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Seine alte Zelle empfing Albertus und die unvergessenen Wege den Rhein entlang. Alles frühere wiederholte sich gesteigert, die Schar seiner Schüler war ins Vielfache gewachsen, solche aus Holland, Skandinavien, England, Frankreich, Italien, Spanien waren darunter.
Dennoch, was fehlte? Genügte die bloße, wenn auch erhöhte Wiederholung nicht? Rief sein Herz nach neuem Erleben? Ahnte es ein kommendes Ereignis?
Unter seinen Schülern war ein junger Italiener, Thomas von Aquino, aus gräflichem Geschlecht in Neapel. Die hohe Herkunft brachte ihm bei diesem Orden keinen Vorteil, es gab bei den freiwillig armen Predigerbrüdern viele Adelige aus alten Geschlechtern. Da er, vielleicht nur weil er sich im Norden fremd fühlte, schweigsam blieb und den Mitbrüdern eher schläfrig als verträumt erschien, hatte er viel Spott zu ertragen.
Albert nahm sich gerade dieses Spottes wegen seiner an. Der Stumme öffnete ihm denn auch allmählich sein Herz: von der Gestalt des Franz von Assisi wie viele Jünglinge ergriffen, wollte er anfangs in dessen Orden in Neapel eintreten. Der Widerstand der Familie und der Ruhm Alberts drängten ihn über die Alpen an den Rhein.
Albert war auch der einzige, der diesem schwer zu meisternden Jüngling ein wahrer Seelsorger werden konnte. Er erkannte nach den ersten Annäherungen, daß die Stummheit nicht aus Fremdheit kam, sondern aus Versenkung in sich selbst, aus geheimem Ringen um Erkenntnis, von verzücktem Glauben bis zur Qual des Zweifels, unablässig schwankend. Dieser Schüler war der gefühlstiefste, den Albert je gehabt – wie es ihn zu Albert zog, zog es diesen zu ihm, mit jedem Tage mehr, hier hatten sich zwei gefunden, die eine höhere Bestimmung als der Zufall zu einander führte.
Viel hatte dieser südländische Schüler zu fragen, aus verborgenen Gedankengängen heraus: Meister Albertus, was war wohl die höchste Freude, die Jesus auf Erden gehabt?
[Zeile gelöscht. Druckfehler im Buch. Re.]
Warum?
Er sagt es selbst: Das habe ich mit großem Verlangen begehrt, daß ich dies Abendmahl mit euch teile.
Was war der Grund, daß er das Abendmahl mit so großem Verlangen begehrte?
Er dachte an die vielen Menschen, die bis an den jüngsten Tag nun immer an diesem Fest seinen Leib und sein Blut empfangen und so mit ihm vereint würden, daß sie auf diese Weise auch mit Gottvater eins wurden und dann zum dritten, daß nun die Stunde gekommen war, wo er Leib und Blut wirklich hinopfern mußte ans Kreuz und daß alle in Gegenwart und in Zukunft in dieses Opfer, in dem er sich selbst für sie hingab, einbegriffen waren.
Unter solchen, anfangs tastenden Gesprächen, die Albert allein mit Thomas führte, zeigte sich bald über allem Gefühl ein scharfer Verstand des Schülers, dem standzuhalten der Lehrer Mühe hatte.
Allmählich brachte Albert ihn dahin, bei den allgemeinen Kampfgesprächen mitzureden, erst im engeren Kreis, dann im immer wachsenden. Endlich hatte der stumme Schüler die Fähigkeit erworben, seine Gedanken auszusprechen, auch die, zu denen ihn die Feinheit oder das Feuer eines Wettstreits erhob.
Wie ein Sohn bist du mir, sagte der Meister, verwundert und beglückt, du trittst für meine Lehre mit völlig neuen Begründungen ein.
Aus einer so seltenen Gemeinsamkeit mußte Großes entstehen; für alle Mitglieder des Ordens waren dieser alte und dieser junge Mönch von einem deutlichen Schicksalshauch umwittert. Nach wenigen Jahren war auch in fremden Orden und unter den Gelehrten weithin nicht mehr von Albertus oder von Thomas von Aquino die Rede, sondern nur noch von beiden zugleich als von einer Einheit. Ihrer beiden Schriften wurden zusammen von Kloster zu Kloster über das ganze Abendland getragen.
