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Es war das Jahr 1260, neben ihm schritt wie einst auf der großen Wanderung, der vielerprobte und dem Herzen zugewachsene Ägid. Doch führte diesmal, anders als früher, ein Reitknecht im Lederkoller ein Pferd hinterher, das vor allem eine Auswahl Bücher trug. Des Tieres Hufe und schnaubender Atem klangen bald als vertraute Musik in diese neue Wanderung hinein.
Auch seiner Freude beim morgendlichen Aufbruch oder seinem Unwillen, wenn die abendliche Unterkunft allzu spät erreicht wurde, gab das schöne braun und weiß gefleckte Tier durch ein lebendiges Wiehern Ausdruck. Eigensinnig ging es morgens nicht von der Stelle, bis die dreiköpfige Gruppe vollzählig war und zusammen den Weg antrat, weder Albert noch Ägid durften fehlen, die auf Waldpfaden manche Krümmungen des Flusses abzuschneiden im Sinn hatten und darum später aufbrachen. Unterhaltsam war für alle immer der Anblick, wenn das Pferd aus einer aus dem Wald springenden Quelle trank oder bei der Mittagsrast von selber zu Kühlung bis an den Leib in das seichte Uferwasser des Rheins und später des Mains schritt.
Für Albert bedeutete, dem dachte er viel nach, diese Reise mehr als der Gang in ein neues Amt. Er muß für ungewiß lange Zeit aus seinem eigentlichen Wesen herausgehen, seine Güte vergessen, mitleidlos gegen eine große Zahl von, wenn auch schuldigen, Menschen werden. Er geht in eine Schlacht mit sich selbst, muß die letzten Reste des Träumers aus sich herausreißen, der einst das Paradies schon in dieser Welt zu haben begehrte und darunter litt, weil es noch so fern war. Viel hat er schon in dem Kampf der Tatlust gegen die Traumversunkenheit geleistet, er muß diesmal noch mehr tun, ganz Tatmensch werden, ganz mit seinen breiten Sohlen auf der harten Rinde dieser Erde Stand suchen.
Dabei fühlt er, daß er auch in dem menschennahen Verkehr zur Genüge Traumwandler bleiben muß, denn die Menschen müssen ihn lieben, eine gegenseitige Freundschaft, die allein das Werk fördern kann, vermag nur auf dem Urgrund der Liebe zu wurzeln. Aber die Vernunft allein lieben die Menschen nicht, die nur Vernünftigen sind es, die sich am weitesten von Gott entfernt haben. Nüchterne Besessenheit: in dieser Vereinigung schwebend sich zu halten, das ist seine Aufgabe, dahin zu kommen: das verborgene Ziel aller seiner Unruhe, aller Mühe, jeder Wanderung. Das ist das Ziel jedes Menschen, auch des einfachsten, der von sich selbst gar nichts weiß, das ist auch das Wesen des noch jugendlichen Gottes, ohne das er diese Welt nicht hätte schaffen können, die doch über allem Schrecken ein wunderreiches Märchen bleibt. Die Reise nach Regensburg mußte für Albert ein Schritt weiter werden in dieser Selbstgestaltung, es gilt ein erhöhtes Ringen mit den ablockenden Kräften in ihm selbst, nur so ist er Beispiel und Vorbild, nur so kann er den Menschen und Gott helfen. Wenn er auch freudig scheint: in der Verborgenheit seiner Seele ist ein unablässiger bitterer Kampf, Kräfte gegen Kräfte.
Zu Fuß, ohne Anmeldung von Tag und Stunde, nach vielen steinigen, manchmal irrigen Wegen, zog der kleine Trupp in Regensburg ein.
Es war Abend, sie mußten, obwohl Albert einst lange genug in dieser Stadt umhergegangen war, sich zum Kloster der Predigerbrüder durchfragen. Denn von hier aus, seinem Orden zu Ehren, will er seinen Einzug zum ersten Hochamt im Dom halten. Niemand der angesprochenen Einwohner, so sehr alle in Spannung auf den neuen Bischof warteten, ahnten, daß er schon mitten in der Stadt war und daß sie ihm selber den Weg wiesen.
