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Einleitung

So oft hört man's klagvoll sagen: mit der Kunst des Briefes ist es zu Ende; immer mehr verliert sie sich, seitdem das Wort als elektrischer Funke über Erdteile, durch Ozeane hinzuckt und die Kunde von fernsten Ereignissen in blitzhafter Hast verbreitet. Seitdem Journale zwei-, dreimal täglich das Echo entlegenster Welt sorgsam aufhaschen und vieltausendfach weitertragen. Seitdem die Raserei modernen Verkehrs das Tempo des gesamten Lebens vorwärts peitscht, alles Dasein von diesem Fieber besessen zu sein scheint, immer ohne Muße, ohne Ruhe, ohne Sammlung. Man schreibt keine Briefe mehr ... Man telegraphiert, telephoniert, schleudert etwa ein paar Zeilen, ein paar Tatsachen hin, sich zu verständigen, eine Vereinbarung zu treffen, Notizen, nervös, rasch, rasch ...

Welch eine Übertreibung so unaufhörlich wiederholt wird! Freilich schreibt man im zwanzigsten Jahrhundert keinen Postkutschenstil. Verfaßt auch selten Berichte über Geschehnisse, die ohnedies in allen Zeitungen zu lesen sind, – woraus ja Anno dazumal der Hauptteil sämtlicher Briefe bestand. Gibt sich vielleicht auch nicht mehr langwierigen Betrachtungen hin, weitschweifigen Ergüssen, umständlichen Bekenntnissen. Aber doch nur, weil die Menschen überhaupt verschwiegener, diskreter, unpathetischer, knapper und sachlicher geworden sind. Mag sein: nüchterner und kärglicher. Aber man baut auch keine Renaissancepaläste, keine Rokokopavillons, keine Biedermeierlusthäuschen mehr, sondern Betonwolkenkratzer und Eisenkonstruktionen. Sie haben ihre eigene sparsame, gesammelte Schönheit. Nur an Umfang sind die Briefe verarmt. Von ihrem Inhalt ward ihnen viel vorweggenommen. Allerdings, wenn man's näher bedenkt, nicht einmal das. Denn wer läßt sich, in fremdes Land gelangt, unter starken, noch unerlebten Eindrücken, abhalten, an geliebte Menschen Gesehenes und Gefühltes weiterzugeben, wenn auch Reisebücher da sind? Und ziehen etwa Zeitungen angesichts großer oder seltsamer Ereignisse nicht den Brief eines einzelnen Augenzeugen den üblichen Berichten vor? Den Brief, der einen Menschen in einziger Beziehung zu den Dingen zeigt, gegenüber den beziehungslosen Berichten. Nicht das Umfängliche, das Persönliche und Charakteristische allein wird immer den Reiz und Wert des Briefes ausmachen. Das, was den Schreiber oder seine Zeit (oder beide zusammen) irgendwie spiegelt.

Man redet sehr gern vom Brief als Kunstwerk. Er pflegt bestenfalls ein impressionistisches Kunstwerk zu sein. Eine Improvisation. Sie gelingt manchmal bis zur verblüffenden Vollkommenheit, wie ein lyrisches Gedicht aus glücklicher Stunde in untadeligem Guß gelingen kann. Jene Briefe, die nach literarischen Vorbildern geschrieben wurden oder mit dem vollen Bewußtsein, Kunst zu schaffen, nicht Mitteilungen des unmittelbaren Lebens aufzuzeichnen, erinnern aber nur an akademische Bilder, die allen ästhetischen Regeln genügen und trotzdem ohne letzte Wirkung bleiben. Gewiß, ein ganzes Zeitalter war von den englischen Briefromanen regiert; man korrespondierte wie Richardsons in Tugenden und Sentimenten schwelgende Helden und Heldinnen; das galante Jahrhundert berauschte sich daran, seine Koketterie in Briefen ebenso wie in Tagebüchern und Memoiren spielen zu lassen. Das Jahrhundert des Spiegels ... Auch sind noch heute Menschen, raffinierte Geschmäckler, die an ihre Briefe Anforderungen wie an ästhetische Lebensdokumente stellen: die den Inhalt wohl komponieren, den Ausdruck sorgsam wählen, die Worte in berechneter Anordnung und schöner Schrift hinzirkeln. Außerordentliche Fälle. Ihrer ungeachtet ist der echte Brief höchst selten »Kunst«. Er soll es gar nicht sein.

Sich in seiner natürlichen Sprache mitteilen, – wer wollte in einem Briefe mehr? Ein Lebenszeichen durch die trennende Ferne senden, einen Gruß, eine Botschaft, eine Frage. Mitunter eine Stimmung skizzieren, eine Idee knapp auseinanderfalten. Der Impuls, die Intuition muß dabei alles sein. Die Frische des Eindrucks, der Zauber der Empfängnis, der Drang, Empfundenes miterleben zu lassen, sie vermögen die Schönheit eines Briefes zu sein. Niemals, oder höchst selten nur, die absichtsvolle Form. Alles Unwillkürliche erhöht seinen Reiz.

Der Brief von ehemals freilich lockte den Schreibenden allzusehr, literarisch zu werden. Es galt, wie gesagt, die Zeitungen, noch ungeschriebene Bücher zu ersetzen, noch unerhörte Kenntnisse, wichtige Begebenheiten zu vermelden, Reisebegegnungen zu schildern, Länder auszumalen, – es galt wahrhaftig, wissenswerte Dinge, die sonst nirgends oder beschwerlich nachzulesen waren, anschaulich darzustellen. Das zwang wohl dazu, genauer die Worte zu wählen, breiteren Atem zu schöpfen, beim Gegenstand hingebungsvoller zu verweilen. Man schrieb Chroniken, noch keine Briefe. Das Menschliche, Persönliche, Intime ward weder reicher, noch vertieft; im Gegenteil, es trat hinter das Tatsächliche zurück.

So oft von der verschollenen Kunst des Briefes gesprochen wird, denkt jeder zunächst an die Plaudertalente. An jene Begabungen, die Konversationsstunden, ohne Gegenüber gehalten, in Papier umsetzten. An die Monologisten, die im Leben mitunter gar nicht so vertrauensselig waren, sich nicht so leicht erwärmten und die erlösenden Worte fanden, wie wenn sie am Schreibtisch saßen und Blick und Rede der andern sie nicht unterbrachen. An die verschlossenen, herben Naturen, die sich im Brief seelische Ventile öffneten. Oder auch die rasch verströmenden, deren Phantasie kein Einsamkeitsgefühl aufkommen ließ, die wirklich schrieben, wie sie etwa mitten in großer Gesellschaft redeten, Causeure, Dialektiker, Schwadroneure, die in Gedanken eben immerfort in Gesellschaft waren ... Man denkt jedenfalls an die Briefe, aus denen die Bonmots und Pointen kultivierter Salongespräche funkeln, oder an jene andern, aus denen das Summen traulicher Winterabendlampen stimmungsschwer hervorsingt. Man sehnt sich auf diese Weise nach andern Stilen, als die man selbst lebt.