An einem Nachmittag der Woche gingen die beiden allein das Rheinufer entlang, stromab mit den Wellen. Jedes Gespräch erhielt einen Teil Ewigkeit von der Ewigkeit des Wassers mit, das strömen wird wie heute, wenn die beiden Wandelnden längst stumm geworden.
Das Wunder der Weltschöpfung faßte Thomas mehr mit den Gedanken, Albert mehr mit den Sinnen, beiden war das Bild der Menschheit das gleiche wie das des Wassers vor ihren Augen: ein immer erneutes Daherkommen der Wellen und doch im großen immer derselbe Strom. So kommen und gehen durch die Jahrtausende die Menschen in ununterbrochenem Fluß, aber die Menschheit bleibt.
Nie hatte Albert so leuchtende Tage gehabt wie auf diesen Wegen zu zweien am Strom. Hätte jemand dem Gespräch der beiden zugehört, so wären ebenso häufig die Namen Jesus, Maria, Johannes, Paulus, Augustinus, Franziskus, Dominikus, wie die der griechischen Weltweisen an sein Ohr gedrungen. Albert hatte viel Behendigkeit nötig, um den messerscharfen Fragen und Einwänden seines Schülers unausgesetzt zu begegnen, so wuchs auch der Lehrer am Schüler. Es war stets ein Wetteifer, der spielerisch wie zur Übung begann, dann schnell in Ernst überging, den Gegner nicht schonte, oft die Stimmen laut werden ließ, nie aber kam es bis zu Kränkungen.
Das Wort der Worte, das Jesus sprach, bleibt doch das Wort Liebe, sagte Thomas einmal, es gab vorher ein Zeitalter der Menschheit und es fing ein neues an, als das Wort gesprochen war. Aber wie leicht wiederholt es sich mit dem Munde und wie schwer ist es getan. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Welches Wort ginge so gegen die Natur des Menschen, die uns doch auch von Gott gegeben ist, nur ein Ziel kann dieses Wort bleiben, vor uns aufgestellt, aber wer könnte ihm auch nur nah kommen? Wer wird jemals ihm nah kommen können? Niemand, und sei es der Heiligste.
Ich muß dir recht geben, sagte Albert, ich habe ähnliches gesagt in Paris, als ich dort jene erste Predigt hielt, die mich doch nicht zum Hochmeister machte. Was aber meinst du von der Selbstlosigkeit der Liebe?
Es gibt keine Selbstlosigkeit und kann es nicht geben, denn jeder Mensch ist für sich geschaffen, er muß also zuerst an seine eigene Erhaltung denken, diese Selbstsucht ist ein Gesetz von Natur aus.
Du hebst mit deiner Behauptung den Begriff des Opfers auf: bist du dir darüber klar?
Ja, so ist es: Es gibt kein Opfer, das nicht auch immer dem Opfernden zugute käme und zugute kommen soll.
Kommt es denn nicht allein darauf an, daß etwas Gutes getan wird?
Das hieße, daß ein Wort sein Gegenteil aussage.
Ja! Denk an den ursprünglichen Sinn des Wortes: im Altertum opferte der Mensch anstelle unseres Gebets, um durch Geschenk irgend etwas zu erlangen oder auch um für etwas zu danken, aber das ist im Grunde dasselbe, denn wenn er dankt, so denkt er dabei an spätere Wünsche, die er auch erfüllt sehen möchte, und stellt den schenkenden Göttern die Gewißheit auch späteren Dankes vor.
Du meinst also, es habe sich nur die zweite Stufe des Opfers erhalten, das bei uns sich in die Gewalt einer eigenen Aufopferung gewandelt hat: eben die Selbstlosigkeit eines guten Tuns?
Ich meine, daß jede Selbstlosigkeit ihren Lohn findet, ihn also unbewußt auch gesucht hat.
Ein Bruder, eine Schwester unseres Ordens, sagte Albert, die im Spital ein ganzes Leben sich mit Kranken abmühen – wer sieht sie, wer spricht von ihnen, wer weiß auch nur von ihnen? Ihr Tun geht im Verborgenen vor sich – auf was für einen Lohn sollten sie warten?