Wenige Tage darnach fand der feierliche Einzug statt. Willig ließ sich Albert in das weiß und goldene Ornat des Fürstbischofs kleiden, auf dem Haupt trug er die hohe golddurchwirkte Mitra, in der Hand den elfenbeinernen, oben rundgebogenen Stab. Die Menschen wollen das, was sie lieben, schön und geschmückt sehen, auch wir Barfüßermönche zieren unsere Bücher mit Farben und Bildern und geben viele Mühe daran, ja, auch die Natur kleidet sich in die Pracht der Blumen und Schmetterlinge. Auch Gott will ich an einem solchen Tage gern durch Festkleidung ehren und auch er wird gern mich einmal so schön sehen – so sagte er zu den Mönchen, die ihn ankleideten und befühlte selbst staunend die köstlichen Stoffe mit den Fingern.
Die Einwohner von Regensburg jubelten dem Mann, von dem sie sich Rettung aus Zerfall erwarteten, ehrfürchtig zu, die Scharen knieten, wo er vorbeischritt, an der Erde nieder, um demütig einen Teil von seiner Kraft zu empfangen, und richteten sich hinter ihm gesegnet und gestärkt wieder auf. Zum Hochamt drängten sich mit der Bürgerschaft auch die adeligen Geschlechter der Stadt und des Bistums durch die allzu engen Pforten – obwohl gerade sie die Hauptschuld am allgemeinen Elend trugen.
Wer war unter den Tausend im entrückten unirdischen Licht der Kirche die junge schmale Nonne, die mit blankem Antlitz und strahlend geweiteten Augen an einem Pfeiler gelehnt stand, so daß sie aus der Ferne einem farbigen Steinbild der Mutter Gottes gleich sah? An dieser Stelle mußte der Bischof in aller Nähe vorüberschreiten, es war schwer, diesen Platz im Gedränge zu bewahren, aber es gelang ihr, und zwar nicht durch unablässige Abwehr mit Schultern und Ellenbogen, sondern durch eine innere Kraft, die von ihrem Gesicht und ihrer Haltung ausströmte.
Der Bischof selbst hatte die Schwester Aleit herbeiholen lassen. Sie vor allem sollte ihn in der himmlischen Pracht sehen, sie, die sich einst so gläubig ihm anvertraut hatte, obwohl er da nur ein Bettler mit bloßen Füßen war. Einmal aber will auch er nicht demütig sein, einmal ein Mensch wie andere, stolz auf sich, ja, auch ein wenig eitel, für einen Augenblick, Gott wird es ihm verzeihen.
Im Bischofsbau fand er die rauhe Wirklichkeit, wie in einem Sinnbild vor sich: Kein Tropfen Wein mehr im Keller, nicht ein Korn im Getreidespeicher, kein Futter für die Pferde, keine Nahrung für sich und sein Geleit, nichts war mehr vorhanden, das auch nur den Wert eines Eies gehabt hätte. Für die Bestellung der Weinlese, die gerade jetzt nötig war, für die Anschaffung von Dünger und allem anderen war nicht ein Pfennig da. Wie ein gespenstisches Mäuseheer hatten die Gläubiger Kisten und Kasten geleert.
Sogleich nach dem Einzug begann die Arbeit. Vorerst gab Albert sich nicht lange mit Briefen ab, schickte auch vorläufig niemand mit Aufträgen aus, obwohl ihm viele Leute zu solchem Zweck zur Verfügung standen, sondern er machte sich wie vorher auf seiner dreijährigen Reise, die die fernsten Klöster so wunderbar mit den nahen zu einer unzerreißbaren Kette zusammengeschmiedet hatte, zunächst einmal selbst auf die Wanderung durch sein Land, um ein wahres Bild von Zustand und Besserungsmöglichkeit zu erhalten. Wie nützten ihm nun die Erfahrungen auf der langen Reise?
