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Graf Karl von Finckenstein an Rahel

Rastatt, den 30. Mai 1798.

Jetzt weiß ich, was eigentlich die Entfernung Häßliches für ein Paar liebende, empfindliche Menschen hat, warum der Briefwechsel so ein erbärmlicher Ersatz für das Beisammensein ist, bei Menschen, in deren Herzen etwas lebt, das mehr ist als all das Leben um sie her in der Welt; in wie verschiedenen Stimmungen schreibt man den Brief, in wie anderen, ganz entgegengesetzten erhält ihn und beantwortet ihn der andere; wie leicht kann der andere etwas bitter empfinden, das ihm eigentlich Freude gemacht hat. Ich weiß gewiß, ich hätte all diese Kartenhäuser vor Dir aufführen können, wenn ich bei Dir saß, den Arm um Dich geschlungen, wenn Du in meinen Augen lesen könntest, wie mir dabei ums Herz war, und meiner Phantasie noch viel tollere Sprünge erlauben dürfen, Du hättest Freude daran gehabt, hättest mich ein Kind genannt, mir die Worte von den Lippen geküßt, denn Du hättest auch dies für einen Beweis meiner Liebe nehmen müssen, anstatt daß Du jetzt an meiner Liebe zweifelst und glaubst, daß ich um mich her in der Welt, in der Natur nach Gefühlen hasche, um mein Herz für Dich zu bewegen, weil in mir keine Liebe für Dich lebt. O, wie natürlich, wie recht, wie nicht in mir willkürlich erzeugt hättest Du alles gefunden, was in meinem Briefe steht, wenn Du mit mir gewesen wärest, da in diesen Augenblicken voll ängstlicher Sehnsucht nach Dir, da ich Dich vielleicht auf lange verließ, da sie vielleicht auf lange hinter mir zurückbleiben, diese Stunden voll Freiheit, Leben und Glück, die ich einmal wieder bei Dir unter dem wohltätigen Einflusse Deines reichen, edlen Geistes, selig in dem Gefühl Deiner Liebe, wie es keine mehr gibt, verlebt hatte, und ich nichts vor mir sah, als das wüste politische Leben, das ich hier leben muß, und den Umgang mit Menschen, die mir fremd sind, die mich nicht lieben können, und wie könnten sie es auch, von denen ich nicht geliebt sein mag; mußte ich mich nicht sehnen nach einer Zuflucht, um mein besseres Selbst aus dieser Wüste des Lebens, wie sie mir erschien, zu flüchten, mußte mir nicht jeder finstere Eichenwald, jedes Gebirge, jedes alte Schloß so erscheinen, mußte ich nicht denken, wie ich Dich zu mir hinrufen wollte und dort glücklich sein, und wenn es auch oben nie so schön war in diesen Bergen, in diesen Wäldern, mußte ich nicht denken, wie ich den Reichtum dieser schönen Natur genießen könnte mit Dir, da ich es allein nicht kann; Du weißt doch, ich lebe allein nur halb, getrennt von denen, die ich liebe ...

Neulich war ich mit einer großen Gesellschaft, worunter sich mehrere Damen, die Frau von Kleist, die Frau von Jacobi und die Gräfin Löben befanden, zur Ebersteinburg, einem alten noch bewohnbaren und bewohnten Schlosse im Gebirge; das Schloß liegt auf einem ziemlich hohen, mit dem schönsten Tannenwalde besetzten Berge, von dem man die herrlichste Aussicht hat; man übersieht ein großes, reiches, mit Städten, Dörfern und Fabriken bedecktes Tal, von dem klaren, reißenden Murgflusse von einem Ende bis zum anderen durchströmt, eingefaßt von den schönsten Bergen, die durch ihre herrlichen Buchen- und Tannenwälder, durch ihre Felsenwände und frischen Bergwiesen das Auge immer neu beschäftigen, über das Tal hinaus die Ebenen von Rastatt, den Lauf des Rheins und das Elsaß bis an die Vogesischen Gebirge, die die Aussicht mit einem prächtigen Horizont schließen; man kann sich nichts Herrlicheres und Hinreißenderes denken als diese Gegend, und doch, nachdem ich mich mit der Gegend bekannt gemacht hatte, habe ich oft unwillkürlich die Augen zugemacht, oder bin in den finstern Tannenwald gegangen, wo man kaum die Sonne sieht, und habe nichts gedacht als Dich und mich so herzlich nach Dir gesehnt, bis zum Weinen nach Dir gesehnt, und so ist es immer, und Du kannst denken, ich liebe Dich nicht; ach, wenn Du nur sehen könntest, wie zerstreut, wie wenig mitteilend ich hier bin, wenn Du nur einmal in meinem Innern lesen könntest, Du zweifeltest gewiß nicht mehr an meiner Liebe. Und ich sollte nicht jede Gelegenheit wahrnehmen, die mich zu Dir führte, sollte dies kurze Leben, so häßlich von Dir entfernt, für mich vergehen lassen, wenn Du mir sagst, daß Du es wünschest, daß es Dir nicht Schmerzen macht. O, mein Gott, wenn Du wüßtest, wie gern ich noch heute alles im Stich ließe und zu Dir zurückkehrte, wo mir allein ganz wohl ums Herz ist, o, Du könntest solche häßlich-ängstliche Zweifel nicht mehr hegen ...

Ich sehne mich recht, bald einen Brief von Dir zu bekommen, um zu wissen, was Du diesen Sommer und noch mehr künftig im Winter zu tun gedenkst. Grüße alle herzlich. Genelli sage, daß er mit der nächsten Post einen Brief von mir erhält.

Ewig Dein Karl.

Noch einmal, meine Liebe, sei ruhig, ich liebe Dich gewiß.

Du wirst in diesem Briefe mehrere abgerissene Stellen, teils aus dem La Bruyère, teils aus dem »Hesperus« finden, die mir unter dem Lesen aufgefallen sind, und die ich abschrieb, weil ich sie passend fand, teils auf unser Verhältnis, teils dem gegenwärtigen Zustande meiner Seele, teils weil ich manches von dem, was sie enthalten, so oft bei Dir erfahren habe.

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