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Zunächst ließ er sich in die Matrikel der Universität einschreiben, der spöttischen Verwunderung über den vierzigjährigen Studenten durfte er nicht achten.
Durch das Halbdunkel der Hörsäle in Padua schimmerte viel Blondhaar deutscher Studenten. Daß an dieser Hochschule auch Naturkunde gelehrt wurde, ließ Alberts schwäbische Seele bald weniger in der Weltweisheit Sättigung suchen, als in der Natur selbst. Sie zeigte ihm hier ein neues Gesicht, das verstärkte seine Hingezogenheit.
Tägliche Wege brachten ihn mit einigen jüngeren Gefährten vor die Stadt. Oft blieb er noch draußen, wenn die Freunde heimkehrten. Dann saß er wieder wie in der Heimat an der Erde, sah Sonne und Mond nieder- und aufgehen, die Sterne sich entzünden. Aber eins war jetzt anders: nicht mehr träumerisch, sondern mit erwachten Sinnen beobachtete er Wolken und alles, was auf der Erde war, Wasserläufe, Pflanzen, Tiere. Und er tat noch einen Schritt weiter: er schrieb nieder, was er sah.
Bald vermochte er merkwürdige Erscheinungen der Natur ahnungsvoll zu erklären, hinter denen seine Zeit noch die Wirksamkeit böser Geister argwöhnte. Seine Gefährten kamen immer öfter zu ihm und fragten ihn um Deutung solcher Rätsel.
Er machte kurze Reisen und kletterte in Bergwerken herum, um dem Herzen der Erde näher zu kommen. Er ließ sich von Landleuten, Handwerkern, Kaufleuten über den Zusammenhang ihres Tuns mit Wetter und Jahreszeiten unterweisen, fragte Seefahrer nach Klima, Tieren und Pflanzen fremder Zonen, und füllte sich auf diese Art inbrünstig die Welt voller aus.
Die Natur hörte für ihn auf, nur da zu sein, etwas, das die Menschen hinzunehmen haben, wie es ist. Sie wurde ihm Schöpfung, wer aber war der Schöpfer? Das war die Frage, die sich fordernd, quälend vor ihm auftat. Der Name Gott genügte ihm nicht. Was will Gott mit seiner Schöpfung? Warum macht er sich die Mühe dieses Werks? Es muß dem Werk doch ein Sinn zugrunde liegen, ein Sinn all diesen Unvollkommenheiten, den Schmerzen und Leiden, den Versuchungen, ein Sinn dem, was allem Leben endlich unabwendbar folgt: dem Tod.
Ja, der Tod macht erst das Leben. Leben und Tod sind untrennbar, eines ohne das andere nicht zu denken. Also gilt es, vor der Wirklichkeit nicht die Augen schließen, die Wahrheit auf sich nehmen, das Notwendige nicht beklagen, das Unabwendbare nicht fürchten, ernst aber hochgemut dennoch das Leben fruchtbar machen.
Aus der Natur ist Albert nach langem Ringen zu dieser Erkenntnis gekommen. Er ist entschlossen, die Erkenntnis nicht Traum werden zu lassen, sondern sie in ein Tun zu wandeln. Aber welches Tun? Was soll er beginnen, um als der neue Mensch, der in ihm im Werden ist, vor allem die Forderung eines fruchtbaren Zusammenlebens mit den anderen Menschen zu erfüllen, denn hiervon kommt ihm ja die schmerzlichste Not.
Soll er Lehrer der Naturkunde werden in Padua, wie der Ohm spöttisch fragt? Das wäre viel, aber zu wenig für ihn, denn er steht ja nun hinter der Natur immer Gott. An Gott muß er heran, Gott muß er erkennen. Aber dafür muß er einen anderen Weg beschreiten, den in sein eigenes Innere. Doch dann kommt er wieder dahin, wohin ihn einst der Schrecken des Erdbebens schleuderte – und wäre bei allem Drang zur Erkenntnis in einem Kreis gegangen wie ein Verirrter in der Wüste.
Die Stirn heiß vom Suchen, ging er durch die entlegenen Straßen der Stadt, fern von den Gefährten, er wollte einsam ringen. Die Frauen sahen ihn an, viele lockend, andere mütterlich, teilnehmend, da sie ihn traurig sahen. Eine kam öfters ernst und mit gesenktem Blick an ihm vorbei. Einmal hob sie ihre Augen groß auf, ihrer beider Augen tauchten tief ineinander. Albert erschrak seltsam. Kam nicht auch dies, daß Mann und Frau ist, geteilt und zu sehnsüchtiger Einigung gezwungen, von Gott, dem Schöpfer alles dessen, was ist? Darf Albert das auf seiner Suche vergessen?
Im Hause war Gabriela, von einer italienischen Mutter, so vereinte sie nordischen Ernst mit südlicher Heiterkeit. Die strenge Sitte des Südens hielt die beiden entfernt, aber sie sahen sich außer bei den Mahlzeiten doch oft genug am Tag, um sich an einander mit kleinen Scherzen zu freuen. Sie nähte ihm die Risse am Gewand, die er vom Umherschweifen in der Landschaft heimbrachte, sang bei geöffneter Tür zur Mandoline italienische Lieder. Ist das, Albert, nicht auch Leben, dir von Gott dargeboten?
Aber dieser suchende Vierzigjährige war nicht nur ein aufrichtiger, in sich versenkter Mann, sondern auch ein Mann mit verborgenem Feuer im Blut, der aus dem schmerzlichen Trieb zur Wahrheit, das, was er tat, ganz tun mußte. Ihm war, nach einem geheimen Befehl in seiner Brust, nicht erlaubt, nur das zu tun, was alle tun. Er mußte ein Besonderes tun, nur vermochte er noch nicht dahin zu finden.
Außerdem hatte er eine in Sinnenleben und Traum verlorene Lebenshälfte hinter sich, er mußte nun um so mehr leisten. Er hatte darum auch nicht viel Zeit, sich noch einmal zu versäumen. Wenn er mit Gabriela flüsternd scherzte, halb bereit, den irdischen Weg aller zu gehen, ward der heimliche Ruf in ihm laut. Er ließ von diesem Wege ab, aber er sah den neuen Weg nicht, der lähmende Traumbann drohte wieder über ihn herzufallen, ein qualvolles Gewicht.
Manchmal und immer häufiger besuchte er die Kirche der Predigerbrüder des neuen Ordens der Dominikaner, nach dem Vorbild des Franz von Assisi gegründet. Hier hörte er von einer frohen Zugewandtheit zur Welt sprechen, von einer Liebe auch zum Geringsten in der Schöpfung: unter diesem Zeichen begann das neue Jahrhundert. Albert horchte auf, er fühlte sich mächtig angerührt, aber das rechte Wort blieb doch noch aus.
Zur Stunde, da es notwendig war, kam das Ereignis, auf das er in sich ahnungsvoll wartete: eines Abends traf Jordan von Sachsen, der Hochmeister des Ordens, in Padua ein, zu Fuß, im Staub der Straße, in weißer Kutte mit schwarzem Überwurf.
Ihm ging ein weiter Ruhm voraus. Die Studentenschaft drängte mit ihm in die Kirche, ihn zu hören.