatte, mit einem Strauß von Deiner Hand – wie ein Rekrut ins Feld – auf meine Wanderung geschmückt zu ziehen.

Auf ein solches Benehmen meinerseits kann man nur das Wort jenes Pfarrers anwenden: Eine Sünde ist's zwar nicht, aber schön ist's auch nicht. Es mag vielleicht ein Grund dafür vorgelegen haben, aber itzt ist's zu spät, mich darüber zu entschuldigen. Inzwischen hat mich mein unsteter Lebensweg nach Rom geführt. Rom und Bruchsal im Bruhrein, von welch letzterer Stadt ich zum letztenmal die Ehre hatte, Dir zu schreiben, sind in vieler Beziehung verschieden; ich glaube sogar, daß ich der einzige Mensch bin, der eine Ähnlichkeit zwischen beiden gefunden hat.

Die Ähnlichkeit besteht aber darin, daß man, d. h. Dein Vetter Josephus, zu Bruchsal wie zu Rom vielfach, ohne zu wissen warum, ernst und heiter, bitter und süß, gescheiter- und dummerweise an seine Kusine Emme denkt. Dort, wo ich mit schwerem Schädel an meinen Akten saß, stieg hie und da eine solche Erinnerung verklärend – (zugleich auch sehr ungereimte Briefe veranlassend) daraus auf; – hier existieren keine Aktenfaszikel für mich; aber dieselbige Erinnerung. Warum? wer weiß es – chi lo sa? sagt der Italiener. Ich pflege auch nicht viel nach Gründen für Tatsachen zu fragen. Aber es ist Tatsache, daß ich neulich einen einsamen abendlichen Gang ins alte Rom machte. Dort geriet ich in die gewaltigen Ruinen des Kolosseums. Weil aber gerade ein Kapuziner in den unteren Räumen des Amphitheaters predigte – was nicht zu meinen größten Liebhabereien gehört –, so stieg ich durch die hohen labyrinthischen Gänge hinauf und setzte mich unter einen der oberen Rundbogen und schaute hinaus in die öde Campagna, deren Trümmer und Aquädukte in der Abendsonne glänzten, und nach den fernen Gebirgen von Albano und Tivoli. Hier hätte ich nun eine schöne Gelegenheit gehabt, an den Kaiser Vespasianus zu denken, der dieses Riesenwerk schuf, an die alten Gladiatoren und Fechterspiele, die auch manchem frommen christlichen Märtyrer auf der blutigen Bühne unter mir das Leben kosteten, – an die Vergänglichkeit menschlicher Dinge, die auf diese Ruinenwelt mit Keilschrift geschrieben steht, – an den Zauber der italischen Natur, die vor mir lag, – aber statt solcher Kontemplationen wanderten des Vetters Josephus Gedanken nördlich, noch viel weiter, als wo der Berg Sorakte zackig aus der Ebene steigt, weiter als die Alpen! und über den Rhein hinüber, und auf einmal war ich zu Gengenbach angelangt und saß mit meiner verehrten Kusine auf dem Bergle und schaute auch wieder stillvergnügt ins Land hinaus, und schier hätt' ich die Campagna für die Rheinebene und den fernen St.-Petersdom fürs Straßburger Münster und den Monte cavo für einen Kinzigtaler Berg angesehen, – und wie sich die Gedanken einmal also verwirrt hatten, war Rom und die Gegenwart ziemlich für mich weggeblasen; – es war auch wieder November, aber des vorigen Jahres, wo ich mit Dir unter dem Gengenbacher Stadttor jene großen Gedanken hatte, wo ich in der Nische des alten Rathausfensters dem harmlosen Spiel mit dem Medaillon zuschaute, wo ich in frischer Winternacht mit dem verehrten Papa nach Zell hinüberfuhr und dort als Herr X. von Gießen der Kusine Ida einen panischen Schrecken einjagte – und so weiter.

Damit ist's aber noch nicht genug. Wie ich heute in den Saal der Galerie Aducci komme, wo bei den gelehrten Vorträgen eines deutschen Archäologen viel feine deutsche Gesellschaft sich sammelt, so saß dort eine Dame, die Dir an Gesicht, Gestalt und Haltung – auch das graubraune Kleid mit den Volants fehlte nicht – also ähnlich war, daß meine Gedanken sofort wieder denselben Reißaus nahmen und ich von dem Vortrag übers Pantheon und alte Thermen und Architektur überhaupt – trotz meiner Anwesenheit im Saal – so gut wie nichts gehört habe. – Diese Tatsachen nun sind die Veranlassung, daß ich mich heut abend an den Schreibtisch gesetzt habe, um Dir einen Gruß in die Heimat zu schicken. Der Brief wird ungefähr um Weihnachten ankommen, ich bitte, ihn zugleich als einen Neujahrswunsch für Dich und die Deinigen in Gnaden aufzunehmen.

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