Le stile c'est l'homme? Um so mehr ist der Stil die Zeit. Sie färbt ihn, meißelt ihn. Ihr Wechselspiel, all ihre geistigen Strebungen, all ihre Moden, ihre Tugenden und Verfehlungen schlagen sich in ihm nieder. Am überraschendsten ist, daß auch der Liebesbrief sich mitwandelt.

Sollte man denn nicht glauben, daß die Leidenschaft des Herzens immer nur menschlich und zeitlos sei? Der ruhlos-ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht? Das Elementare, Triebhafte, Urewig-Gleiche? Herz spricht zu Herzen, Blut zu Blut. Eins wirbt um das andre, jubelt dem andern zu, eins beschwört das andre, eins betet, beichtet, verzweifelt, ringt, flucht, stirbt um des andern willen, seufzt, schwärmt, girrt, heuchelt, prahlt, triumphiert, – unendlich kreist die Welt der Gefühle, ein unvergängliches Einerlei, scheinbar unbeirrt vom Auf und Ab aller sichtbaren Dinge; abhängig nur von der Menschlichkeit der Liebenden. Aber nein, es erweist sich, daß die Liebe ihre Kostüme trägt wie alle andern Dinge. Daß das Herz seine modischen Allüren hat. Daß es von seiner Umwelt, von seinem Zeitalter, von tausend in der Luft zitternden Kulturelementen entscheidende Reflexe empfängt. Daß das ursprünglichste und mächtigste Gefühl sich mit der ganzen übrigen Leiblichkeit der Jahrhunderte fortwährend umbildet. Wer zweifelt daran: die Zeitatmosphäre bedingt ebenso große Stilunterschiede wie das Temperament. Die Liebesbriefe sind klare Dokumente dafür.

Wie lächerlich, zu denken, daß die Kunst des Liebesbriefes verfällt oder gar dahin ist ... Selbst wenn für alle andern Arten von Briefen dies wahr wäre, der Liebesbrief kennt nicht Blüte noch Niedergang, er bleibt immer persönlich, hat keine Geschichte, seine Entwicklung ist jedesmal im Liebenden abgeschlossen. Ein Abglanz seiner Entstehungszeit durchdringt ihn dennoch. Seine Kunst hat kein Gestern und kein Heute, sie wird täglich aus dem Herzen neu geboren, offenbart sich einzig im Gefühl des Augenblicks, bestätigt sich allein im Grade der Leidenschaft, den sie auszudrücken vermag. Trotzdem spricht sie in der Phraseologie des Kulturkreises, dem sie entstammt. Eine Reihe von Liebesbriefen, zwanglos hingestellt, verrät auf den ersten Blick die Verschiedenheit menschlicher Sentimente, aber auch die Merkmale veränderlicher Zeit.

Über alle Wandlungen und Verkleidungen hinweg meisterlich bleibt derjenige Brief, der am hinreißendsten wirkt; stümperhaft derjenige, der Unglauben findet. Denn der Liebesbrief will immer wirken, nicht nur berichten. Wenn je die Leistungsfähigkeit des bloßen Wortes sich zu bewähren hat, so ist es hier. Mehr als Dichterwort will das Wort des Liebenden. Es will die Leibhaftigkeit ersetzen, sie durch die Idealität geistiger Transponierung überbieten. Der Dichter setzt das Wort, wo bisher nichts war, und zaubert neues Leben vor; aber vor dem Wort des Liebenden war das wirkliche, pulsende, lebendige Leben. Vielleicht kann es deshalb um so leichter wirken, die Phantasie aus der Erinnerung nähren? Vielleicht um so schwerer, denn es darf nach der Wirklichkeit nicht verblassen, muß den gleichen, ja den stärkeren Bann ausüben, um die Kluft der Entfernung nicht bloß zu überbrücken, sondern den Besitz noch fester zu ketten. Es muß mächtiger sein als das gesprochene Wort, denn mit diesem schwingt der Zauber der geliebten Stimme, fliegt der geliebte Blick, regt sich die geliebte Erscheinung. Sie alle müssen im Brief des Liebenden mitaufleben; anders bleibt die Trennung auch für den Augenblick unvergessen. Wirken will der Liebesbrief, Gegenwart suggerieren, – und nachwirken, festbinden über das Lesen hinaus, halten wie die Bannkraft des greifbaren, sichtbaren Lebens.

Doch werden Liebesbriefe viel häufiger geschrieben, als – geliebt wird. Aus Heuchelei? Nein, aus Selbsttäuschung. Wahrhaftig, Liebe ist selten, ist beinahe ein Ausnahme-Erlebnis geworden. Jeder Backfisch glaubt zwar vor Liebe zu verbrennen. Keine Frau würde zugeben, ungeliebt geblieben zu sein. Ihre Seelen sind so erfüllt vom Begriff des Liebes-Erlebnisses, den sie vom Sagenhören oder aus Romanen kennen, daß sie immer bereit sind, sich süßen Täuschungen hinzugeben; für Liebe hinzunehmen, was bloß der Liebe Maske trägt; Erotik mit Liebe zu verwechseln, eine lyrische Schwärmerei für Liebe zu halten; ein Spiel der Worte und Blicke, bei dem fast ausschließlich die gesellschaftliche Koketterie beteiligt ist, als Liebe aufzufassen. Tausenderlei Täuschungen hart an der Grenze des tief ersehnten Erlebnisses. Aber Liebe, diese Aufschmelzung geistiger Sympathien im Feuer sinnlicher Leidenschaft, diese ewige Hochzeit zwischen seelischen und erotischen Mächten, dieser berauschende Traum von der Vollendung zweier Menschen in idealer Einheit, bleibt ihnen gewöhnlich versagt. Skeptiker haben ausgesprochen, Liebe sei überhaupt nur eine poetische Erfindung; Rochefoucauld spöttelt, es sei mit ihr wie mit den Gespenstern, alle redeten davon, aber keiner hätte sie gesehen; und Schopenhauer widerlegt ihn zwar, doch nur, um auf seine Art in der Liebe den »Genius der Gattung« zu feiern. Als Allerweltstrieb. Ihren sublimeren Teil mochte er nicht gelten lassen, – er gilt auch für die Mehrzahl der Menschen nicht. Weil diese Mehrzahl an einer trägen Lauheit des Herzens leidet, an einer zu tiefst lastenden Gleichgültigkeit, an einer unaufhörlich wachen, lauernden Angst, Energien für gleichsam metaphysische Zwecke zu verbrauchen. Weil sie zu dem Aufschwung des Gefühls unentschlossen ist, den die Liebe fordert, unentschlossen zu unbedingtem Vertrauen. Selbst die Gemütreichen haben häufiger Zärtlichkeiten, als Liebe zu verschenken. Aber dann gibt sich ein seltsamer Vorgang kund: in trauterem Verkehr, in längerem Zusammenleben strömt mit den Zärtlichkeiten ungeahnt viel seelische Kraft hinüber und herüber und umhüllt die Wesen mit jener bindenden, aus gutem Verstehen und zarter Willigkeit erwachsenden Sphäre, die der Liebe aufs innigste verwandt ist.