Überall kam er unangesagt zu Fuß an, nur Ägid und einen landeskundigen Mann bei sich. Er ging in seinen derben Schuhen, mit dem alten Wanderstab, so konnte er nur durch sich selbst auf die Menschen wirken. Nicht beim Volk in Stadt und Land, wohl aber bei den Begüterten und Vornehmen erhob sich ein heimlicher, bald auch offener Spott.
Doppelt verehrte darum das Volk diesen Mann, von dem es wußte, daß er ein Edelmann gewesen und von dem es sah, daß die freiwillige Armut bei ihm wahrhaft entbehrungsvoll durch ein langes Leben getragen worden war.
Bei den Wohlhabenden, die mit dem Billigsten, dem Spott, begannen, erschienen bald Mißmut, Unbehagen, sogar Zorn, dann Duldung, endlich Achtung, ja Schmeichelei und Unterwürfigkeit, denn sie selber waren es und wußten darum, die das Elend im Land verschuldet hatten, indem sie die Schwäche des früheren Bischofs ausnutzten.
Jetzt, so sagte ein Geistlicher zu seinem Bruder, einem noch zweifelnden Bürger der Stadt, ist ein Mann gekommen, der gleichgültig dagegen, welche Gefühle die Betroffenen ihm zeigen, scharf und mit rätselhafter Ahnung überall selbst nachsieht, prüft ohne Eile, Unrecht Unrecht nennt und auf Wiedergutmachung besteht. Schulden, die gern in Vergessenheit geraten waren, müssen bezahlt werden, veraltete Privilegien, die das gesunde Leben ersticken, sind überall abgeschafft – siehst du das denn nicht?
Wieviel Verkommenheit war in Stadt und Land an Häusern und Feldern zu finden! Nun werden Spitäler hergestellt, einige neu erbaut, unbegüterte strebsame Leute erhalten Darlehen, hohe Zinssätze sind erniedert, Straßen über Land ausgebessert, Brücken errichtet, aller Überfluß in den bischöflichen Ämtern selbst ist beseitigt, die Zahl der Beamten und Angestellten vermindert, die Ausgaben gewaltig beschränkt. Wohl werden wie bisher Gäste an wohlbestellten Tischen empfangen, Bischof Albert aber sitzt unbekümmert unter den Schmausenden vor einem Teller mit Hafermus – du solltest ihn einmal so sehen.
Statt Einladungen läßt er Vorladungen ausgehen. Edelleute – wie hochmütig kamen sie bisher zu Festen und Vergnügungen in die Straßen hereingesprengt, nun müssen sie sich zu sauren Besuchen in die Amtszimmer der Residenz begeben und bescheiden warten, bis sie in der Reihe der vielen vorgelassen werden. Früher gingen sie mit Geld fort, nun müssen sie Geld bringen! Das muß dir doch auch lieb sein? Sie gaben dir zwar Arbeit, aber wann zahlten sie?
Vor diesem barfüßigen Manne und seinen durchdringenden Augen, das solltest du einmal sehen, werden sie bald demütig, da es Rechenschaft ablegen heißt. Sie haben viel Kirchenland in Pacht und weiterverpachtet, sie selbst treiben mit allen Mitteln den hohen Zins ein, während sie der eigenen Zinspflicht gern vergessen. Jetzt helfen keine Ausreden, kein Leugnen, dieser Mann weiß alles, wonach er fragt, schon im voraus. Muß er einmal länger die Wahrheit suchen, so geschieht das ohne kleine Hinterlist und Überrumpelung, nur durch fachlich ernste Fragen. Auch du, Bruder, wirst dein Wohl in der neuen Ordnung finden, alles Gewerbe wird blühen, bescheidener aber gewisser.