Sie gewinnen sich doch den Dank und die Zuneigung ihrer Kranken, auch den Beifall derer in den umliegenden Betten.
Und wenn ein Pfleger oder eine Pflegerin bei Seuchen ihr Leben hingeben?
Gerade dann erfüllen sie sich selbst und sterben glücklicher als der, der sie angesteckt hat, denn sie enden ihr Leben nicht durch einen bloßen Zufall, sondern in einem Sinn, auf einer erhöhten Stufe.
Nun Thomas, ich nannte dir eine einzige Art der Selbstlosigkeit, es gibt unzählige Arten, sogar geheimen Wohltuns, wo ein Dank unmöglich ist.
Wie? Jeder Wohltuende freut sich seines Tuns, wärmt sich daran, das Bewußtsein Gutes getan zu haben, verbreitert seinen Lebensinhalt und verstärkt seine Lebensfreude, sein Selbstbewußtsein, ja Stolz und Selbstgefühl, er hat ebensoviel, wenn auch gemüthaften Nutzen als der, dem er Gutes tat. Tat er es unbekannt, heimlich und stumm? Dann zeigt sich diese Steigerung der Kräfte bei ihm eher noch in vermehrtem Maß.
Kommt es denn nicht allein darauf an, daß etwas Gutes getan wird?
Ja, es wird mit der Selbstlosigkeit etwas Gutes getan, aber in einem Mal zweimal, dem Empfänger und dem Geber – also ist das Wort Selbstlos nicht am Platz.
Es kommt doch nicht auf das Wort an.
Doch, hinter dem Wort steht die Bedeutung und es beansprucht fraglos eine breitere, als ihm zukommt.
Dieser Wortstreit wird zum Glück nicht hindern, daß weiterhin ungezählte Menschen ohne Lohn, ja ohne Dank Gutes tun.
Aber nicht ohne Lohn der Selbstzufriedenheit.
Einen geringen Lohn will der geringste Knecht haben, auch das ist Menschennatur.
Ja Albertus, ich will unserm Wort auch nicht den Wert abstreiten, der ihm zukommt, ich will nur seinen wahren Sinn ergründen.
Also Thomas, wenn wir fernerhin Selbstlosigkeit fordern, geben wir uns einer Art Selbsttäuschung hin?
Es ist so.
Wir sollen also diese Forderung nicht mehr stellen, ein Hauptgebot unseres Ordens?
Doch, nur ist es nicht not, daß jedermann um den tieferen Grund und Abgrund jedes Wortes weiß. Aber wir, die wir nachdenken und darum wissen müssen, wollen mit diesem Wort wie mit manch anderem sparsamer sein.
So ist es! Aber wie unmöglich würde das Leben der Menschen, wenn wir uns bei allen Aussagen bis an das äußerste Ende eines Wortes vorarbeiten wollten wie auf einem Ast, der schließlich hinter uns abbricht!
Dann ergäbe sich die weitere Frage, ob wir Nachdenklichen unsere Ergebnisse nicht doch in Forderungen umsetzen müssen, um eine möglichste Wahrhaftigkeit des Lebens zu erreichen?
Nun kommen wir auf demselben Punkt zusammen: die Forderung der Selbstlosigkeit muß als ein Ziel hingestellt bleiben, auch die Nähe Gottes ist auf dieser Erde nicht erreichbar. Aber wir sind auf dem Wege dahin. Und nun Thomas, um noch einen Schritt weiter zu wagen, aber erschrick nicht: Denk einmal an den Lohn, den Jesus erhielt für das Opfer am Kreuz: Ruhm, Macht, Liebe unendlich über die Jahrtausende. Und – er wußte darum.
Unser Wort öffnet sich wahrhaft zu einem Abgrund. Nein Albert, Jesus war auf Erden ein Mensch, litt, starb als ein Mensch, er mußte auch einige menschliche Begrenzungen hinnehmen. Dadurch erst wurde er ja ganz Mensch und wir wissen umso mehr, daß seine Schmerzen und Qualen wirklich waren. Er wird durch diesen Gedanken nur erhöht.
So ist es. Er schwebte als Mensch über dem Abgrund wie wir alle.