Der Liebe fähig sind gewiß nur die ursprünglichen, aus reinem Herzen und unverderbten Sinnen starken Naturen, und auch die kultivierten, die durch differenzierte Bildung empfänglichen. Darum wird man sie am ehesten bei den schlichten, primitiv empfindenden, und dann wieder bei den sensitiven Menschen finden. Am häufigsten bei den genialen, in denen beide Wesensarten zusammenfließen. Dazwischen aber wimmelt die Masse der Menschheit, ohne Naivität, die der Liebe göttlichstes Attribut ist. Unaufhörlich gelockt von der Sehnsucht nach Liebe. Unaufhörlich nach Surrogaten der Liebe greifend, nach Flirt, Koketterie, romantischen Extravaganzen und gröberen Genüssen. Eros und Psyche haschen sich ... um nur dann und wann einmal im restlos beglückenden Kuß einander in die Arme zu sinken.

In Briefen leben die unzähligen Tragödien und Komödien dieses Liebesspieles auf. Dieser ewig-eine Inhalt blieb ihnen unverkümmert auch in der tollsten Hatz neuer Zeiten. Ihn konnten selbst die verblüffendsten Errungenschaften moderner Menschheit auch nicht um eine Nuance berauben. Sollten die Menschen sonst noch so blasiert und abgebrüht worden sein, der paradiesische Traum der Liebe ist ihnen nicht zerstoben. Der Uralte schillert vielleicht wieder mit ungekannten Gesichten. Der Herzschlag schmiegt sich dem werdenden Rhythmus an. Vom Verfall des Liebesbriefes keine Rede! Nur von der Literatur hat er sich immer deutlicher entfernt. Er ist nun nichts als nacktes, sachliches Leben.

Hier wurden Liebesbriefe aneinandergereiht, die vom Beginn des achtzehnten Jahrhunderts bis in die jüngste Zeit reichen. Briefe aus Europas repräsentativen Ländern, ineinander verschränkt, da die großen Wandlungen ja nicht durch Grenzpfähle geschieden werden, sich in den verschiedensprachigen Korrespondenzen gleich spiegeln. Vom Beginn des achtzehnten Jahrhunderts nicht etwa deshalb, weil da die sogenannte Blütezeit der Briefkunst prangte, jene dem Einfluß der Literatur erliegende Schreibwut einsetzte, die bis in die Jahre der Frühromantik nicht nachließ. Vielmehr deshalb, weil um diese Wende herum, trotz der überschäumenden Tintenströme und des überwältigenden Wortschwalls, gerade die Entwicklung anfing, die ihren fortwirkenden Abschluß nun in unsern Tagen fand. Die Erziehung zur Natürlichkeit, zur unverkünstelten Menschlichkeit. Die Befreiung von Formenstarre, Schnörkelei und Rhetorik. Weil eben damals das Bewußtsein des echten Briefstils erwachte, wie Grimaret (in seinem 1708 erschienenen »Traité sur le commerce de lettres«) schrieb: »Le stile épistolaire doit être simple et naturel, éloigné de toutes les grandes figures, dont les orateurs embellissent leurs discours.« Und weil der moderne Mensch ungefähr hierher sein Geburtsdatum gesetzt hat, nicht erst in das Jahr des Bastillensturmes. Es sind also im ganzen moderne Liebesbriefe, die dieses Buch versammelt.

Liebesbriefe in einem nicht gar zu strengen Sinn. Die Idealität der Liebe triumphiert hier keineswegs immer, ebensowenig wie im Leben. Der Begriff ward weit gefaßt, dort und da korrespondieren auch Flirt, Erotik, Liebelei. Grenzen sind ja tatsächlich kaum zu ziehen. Jedenfalls wär's pedantisch, dies zu versuchen. Auch insofern ward der Begriff gelockert, als nicht ausschließlich Liebesbriefe landläufigsten Sinnes aufgenommen sind: leidenschaftliche Bekenntnisse, Erklärungen, Beteuerungen, Wünsche, Schwüre, sozusagen Liebesbriefe an sich, ohne andern Inhalt als des Herzens Rufe und Seufzer. Solche Briefe sind reichlich genug da. Doch keine andern neben sie zu stellen, hieße die Monotonie des Stoffes (der Ausdruck selbst ist nie eintönig) zum Gesetz erheben. Es wurden, um dem Buche auch äußere Mannigfaltigkeit, bewegtere Gestaltung, greifbarere Lebendigkeit zu geben, möglichst viele Briefe sachlichen Inhalts herangezogen. Wohl nicht ohne tiefere Berechtigung: nicht nur in der unzähligemal abgewandelten Versicherung »Ich liebe dich« äußert sich der Liebenden herzliche Beziehung. Sie drückt sich noch öfter im durchglühten Ton aus, mit dem einer dem andern Beliebiges erzählt, einer den andern an einem Erlebnis, einer Reise, einer Bekanntschaft, einer Anekdote teilnehmen läßt. Sie offenbart sich unendlich öfter in der inneren Musik, im Gefühlswert des Briefes, als in Worten.