Nach einem Jahr saßen der Geistliche und sein Bruder wieder zusammen, der Geistliche war die letzte Hälfte des Jahres auf ferner Reise gewesen. Nun sprach der Bruder: Du hast recht behalten, nun kann ich lobpreisen wie du damals. Die Wirkung der neuen Ordnung im Bistum zeigt sich, die Wasserläufe sind gereinigt, die Fluren haben wieder ein sauberes Gesicht, auf den Feldern arbeiten wieder Menschen aus eigener Lust, in den Webereien und Spinnereien surrt und stampft es wieder, vorher waren die Fenster verstaubt, und die Räume, wenn man durchsah, leer.
Neue Verträge mit den Nachbarsprengeln sind unterschrieben, auf den Landstraßen rollen wieder die Fuhrwerke beladen, soviel nur darauf geht – ein Zauberer hat unser Land angerührt, wahrhaftig, neues Leben ist erwacht! Wo noch Schlummer bleiben muß, stehen doch schon die Tage der Erweckung im Kalender angestrichen!
Im großen Amtsraum ging Bischof Albertus auf und ab, das Wandern konnte er nicht lassen. Wie er einst in bescheidenen Unterkünften, in der Kölner Zelle; in den Scheunen und Bauernstuben unterwegs seinem Gefährten Ägid Übersetzungen in die Feder sagte, so sprach er jetzt unzählige Briefe an Jagdpächter, widerspenstige Edelleute, Zolleinnehmer, Steuererheber, Baumeister, Handwerker, einer Anzahl von weltlichen Schreibern zu, ging dabei von einem Tisch zum andern. In anderen Zimmern hatten Ordensbrüder geistliche Schreiben anzufertigen, die ihr Bischof in häufigem Kommen und Gehen ihnen darlegte.
Nach zwei Jahren bereits konnte er sein Amt dem Papst zurückgeben, sein Nachfolger brauchte nur auf der bereiteten Bahn weiter zu schreiten.
Der Papst, erstaunt und mehr als zufrieden, bat ihn trotzdem noch eine Weile in Regensburg zu bleiben, um so noch in der Nähe dem Lauf der Neuordnung, die er geschaffen, abzuwarten. Albertus erlebte die Genugtuung, daß alles sich entwickelte, wie er es gesät hatte. Er durfte in seiner kleinen Welt wie Gott in seiner großen sagen: Ich sah an alles, was ich geschaffen, und siehe, es war sehr gut! Die Schöpferfreude Gottes, die er predigte: nun spürte er sie im Kleinen – nicht gar so klein, denn er hatte mehr getan als in einem Bistum Ordnung und Recht hergestellt. Er hatte ein Beispiel gegeben für das ganze deutsche Land, wie es sich regen mußte, auch in ohnmächtiger Zeit, ja, gerade dann. Gerade dann galt es, den Bedrückten beizustehen, die Ausschweifenden ins Maß zurückzuzwingen, die Jugend durch das Vorbild der Erwachsenen zu bilden. Wird es überall so, dann hebt sich das ganze Land aus seiner Not. Die Hilfe kann nicht durch Waffengewalt der Fürsten und Städte, sondern nur von der eigenen Seele kommen. Die Menschen zu dieser Erkenntnis bringen, auch das ist tätige Liebe.
Noch ein weiteres Jahr hielt der Papst den seltenen Mann von der Rückkehr an den Rhein ab und bat ihn dafür in seine Nähe.
Endlich durfte der endlos sich Plagende und Opfernde zu einem Ruhejahr, was immer für ihn ein Jahr der Arbeit an seinen Büchern bedeutete, in das Würzburger Kloster seines Ordens einkehren. Hier hatte er nicht nur ein prächtig deutsches Land mit Weinbergen, schiffreichem Fluß, Kirchen und Burgen um sich, sondern fand auch einen ihm neu zugewachsenen Freund und Schüler, den Pater Ulrich von Straßburg vor, der ihn die frühere Gemeinsamkeit mit Thomas von Aquin noch einmal durchleben ließ. Auch sein leiblicher Bruder Heinrich war hier, mit ihm konnte er in den Abendstunden von der Jugendzeit sich erzählen, tief in Erinnerung versunken.