An andern Tagen erinnerte Albert sich gern seiner Wanderungen und besonders der Tiererlebnisse, die er dabei gehabt. Er erzählte von Eichhörnchen, Mardern, Luchsen, Ebern, ja Wölfen und Bären, aber auch von der Kleinheit der Ameisen und Bienen.
Diese Freude des Gemüts war dem Südländer Thomas fremd. Er bewunderte seines Meisters Beredsamkeit in solchen Stunden, lange aber hörte er, mit behutsamer List, Erzählungen dieser Art nicht zu, sondern hing seinen eigenen Gedanken nach, während der Meister mit eifrigen Gebärden weiter sprach.
Einmal spielten Kinder am Ufer. Die beiden Mönche in den weißen Kutten, die schwarzen Umhänge über eine Schulter zurückgeworfen, sahen zu. Thomas entzückte sich an den reizvollen Bewegungen, dem gewandten Haschen und Entkommen, alles geschah dicht am Rand des Wassers. Albert wurde still und ungewohnt traurig. In seinen Kindern läßt auch der geringste Mensch etwas von sich auf der Erde zurück, wenn er geht! Ist das wohl der Natur und damit Gott nicht doch willkommener als das, was wir in unsern Schülern und Schriften zurücklassen? Haben Eltern doch der Schöpfung nicht mehr gedient?
Kinder in Fülle, sagte Thomas, wir wenigen sind der Welt so nötig wie die vielen.
Ein einziges Mal erzählte Albert, während sie am Ufer im Gras saßen, mit leiser Stimme von der geheimnisvollen Erscheinung der Gottesmutter, die neben ihm durch den Wald ritt, später im Traum zu ihm sprach, Thomas hörte stumm zu, gläubig und vom Jenseitigen angerührt, den Meister ehrend und beneidend.
Wie einst Hochmeister Jordan dem Jünger den Brief seiner fernen Freundin in Bologna vorlas, so sprach Albert am Rheinufer von seinem Briefwechsel mit der Äbtissin Almudis im Wesergebirge, die er nie gesehen hat und wohl nie sehen wird, die aber einen wichtigen Teil seines Lebens bedeutet. Es ist dadurch immer eine Spannung des Herzens vorhanden, eine Frauenseele empfindet in manchem doch feiner. Ich glaube, daß auch die ferne Dichterin in ihren Briefen an mich mehr von ihrem Herzen geben kann als in Briefen an eine Frau. Das ist nun einmal von der Natur so geschaffen und in einer geistigen Gipfelung auch uns Entsagenden und dadurch in gesteigertes Leben Gehobenen unverwehrt.
Man muß wohl älter sein, um das zu verstehen, sagte Thomas, vielleicht bin ich dir einmal so dankbar für diese Lehre wie du dem Meister Jordan.
Immer wenn die beiden Wandelnden am Ende ihres Weges angelangt waren, standen sie eine Weile still und sahen dem davontreibenden Wasser nach. Albert dachte dann immer mit wahrer Sehnsucht an das Meer, das er außer bei Venedig noch nie gesehen.
Ich habe in Neapel große Stürme gesehen, sagte Thomas merkwürdig gereizt.
Aber es fehlt euch da unten die offene Verbindung mit dem Weltmeer, eure Winde kommen, woher sie auch wehen, vom Lande.
Eure Wasserwüste da oben ist leer, unser Wasser wurde von Odysseus befahren, von Ägyptern und Phöniziern, tausend Städte säumen es ein von höchster Schönheit. Immer war da Geschichte und Völkerschicksal, ist noch da und wird immer da sein.
Die Weite fehlt, sagte Albert mild.
Aber Thomas ging erzürnt allein nach Haus.
Lehrer und Schüler, Vater und Sohn, mieden sich einige Tage. Albert konnte darauf vertrauen: Thomas wird, als sei nichts gewesen, wiederkommen und ihn zum gemeinsamen Weg abholen.
Solche kurzen Unterbrechungen der Gemeinsamkeit sind gut für beide, sagte er zu seinem alten Lehrer Sintram, der verwundert fragte. Man fühlt, daß es an der Zeit dazu ist, weiß es aber nicht anzufangen, den geringsten Vorwand macht man sich dann zunutze.