Die Einteilung in Kreise ergab sich bei dem einmal gewählten kulturgeschichtlichen Gesichtspunkt von selbst. Der erste der Kulturkreise charakterisiert gleich die ganze Entwicklungskette. Das Zeitalter der Aufklärung bricht an. Politisches und soziales Denken reift aus freierem, echterem Menschentum. Der Weg führt deutlich – das Wort stammt aus Georg Steinhausens grundlegender »Geschichte des deutschen Briefes« – vom Verstand zum Gefühl, ja das Gefühl hat schon unverkennbar die Vorherrschaft an sich gerissen, im Gegensatz zu der vorangehenden Epoche dürrer Humanisten und Puritaner. Eine Frauengestalt, Gottscheds künftige Gattin, Jungfer Kulmus, verdient an der Spitze zu stehen. Zwar hat sie dazu durchaus nicht die Bedeutung der englischen und französischen Freidenker neben ihr, aber als Briefschreiberin (die Damen übertrafen just in den steifsten Zeiten die Männer in dieser Begabung bei weitem) ragt die Kulmus über sie empor. Der Zusammenprall des zierlich-starren Rokoko mit der Aufklärung leuchtet in ihr auf wie in einem Kristall, gesammelt und rein. Sie ist selbst Dichterin, mit Gottsched verlobt, befleißigt, dem Gestrengen zu gefallen, eine fromm-manierliche, gebildete Patriziertochter. Ihr Herz und auch ihren Kopf wird man über den verzopften Diktator der deutschen Poesie hinweg noch schätzen lernen, wie Frau Rat sie lieben. In Swift und Steele, diesen witzigsten und bissigsten Essayisten, und auch Pope, dem kühlen Dichter, meldet sich ein bürgerliches und schon empfindsames Zeitalter an. Swift, der Gullivers lehrreiche Abenteuer ersinnt, ist als Liebender noch Problem. Er läßt sich heimlich einer Frau antrauen, die er nie ohne Zeugen sieht. Als Esther Vanhomrigh, seine »Vanessa«, in romantischer Leidenschaft zu dem tragisch-zwiespältigen Manne entbrennt und, Jahre später, seine Scheinehe entdeckt, verzehrt sie sich in Gram und stirbt. Steele, aus einem leichtsinnigen Lustspieldichter zum öffentlichen Prediger der Moral geworden, ist in der Liebe viel glücklicher als Swift, sein Gegner, und (das zeigen seine Briefe) unendlich scharmanter. Pope, der den Engländern den Homer gab, läßt sich, nicht ohne Eitelkeit und gönnerhafte Miene, mehr verehren als lieben. Voltaire als Franzose gehört der gesellschaftlichen Konvention des geistreichsten und frivolsten Jahrhunderts an. Er wechselt seine Liebschaften ohne Schwere, nimmt sie als Staffel zum Erfolg. In Pagenjahren packt ihn wohl Olympe Dunoyer im Haag etwas tiefer, doch muß er sie auf Befehl des Vaters lassen und nach Paris zurückkehren. Die Marquise du Châtelet liebt er vielleicht mit reiferer Leidenschaft, aber seine Briefe an sie blieben leider nicht erhalten. Diderot und Sophie Voland – wie ein deutsches, gemütvolles, offenherziges Paar muten sie an. Eine zärtliche Freundschaft neben Diderots Ehe her, fast von sittlicher Schönheit in der sittenlockern Umwelt. Ein Übergang zu den Deutschen. Wieland, der französischeste Deutsche, verliebt sich in Sophie de Laroche, die aber einen andern nimmt; Freundschaft bindet sie trotzdem ihr Leben lang. Mit Lessing schnellt das Empfinden gleich in klassische Atmosphäre; zwei Wesen von einer leuchtenden Energie des Intellekts, aber machtvoller noch geleitet von lautern Liebesinstinkten. Fünf Jahre läßt schwankendes Schicksal ihr Verlöbnis währen, und als die Hamburger Kaufmannstochter des Dichters Frau wird, stirbt sie im zweiten Ehejahr. Rousseau: der Triumph des Gefühls und ungezügelter Natürlichkeit. Sein widerstandsloses Herz stürzt in immer neue Wirren. Die Gräfin d'Houdetot lernt er kennen, während er auf dem Gute der Frau d'Epinay seine »Heloise« erdichtet. Er weiß zu seiner Qual, daß sie nicht ihm, sondern dem Marquis de Saint-Lambert zugetan ist. Schon viel früher sank er zu Therese Levasseur hinab, an die kein geistiges Band ihn fesselt, unglückselig, tragisch, ergreifend in seiner Blöße.

Von seltsam farbigem Hintergrund heben all diese Herzensromane sich ab. Der demokratische Geist wetterleuchtet erst. Das Jahrhundert gebärdet sich noch höchst feudal, wird von den Höfen, dem Adel, den eleganten Abenteurern, allen, die den verzweifelten Karneval vor der Sintflut mittanzen, beherrscht. Ein galantes Intermezzo vor blutigem Zusammenbruch. Wahrhaftige Leidenschaft schwindet leicht hinter amourösem Schäferspiel. Dennoch ist Stuart de Mackenzie rasend in die Tänzerin Campanini verliebt, die dem großen Friedrich über Erwarten gut gefällt, so daß er sie an Berlin fesselt, ihren Verehrer aber durch Ausweisung aus Deutschland spedieren läßt. Dennoch tobt in Rußlands Kaiserin Katharina dämonische Sinnlichkeit, wirft sich »die schöne Manon«, die in Paris verehrte Tänzerin, einem faszinierenden Hochstapler wie Casanova an den Hals und vergeht vor Eifersucht, verliebt sich Madame du Deffand, die in ihrem Salon einst Voltaire und alle literarischen Größen von Paris begrüßt hat, noch mit siebzig Jahren, eine zweite Ninon, erblindet und mit Demütigungen beladen, zu ihrem Unglück in den englischen Ministerssohn Walpole. Dennoch stirbt die schwindsüchtige Julie de Lespinasse, ihre ehemalige Gesellschafterin, einen durch wenig erwiderte Liebe und Kummer beschleunigten Tod. Das Herz hat seine Allüren, aber sogar in spielerisch leichter, zynischer, tändelfroher Zeit läßt es sich vom Ernst der Leidenschaft packen. Das flirrende Geplauder des französischen Salons klingt nirgends pointierter, medisanter und galanter als in den Briefen des Prinzen de Ligne, dieses espritreichsten Edelmanns, die er von einer Krimreise mit Joseph II. von Österreich und Katharina von Rußland an eine verehrte Dame nach Hause richtet. Koketter als in den andern zeitgenössischen Briefen klirrt hier der Galanteriedegen des Witzes, tänzeln die Worte voll Ironien.

Rasch nimmt die Wandlung vom Verstand zum Gefühl sentimentalische Formen an. Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts steigert der Überschwang des Empfindens sich bis zur Krankhaftigkeit. Die Klopstock-Zeit ... Auf verhimmelnde Überspanntheit, erotisch-pietistische Ekstatik stimmt der Messias-Sänger den Briefwechsel mit Meta Moller, die er 1754 heiratet, und die ihm schon nach vier Jahren entrissen wird. Auch in England dieselbe bewußte Sentimentalität. Der Staatsmann William Pitt der Ältere läßt sie, seinem Beruf gemäß, nur sehr diskret durchbrechen. Samuel Johnson, der Wiedererwecker Shakespeares, der Romantiker Vorbote, flüchtet aber rührselig an das Herz der allzu frommen, todkranken Miß Boothby. Lawrence Sternes Seelenfreundschaft zu Elizabeth Draper, der Frau eines ostindischen Beamten, wird bald berühmter fast als sein »Tristram Shandy«. Burns, der Dichter des schottischen Berglandes, ein Naturbursche in seinen Liedern, kostümiert sich in seiner Zärtlichkeit für Mrs. Le Lore als Sylvander. Gradliniger gibt er sich in der hübschen Epistel an die liebe Elli, das Dienstmädchen. Die Karschin, des friderizianischen Berlin Sappho, schwärmt Gleim nicht seraphisch und fern aller Prüderie an, doch zeitgemäß übertrieben gefühlvoll. In den lateinischen Ländern allein findet diese sentimentalische Krankheit viel weniger Boden. Lebenslust immunisiert die Romanen.

Die Klärung und Gesundung vollzieht sich unter Sturm und Brausen. Herder, unter dem Einfluß Rousseaus, aber ein harmonischer Geist, vermag sein Herz zu genußvoller Ruhe zu zwingen, und Caroline Flachsland, die um ihn fast drei Jahre still ringen muß, paßt sich ihm liebend an. Pestalozzi und seine Braut fechten viel heißeren Kampf, um sich angehören zu können, müssen des Mädchens Eltern besiegen, und ihre Schwärmerei füreinander wird um so tiefer. Voß, Leisewitz, Schubart, Bürger – die vorklassische Epoche Deutschlands kündigt in diesen Namen sich an. Voß und das jugendliche Pastorstöchterlein, seines Freundes Boie Schwester, Leisewitz und Sophie Seyler, das sind zwei Paare wie sanfte, schnäbelnde Turteltauben neben den beiden andern: neben Schubart, der den dumpf hervorbrechenden Groll langjähriger ungerechter Festungshaft hegt, und seinem entschlossenen Weibe, neben Bürger, der sich aus wunder Seele unerhörte Geständnisse reißt, und Molly, seiner Frau verführerischer Schwester, später seiner zweiten Gattin, dann Elise Hahn, die er zu dritter Ehe heiratet und die ihn betrügt. Ugo Foscolo, der Vielgeliebte, die italienische Feuerseele, mehr pathetischer Poet als Politiker, fliegt von Geliebter zu Geliebter. Werther-Akkorde klingen in ihm auf. Lichtenberg, der Epigrammatiker und Satiriker, ein Verneiner der Liebe, schreibt doch herzlich empfundene, spaßige, biederdeutsche Briefchen an seine Ehegesponsin. Mit Schiller, der sich von Frau von Kalb befreit und dem Zauber der Schwestern Lengefeld, bald Lottes allein, ergibt, hebt der Idealismus sich über irdisches Gewölk. Der Adel seiner Gesittung weist weit hinaus über die Zeit, die ihn gebar. Neben ihm darf nur Mozart stehen, das sprudelnde, knabenhafte Genie, das in seine Liebesbriefe übermütig humorige Schnörkel zieht.

Inzwischen ist das Werk der französischen Enzyklopädisten ins Rollen gekommen, bricht jenseits der Vogesen der Feudalismus zusammen, bankrottiert der Staat, hebt der Danse funèbre der Revolution an. Drei Briefe von und an die Gräfin Dubarry: das Schicksal der Kurtisane ist darin umschrieben: die kleine Putzmacherin, die den festen Willen hat, auf dem Weg verkäuflicher Liebe emporzusteigen, die Nebenkönigin, die von Seiner Majestät ein Billett erhält: »Ich habe Ihnen etwas zu sagen« (nämlich daß Ludwig XV. ihr ein Schloß zu Füßen legt), die Entthronte, die unverdrossen weiter Liebesverhältnisse sucht, bis an das Schafott heran Kokotte bleibt. Graf Mirabeau, der die junge Frau des greisen Präsidenten von Monnier entführt und dann auf dreieinhalb Jahre ins Gefängnis wandert, läßt schon das ganze hinreißende Pathos aufbranden, mit dem er später die Generalstände überwältigt. Marie Jeanne Roland de la Platière wird ein Opfer der Revolution wie ihr Gatte, der im Jahre 1792 Minister des Innern ward; ihr Herz gehört Henri Bancal, dem Pariser Anwalt, und vielleicht noch heißer dem Abgeordneten Buzot. Auch Desmoulins, der revolutionäre Advokat, verblutet an der Guillotine. In seinem Abschiedsbrief an Lucille ächzt schauerlicher Tod, dröhnt aber zugleich die Phrase des Demagogen.

Wie strahlende Frühsommersonne taucht Goethes Name über den allmählich sich durchringenden Zeitläuften auf. Die Empfindsamen, die Stürmer und Dränger hallen in ihm nach, die Ruhe der Reife erkämpft er sich schwer. Jüngling bleibt er als Liebender bis in sein Greisenalter; nur in den Ehemannsbriefen breitet sich leiser Herbstreif. Ein Kranz holder Mädchen und Frauen umreigt sein Dasein. In jedem seiner Briefe glaubt man die angeredete geliebte Person wohlgerundet zu schauen, so trifft er ihren eigenen Ton. Seine Lebenskunst, seine göttliche Gabe, alles Erleben zum Glück zu wenden, schwingt sich über Zeiten und Menschen hoch.