Eines Tages sagte Thomas mit gesenkter Stirn: Verzeih, Meister, der Vergleich des Stromes mit dem Leben eines Menschen, dem du so gern nachdenkst, ist unrichtig.
Albert blieb stehen, er hatte den Blick gerade mit besonderer Inbrunst an die strömende Wasserflut gehängt: Wie? Was du da sagst, schmerzt mich geradezu.
Ich überlege das, was ich da aussprach, seit langem.
Dann sprich es vollends aus, die Wahrheit über alles, anders hast du es von mir nicht gelernt.
Dein Vergleich, Meister Albert, erniedrigt uns Menschen zu Wellen, die Wellen sind gleichartig, jeder Mensch aber geht seinen Weg für sich, jeder hat seine eigene Seele.
Das würden die Wellen, könnten sie denken und sprechen, auch von sich sagen. Erst aus genügender Höhe gesehen, werden die vielen Tausenden zu einer unterschiedslosen Menge, die Richtung einheitlich, die Geschwindigkeit die gleiche. Gott sieht uns als einen Strom an.
Meister, wir können jeder nur sich selbst empfinden. Und kein Mensch, mag er auch zeitlebens durch die Ebene sich schleppen, sieht einen Weg anders als einen mühseligen Berg vor sich. Gewaltig ansteigend steht der Berg der Welt vor ihm da, er muß hinauf, nicht wie die Wellen hinunter ohne Kraftanstrengung. Ja, der Mensch geht ja den Berg des Lebens, ist er oben angelangt, nicht wieder zu Tal, sondern sein Weg führt ihn vom Gipfel mit einem Schritt in eine unbekannte Welt da oben, in der er bleibt. Alle Völker seit Urbeginn, alle Rassen, alle Bekenntnisse suchen Gott auf den Bergen. Auch der letzte Weg Jesu führte bergauf. Denk, mein Meister, an das Wort des großen Augustinus, achthundert Jahre vor uns gesagt: »Alles Sein ist in Stufen auf das höchste Gut hin, auf Gott, ihm will ich aus brennendem Herzen das Lied der Stufen singen.«
Das Lied der Stufen, welch wunderbares Wort, wiederholte Albertus, sprach dann lange Zeit nichts, vermied es auf den Strom hinauszusehen, sprach auf dem Rückweg von andern Dingen.
Beim nächsten Ufergang sagte er wieder nach langem Schweigen vor sich hin: Lied der Stufen, Stufen der Schmerzen und der Not.
Ja, rief er bei der Rückkehr: in der Mühe freudig sein, in Staub und Sonnenbrand, die Stirn zum Himmel halten, in das Lied der Stufen bergan miteinstimmen als in den großen Gesang der Menschheit, die in aller Qual dennoch an das Hohe glaubt.
Bei der dritten Wanderung sagte er von vornherein: Mein Bruder, ob diese Wellen ihren Drang nach vorn nicht auch als Glück empfinden? Was wissen wir? Singen denn die Wellen nicht auch? Hör doch einmal genau hin. Bei beiden, Strom und Berg, handelt es sich ja nur um ein Gleichnis, nicht in allem einzelnen kann ein Gleichnis stimmen, dann wäre es kein Gleichnis mehr, sondern ein Gleiches. In unserm Falle sind beide Gleichnisse gut anwendbar, jedes bezeichnet im Bild etwas Besonderes: Der Berg, die über aller Qual liegenden Stufen – wie herrlich! Aber auch der Quell, der Fluß, der Strom, der ungehörte Gesang des Meeres, ruhevoll in aller Unruhe – wie herrlich!
Ein anderes Mal wieder sagte Albertus: Hör einmal Bruder Thomas, die Erde ist gewölbt, eine Kugel, wo du sie in der Hand hältst und antastest, steigt sie auf, also muß doch auch alles Wasser den Berg hinan. Drehst du die Kugel in der Hand, so wird die Höhe zum Absturz, aber kommt das Wasser von der entgegengesetzten Seite, so muß es doch hinauf – also Anstieg und Absturz in einem, wie wollen wir es nennen? Beides, o Wunder, ist in der Kugel dasselbe geworden!
Der Berg, sagte Thomas hartnäckig, das Kreuz auf dem Berge!