Napoleon und die heroische Zeit der Befreiungskriege spiegeln in Briefen sich, deren intime Menschlichkeit im Waffengeklirr nicht untergeht. Der Kaiser wäre allein ein Beweis, daß die kürzesten Briefe auch eindrucksvoll ohnegleichen, eigenartig und ungemein sein können, durchpulst sie nur echtes Gefühl. Vielbeschäftigt, gehetzt, Wild und Jäger, wie es kein Mensch auch hundert Jahre später zu sein braucht, ist Napoleon. Mitten zwischen den Schlachten, zwischen zahllosen Plänen, Taten und Sorgen schleudert er die Zeilen an die ferne Geliebte hin: bündig, ehern, dabei voll Eifersucht und Leidenschaft. Sein Bruder Lucian verehrt die reizende Bankiersfrau Recamier mit mehr altmodischen Floskeln; sie zählt unter ihre vielen andern Anbeter auch den beweglichen Politiker und Dichter Benjamin Constant, den vorher Frau von Staël gefesselt, für Deutschlands Kultur und ihr eigenes Herz interessiert hat. Nelson schreibt, bevor er in der Schlacht von Trafalgar fällt, einen Liebesbrief an die recht abenteuerliche Lady Hamilton. Die deutschen Heldengestalten reihen sich an: Luise von Preußen, Kleist, Prinz Louis Ferdinand, den bei Saarbrücken die Feindeskugel hinstreckt, Albert von Wedell, einer von Schills todgeweihten Begleitern, Körner, der Schlachtensänger, Blücher, der Sieger von Waterloo, – es ist ein stolzer Zug. Wie ein frivoles Widerspiel dazwischen Napoleons leichtfertige Schwester Pauline, die einem Fürsten Borghese sich vermählt und die Liebhaber – Talma, der Schauspieler, ist unter ihnen – wie Toiletten wechselt. Und wie ein kraftlos elegisches Widerspiel der Herzog von Reichstadt, Napoleons einziger Sohn, der von Kriegstaten nur träumt, Ruhm nur ersehnt und zu früh in Wien dahinsiecht.

Aus brodelndem Zeitschoß, dem finstere und leuchtende Bilder entsteigen, wird die Romantik geboren. Finstere und leuchtende Temperamente bringt sie mit. Schwärmende Herzen haben sie alle. Freundschaft und Liebe sind kaum zu scheiden. Wilhelm von Humboldt, der Diplomat, der Freund Goethes, ist der beständigste darunter. Klassische Heiterkeit verklärt sein Leben. Hölderlin vergißt seine Jugendgeliebte Luise, stürzt sich in die nicht unerwiderte Leidenschaft für die Frau des Frankfurter Bankiers Gontard, in dessen Hause er Hofmeister ward, rennt von Diotima (so heißt er sie nach der weiblichen Hauptgestalt seines Hyperionromans) in den Wahnsinn. Charlotte von Kalb findet endlich in Jean Paul ein bewundertes Objekt ihrer hysterischen Neigung; dem Dichter des »Titan« lächelt die Gunst manch einer Frau. Die befeuernde Kraft Carolines beglückt mehrere Männer; erst an Schellings Brust findet sie erlösende Rast. Dorothea Veit und Friedrich Schlegel lassen von mystischen Banden sich umschlingen. Kraftgenialischen Verlangens begegnen sich Sophie Mereau und Brentano, genießen Himmel und Hölle in dreijähriger Ehe, bis Sophie 1806 stirbt. Rahels Liebesraserei tobt sich zu gutem Teil in Briefen aus. An wen immer die nervöse, geistfunkelnde Rahel Levin sich klammert, sie überschüttet ihn mit Briefen, deren Offenheit manchmal peinigend wirkt. Mit dem jüngeren Varnhagen wird sie schließlich alt, ausgebrannt und glücklich. Raimund, volkstümlicher Märchendichter und Schauspieler, rettet sich aus Lebensstürmen zu einem einfachen klugen Mädel, das ihm versagt wird, nimmt aus Trotz eine andere, kehrt reuig zu Toni Wagner zurück und liebt sie bis in seine Todesstunde im Wahnsinn. Grillparzer, vielspältig, verraunzt, launisch, kann als Liebender nicht wie als Dichter zu den Klassikern sich stellen. Grillenhaft ist sein Verhältnis zu Kathi, einer der Schwestern Fröhlich, bei der er wohnt und die ganz zu erobern er sich nie zu entschließen vermag. Fürst Pückler-Muskau, Gartenkünstler auf feudalem Schlosse und feuilletonisierender Causeur, zieht, bis über die Ohren in seine Frau verliebt, nach England aus, um – eine andere, Reichere zu suchen, die ihn vor dem Ruin bewahren soll, und kehrt froh, keine gefunden zu haben, zurück. Metternich, der Kanzler, als Liebhaber kein Reaktionär, lernt die Fürstin Lieven, die Frau des russischen Gesandten am englischen Hofe, auf dem Kongreß von Aachen (1818) kennen und wird, wenn auch ohne Dauer, ihr getreuer Ritter. Ein gelehriger Schüler Metternichs, nicht bloß als Politiker, mehr noch als Geschmäckler, Friedrich von Gentz, genießt schon in Berliner Romantikerkreisen reichliche Frauenhuld und bekränzt seine letzten Wiener Jahre, ein Greis schon, mit der Liebe der süßesten Tänzerin Fanny Elßler. Die heroischen Töne des Empire gleiten in unbeschwingte Biedermeierei nieder.