Erhöhung und Absturz sind das gleiche, sagte Albert ebenso hartnäckig. Man muß nur aus genügender Höhe auf die Kugel hinabsehen wie Gott. Viel hast du mir zu denken gegeben: Dank!
Mit deinen letzten Worten hast du auch mich zu neuem erschüttertem Nachdenken gebracht, Meister Albert, Dank auch dir.
Sprich mit unsern Schülern darüber, sagte Albert, als sie in die Klosterpforte eintraten, laß sie an der Nuß beißen, sie öffnen sie so wenig wie wir beiden. Was wäre die Welt ohne Rätsel, was Gott ohne Geheimnis? Lied der Stufen, Gesang der dahin eilenden Wogen – was ist erhabener? Auf den Stufen singen Menschen aus brennendem Herzen, das ist das Entscheidende, obwohl man sagt, daß auch Matrosen im Sturm, ja im Untergang singen. Aber das ist nicht Jubel, sondern Trotz, und so behältst du am Ende um ein Geringeres mehr Recht als ich.
Thomas predigte schon lange Zeit allsonntäglich, Patrizier und Bürger strömten ihm noch mehr zu als einst dem Meister Albert. Vor allem die Patres und Gelehrten aus anderen Orden, deren Köln kaum weniger als Paris beherbergte, fanden sich mit jedem Sonntag zahlreicher ein.
Die Ordnung seiner Gedanken war klarer als bei Albert, wie seine Jugend geordneter verlaufen war, auch das Erbe des Südens mit den kantigen Linien seiner Häuser und Berge trug dazu bei. Und wiederum hatte seine Rede durch die südliche Herkunft ein dunkles Feuer, das ebenso aus seinem verborgen glühenden Innern kam wie aus dem melodischen Metall seiner Stimme.
An der Pariser Hochschule wurde der Lehrstuhl frei, den Albert sechs Jahre inne gehabt. Thomas entflammte in der Hoffnung, dorthin kommen zu können. Traurig, ihn zu verlieren, setzte sich Albert dennoch hin und empfahl in einem Brief an den Hochmeister seinen Schüler Thomas für dieses bedeutungsvolle Amt.
Bruder Thomas ist zu jung, antwortete der Hochmeister Johannes von Wildenhausen.
Jung ja, aber es gibt im Orden unter Alten und Jungen keinen geeigneteren, dafür stehe ich mit meinem Wort. Noch nie habe ich eine Bitte getan und werde so leicht nicht wieder eine tun außer dieser einen, antwortete Albert.
Ehe er noch den Brief abgesandt hatte, kam sein alter Lehrer in seine Zelle und sagte: Bruder Albert, vertraue diesem Südländer nicht allzu sehr, gerade ihn solltest du nicht empfehlen. Kaum aus deiner Nähe, wird er dir untreu werden und deine Lehre nur benutzen, um eine neue darauf zu bauen. Er verbrennt vor Ehrgeiz und Machtbegier, welche Stadt wäre verführerischer für einen solchen als Paris?
Ich vertraue ihm dennoch, sagte Albert, und verlange keine falsche Treue. Kommt er zu einem Ausbau meiner Lehre, wie er sie von mir empfing, so ist es natürlich und geschieht aus innerem Gesetz, er kann garnicht anders. Meine Lehre ist entweder stark genug, um sich zu halten, oder sie vergeht für einige Zeit oder für immer. Das alles hat seine Bestimmung in sich, kleine Besorgnisse und Gegenmaßregeln der Menschen können daran nichts ändern.
In der Nacht kamen aber doch Unruhe, Zweifel, Qual über ihn: bin ich nicht mit allzu demütigen Worten über mich selbst und mein eigenes Werk hinweggegangen? Hat Thomas wirklich so übermäßigen Ehrgeiz in sich? Wie könnte es bei einem Mann seiner Art anders sein? Was ist Ehrgeiz am Ende andres als Liebe zu seinem Auftrag, zu dem, um was wir alle uns mühen und zu kämpfen begierig sind? Ja, könnte die Welt ohne den Ehrgeiz der Auserwählten bestehen? Jede Mutter wünscht ihrem Kinde besonderes Wohlergehen und ihr Gewissen nennt es nicht Sünde, weiß sie doch, daß die anderen Mütter ebenso empfinden – so hat der Weltschöpfer für Ausgleich gesorgt.