Aber die Romantik erklingt zugleich in viel pathetischerer Symphonie. Ein Geschlecht von großem Impetus hat das heldische Zeitalter im Gefolge. Beethoven wühlt eine Musik auf, in der das Chaos der Menschenbrust lodert, die wie ein schäumender Ozean unversiegbarer Sehnsucht brandet, überwölbt von majestätisch schimmernden Sternen. Gleich Fetzen seiner Musik tönen die drei Briefe, die man in seinem Nachlasse fand, die er wohl nie abgeschickt an jene problematisch gebliebene »Unsterbliche Geliebte«. War es die Gräfin Brunswick oder die Gräfin Guicciardini? Vielleicht war es eine der aristokratischen Freundinnen, die Beethoven in Wien verehrten. Byrons bitterschöne Gesänge, wie ein Echo von Beethovens Weltmelodie, hallen durch Europa, er selbst zieht, von England geächtet, durch die Länder. Die Gräfin Theresa Guiccioli, Frau eines Greises, läßt seinetwegen sich scheiden. Augusta Leigh ist seine Halbschwester und, man sagt, seine Geliebte, solang er in der Heimat weilt. Sein Freund Shelley, dessen erste Ehe wie die Byrons verunglückt, findet in Mary Godwin die sanfte und kühne Seele, die er erträumt. Chateaubriand, dessen Leben tief in das Ancien régime zurückreicht, entdeckt die rührende Ästhetik des Christentums und wird von Damen verzärtelt, die über »Atala« und »René« Tränen vergossen und seinen Ruhm und seine Frömmigkeit gleich lieben. Alfieri, in dem antikische Visionen leben, hängt sein Herz an die Gräfin Albany, des englischen Thronprätendenten Stuart Frau, aber die Treue vermag er ihr nicht unverbrüchlich zu wahren. Keats leidet schon an seiner Todeskrankheit, als er Fanny Brawne lieben lernt; seine Briefe sind wie seine Gedichte schmerzliche Dokumente eines jung Sterbenden. Puschkin, Rußlands Byron, hat sein Leben rasch in Liebesabenteuern vertan und fällt im Duell. Stendhal, der Psycholog und Weltmann, ist zu skeptisch, um sich von Frauenliebe dauernd und tief halten zu lassen. Balzac dagegen, der kindliche Phantast, liefert sich ihr hemmungslos aus, liebt eine ältere Frau, die ihn bemuttert, eine Marquise, die ihn quält; die unbedingte Treue wahrt er keiner, und an dem langjährigen Roman mit der Gräfin Hanska, die dem berühmten Romancier zuerst als »Fremde« aus der Ukraine schreibt und endlich seine Frau wird, zerschellt er völlig. Carlyles und Jane Welsh Liebe sprießt aus geistigem Boden, ihre sittliche Reinheit ist unantastbar, und doch zermürben sie sich, kaum verbunden, in immer gereizter Ehe. Dickens kann als Ehemann nicht anders sein, denn als Erzähler: voll Behaglichkeit, guten Humors und stiller Treue. Robert Browning und Elizabeth Barrett-Barrett sind vom Schicksal einander vorbedacht; sich sehen und lieben, vollzieht sich wie ein jähes Wunder, das nimmer aufhört und in unvergleichlichen Dichtungen ewig leuchten wird. George Sands Erlebnisse sind schweifende Sinnlichkeit. Sie bleibt Musset ebensowenig treu wie er ihr. Victor Hugo verlobt sich mit siebzehn Jahren dem Mädchen, das dann seine Frau wird. Kinder festigen den Bund, doch des Dichters Herz gehört bald mehr der Schauspielerin Juliette Drouet, als seiner Frau, die ihm willig jede Freiheit läßt. Eine Sammlung großartiger pittoresker Romane, so schließt sich dieser Ring.

Der Vorfrühling der Völker, jenes Ahnen der Freiheit, die die Französische Revolution nicht gebracht und das Jahr 48 nur zum Teil bringt, erblüht schon in der internationalen Romantik. Weniger malerische Pracht, aber in der vaterländischen Enge frühe Fruchtbarkeit geben ihm die deutschen Spätromantiker. Weber, der Freischützkomponist, führt die Sängerin Karoline Brandt heim und hat Energie genug, im Ausland glänzendere Erfolge zu suchen, als die Heimat sie beschert. Börne und Heine sind undenkbar ohne Paris. Der Satiriker Börne verliebt als Student sich in die viel ältere, blendend schöne Frau des Berliner Arztes Markus Herz, die seine Leidenschaft geschickt abzulenken weiß. In reiferen Jahren ist er geneigt, sich der gütigen Frankfurter Freundin Jeanette Wohl zu vermählen, doch auch sie versteht es, ihn davon abzuhalten. Heine ist seiner Frau Mathilde nur durch sinnliche Verliebtheit verbunden; auch seiner »Mouche«, Camilla Selden, die seine letzten Tage in der Matratzengruft verschönt, versucht man wohl umsonst tiefere Gefühle anzudichten. Robert Schumann wirbt vergeblich um Clara Wieck bei ihrem Vater; gegen den Willen Friedrich Wiecks treten die beiden vor den Altar. Charlotte Stieglitz liebt ihren Mann so opfermütig, daß sie sich tötet, um ihn zu erschüttern, zu vertiefen, ihn zu einem gewaltigen Dichtwerk hinzureißen. Beider Ehe ist Literatur. Der Russe Herzen, einflußreich durch seine revolutionären Schriften, paßt sonderbar gut unter diese Deutschen, deren Mehrzahl ihre Ideen im Ausland empfängt. Er wird von seiner Kusine Natalie Sacharin schwärmerisch verehrt und läßt sich ihr, aus mehrjähriger Verbannung zurückgekehrt, heimlich antrauen. Doktrinarismus zerstört seine Empfindungen, so daß der Bund eine Enttäuschung wird. Freiligrath und Ida Melos tauschen Liebe als wolkenloses Erlebnis. Herwegh und Emma Siegmund finden sich in gleichem politischen Wollen. Garibaldi, Italiens Mann der Tat, hebt über konventionelle Schranken sich weg und lebt mit seiner Anita, einer Brasilianerin, in freier Ehe, bis sie, von ihm durch den Krieg getrennt, im August 1849 stirbt. Lassalle, umgeben von dem Zauber seiner Berühmtheit, zieht den Blick der schönen, doch komödiantischen Tochter des Diplomaten Dönniges auf sich, verstrickt sich in eine Tragikomödie, die im Zweikampf mit dem Bräutigam Helenes endet, in diesem tödlichen Duell, das wie ein versehentliches Umkippen aus herausforderndem Übermut und Sinnenrausch in trostlosen Ernst anmutet.

Leise, feine Menschen, die einen sonnigwarm im Kern, die andern verhärmt und pessimistisch, ohne die Kraft, Entscheidungen herbeizuführen, bilden die Brücke zu den starken Persönlichkeiten, die die Gegenwart repräsentieren. Uhland und Kerner haben ihr Glück in idyllisch bürgerlichem Genügen. Stifter hadert viel mit seinem Schicksal, als Fanny Greipel, seine Jugendgeliebte, ihm versagt wird; grollend nimmt er die Hand Frau Amaliens an, die ihm angenehme Häuslichkeit, niemals aber Frieden des Gemütes schenkt. Lenau liebt seines Freundes Löwenthal Frau, zerfrißt sich an der Heimlichkeit solchen Verhältnisses, vermag sich davon auf keine Weise zu befreien, bis sein Sinn sich umnachtet. Der junge Mörike gibt sich mit heißem Lyrikerherzen an Luise Rau hin, aber erst die viel spätere Neigung zu Margarete von Speeth ist auch Empfangen, nicht bloß Sehnen. Gilm, der Tiroler, richtet ebenso an Toni Kogler die schönsten Lieder, beständige Liebe wird seinem empfindsamen Herzen erst in später, gewöhnlicher Ehe zuteil. Die Droste läßt ihr Herz verbluten, als Levin Schücking vom Bodensee Abschied nimmt und sein Glück anderswo pflückt. Der dänische Philosoph Kierkegaard fühlt, wie seine Schwermut die Zuversicht niederringt, jemals Frohsinn durch die Liebe zu gewinnen, und hebt seine Verlobung mit Regine Olsen auf. Berta von Buchau, eine kindliche Gestalt noch, schreitet durch einige der schönsten Gedichte Theodor Storms und durch seine Novelle »Immensee«: des Dichters Jugendliebe, ehe er Konstanze Esmarch fand. Lortzings optimistisches Talent zerreibt sich an Elend und Not, die auch sein Eheglück beschatten. Scheffel bekommt von seiner Kusine Emma einen Korb und vergißt es niemals mehr. Geibel und Groth, das sind wieder zwei Glückliche.

Die neuen Charaktere haben Mut zu sich selbst. Das ist ihr Merkmal. Offener, aufrichtiger, entschlossener, sachlicher werden die Briefe, je mehr die Gegenwart naht. Richard Wagner, an die unwürdige Ehe mit Frau Minna gefesselt, erlebt seelische Befreiung in der Nähe Mathilde Wesendoncks. Moltke freit vierzigjährig seine Nichte Marie Burt und beginnt sofort, sie zielbewußt und scharmant zur Lebensgefährtin nach seinem Geschmack zu erziehen. Bismarck, kein Tugendbold vor der Ehe, ist in Johanna von Puttkamer maßlos verliebt und bleibt ihr zärtlich treu für immer, läßt sie ganz, aus der Ferne wenigstens in Briefen, sein Dasein mitleben. Keller verliebt sich in jungen Jahren rasch; erst in die Winterthurerin Luise Rieter, dann in die Heidelberger Hofratstochter Johanna Kapp, die aber schon einem andern verlobt ist. Aus jugendlicher Hingerissenheit hält Nietzsche um die Hand einer hübschen Holländerin an, mit der er erst einige Stunden spazierenging, und holt sich einen Korb, den er, der Ehe im Grunde feind, schnell verschmerzt. Fontane und seine Frau, sie erinnern an das herzliche, über alle Stimmungen hinaus gesicherte Ehepaar Bismarck. Flaubert in seiner Klause von Croisset möchte Louise Colet, die Schriftstellerin, zu seiner Kameradin machen, aber sie will mehr, und daran scheitert ihre Beziehung. Baudelaire, der exotische Damen bevorzugt, findet während seines Prozesses um die »Blumen des Bösen« in Frau Sabatier Hilfe und Trost. Multatuli, ein Wahrheitsfanatiker im Leben wie in seinen Büchern, läßt seine Briefe Beichten werden und fordert gleiche Offenheit von der Braut. Hebbel kämpft sich von Elise Lensing, ähnlich wie Wagner von Minna, los und erobert in Christine eine geistig höhere Frau. Suchend, über seine Begabung ungewiß, unerkannt in enger Heimat, schöpft Otto Ludwig verjüngende Kraft aus der Liebe zu seiner Frau Emilie, die er 1844 in Meißen kennen lernt. Benedek, der Besiegte von Königgrätz, breitet in erschütternden Briefen an seine geliebte Frau die Tragik seines Falles aus. Gambetta gewinnt in Léonie Léon eine Vertraute, eine wahre Freundin und Mitwisserin, die aber sich weigert, ihn zu ehelichen, um seine politische Laufbahn nicht zu stören. Björnson trägt seinen erwärmenden Enthusiasmus auch in die Ehe hinein. Ibsen, auch zu zweien einsam, erlebt in einem Gossensasser Sommer den Schimmer jener Romantik, die Hilde Wangel in seinem »Solneß« verkörpert, als er der jungen Wienerin Emilie Bardach begegnet; er überwindet aber das Erlebnis wie eine schöne Torheit. Maupassant und Maria Bashkirtseff sehen sich nie; ihr Briefwechsel ist ein Flirt, eine Laune, eine Groteske, von zwei differenzierten Menschen gespielt, eine Hänselei von künstlerischem Niveau. Der Maler Stauffer-Bern vermag die Enttäuschung, daß Lydia Escher, die Eingeweihte seiner genialischen Träume, zu ihrem Manne zurückkehrt, nicht zu ertragen und versinkt in Irrsinn. Hartleben, gefühlvoll und zynisch in einem, liebt sein »Moppchen« und – wird ihm untreu. Komplizierte Naturen, deren Liebesempfinden nicht jederzeit übliche Wege nimmt. Tolstoi ist im Innersten zerfallen: er liebt seine Frau und haßt sie, weil sie an seinem apostolischen, entsagungswilligen Leben nicht teilnimmt, weil sie ihn in Gewissenskonflikte hetzt; am Ende seines Daseins steht er als Überwinder der Liebe da und als – ihr Besiegter. Giovanni Segantini entführt in reine Höhenluft. Wie auf seinen Bildern prangt azurner Himmel über seiner Liebe, und wundervoll öffnet sich der weite Ausblick in ein Tal des Glücks ...

Diese Kreise sind nicht streng gezogen, greifen ineinander, unterbrechen und mischen sich. Aber der Akkord, der im ersten angeschlagen ward, tönt im letzten gekräftigt und sicher nach. Alle Masken und Posen hat der Liebesbrief abgeworfen, ist geläuterter, echter, unmittelbarer geworden. Der Rhythmus wechselt, die Melodie bleibt dieselbe – über Jahrhunderte hinweg.

Benutzt wurden für dieses Buch veröffentlichte und unveröffentlichte Briefe, Übersetzungen, soweit akkreditierte Vorlagen. Den Brief Theodor Körners an Johanna Biedermann, bisher unbekannt, überließ mir das Dresdner Körner-Museum. Er führt in die Freiberger Studentenzeit Körners zurück und lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Mädchen, das dem Herzen des Dichters, wie es scheint, recht nahestand. Den gleichfalls noch nicht erschienenen Brief Hermann Gilms stellte mir der Herausgeber der Freundes- und Familienbriefe des Tiroler Poeten, Dr. Moritz Necker, zur Verfügung. Die Briefe Otto Ludwigs übergab mir Dr. Paul Merker, der die Herausgabe des im Goethe- und Schillerarchiv zu Weimar ruhenden Ludwig-Nachlasses vorbereitet. Überall, wo Kürzungen angebracht schienen, sind sie durch Punkte gekennzeichnet. Ihre Notwendigkeit ergab sich mitunter schon, um den Apparat von Fußnoten und Anmerkungen zu vermeiden.

Dresden, Ende 1912.
Camill Hoffmann.


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