Und ich? Wenn ich ihn nach Paris sende, tu ich es denn aus einem anderen Grunde als aus Ehrgeiz? Aus einem edlen Ehrgeiz, der keinen anderen Lohn will, als daß mein Werk lebt, denn ich nehme doch an, daß er dafür eintritt? Es ist natürlich, daß er über mich hinaus will. Wäre es meiner Lehre dienlicher, wenn ich einen weniger leidenschaftlichen, weniger hochstrebenden Schüler hinsende? Ein ergebener und mittelmäßiger Apostel erweckt sicherlich so wenig Begeisterung für sich wie für seinen Lehrer, ein trotziger Schüler, der mir in der Ferne entwächst, der im Widerspruch zu meiner Lehre gerät und sie feurig bekämpft, der eine Zahl mit ihm glühender Hörer an sich zieht, die für oder gegen ihn sind, damit für oder gegen mich – aus wessen Worten redet mein Wort lebendiger? Soll ich mein Werk, wie ein furchtsamer Vater sein Kind, vor jedem Wind der Zukunft bewahren und wüchse er zum Sturm? Gerade Ehrgeiz will Größe und Größe will Kampf. Geh hinaus, Sohn Thomas, steig auf! Nicht für mich, sorge für dich, deine eigene Seele laß wachsen.
Am Morgen sandte Albert den Brief nach Paris ab und konnte nach kurzer Zeit dem im Klosterhof einreitenden Boten die günstige Antwort aus der Hand nehmen. Sogleich brachte er sie zu Thomas hin.
Der Schmerz beim Abschied seines liebsten Jüngers beengte ihm die Brust, er gab ein Stück seines eigenen Lebens hin, es war ihm, als ginge seine eigene Jugend von ihm. Er wird mit anderen Schülern den Rhein entlang gehen, aber nie mehr mit dem, der ihm der liebste geworden, dem die hohe Bestimmung aus den Augen sah, nie wird die Wunde heilen.
Thomas, am Abend vor der Abreise, das Gesicht fiebrig erglühend vor Ungeduld, bat: Bruder Albertus, kann man mir für den weiten Weg ein Pferd zugestehen? Als Südländer bin ich so weite Fußwanderungen, dazu in solch schweren Schuhen, nicht gewohnt.
Nein Thomas, sagte Albert, du kennst meinen Willen: Gehorsam auch in den kleinen Dingen – davon werde ich nie abgehen. Denk daran, daß den kleinen Zugeständnissen sogleich die großen folgen, sie lauern nur darauf Gewalt zu gewinnen. Endlich kommen auf so langem Wege beim Wandern unsere schönsten Gedanken von selber herbei, als holde und mächtige Begleiter. Nimm das als meine letzte Lehre.
Thomas küßte den väterlichen Freund auf beide Wangen: Ich danke dir mein Vater Albert, daß du mir bis in die letzte Stunde hilfst, das Richtige zu tun. Ich vergaß mich und gehorche.
Am Morgen nahm er Abschied. Sein schmales Gesicht war, während Alberts Augen trocken blieben, von Tränen überströmt. Er fühlte in dieser Stunde übermächtig, was das Schicksal ihm mit diesem Lehrer im fremden Norden zugewiesen hatte.
Vor dem Tor reckte er die Arme zum Himmel, ließ diese Stadt und ihren Strom, die ihm eigentlich fremd geblieben waren, seinen Lehrer und seine Mitbrüder hinter sich – für immer, das fühlte er. Er wird über alle hinauswachsen, auch über seinen Lehrer. In einem wilden Streben zur Höhe, das plötzlich aus ihm hervorbricht, läßt er auch die Demut hier zurück, die kann er in der neuen Stadt nicht brauchen.
Nach der Abreise seines Sohnes Thomas ging Albert gebückt, wie um Jahre gealtert, daher. Aber nicht lange, dann richtete sich sein Rücken wieder auf.
Berg des Lebens, Lied der Stufen, sagte er oft am Tage vor sich hin. Aber noch fand er die Kraft nicht zum Lied.