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Auch in dem rebenumgrünten Konvent zu Freiburg trat, wie sich bald zeigte, mit Albert ein unverhoffter Erneuerer ein.
Hier hatte sich, im Einklang mit der Landschaft ein bescheidenes, aber doch zu Behäbigkeit neigendes Wohlleben eingenistet, von den Mönchen selbst unbemerkt. Überrascht, aber verstehend trank Albert einen Becher Wein mittags und abends mit; die Erde hier spendete ja den Wein so reichlich wie das Quellwasser und der Orden erlaubte den mäßigen Weingenuß. Aber auch in allem, was zu tun war, sah er bald immer mehr ein behagliches Sichgehenlassen. Nichts war ja verderblicher für den Geist des Ordens, der auf Herbe und Strenge gegründet war.
Lesemeister Albert, noch jung im Amt und darum ungeduldig, wartete einige Zeit, dann griff er in die Gewöhnung ein. Er kam hinzu, als ein gesunder und starker Pater in ein Dorf gerufen und im Wagen abgeholt wurde. Albert hielt den Wagen an, der eben abrollen wollte und bat den Pater wieder auszusteigen. Komm in den Klosterhof zurück, Lieber, sagte er und bedeutete dem Lenker zu warten.
Im Klosterhof waren nach dem Mittagsmahl alle Insassen versammelt, die meisten im Ballspiel begriffen. Albert gab mit Ruf und erhobener Hand das Zeichen zum Einhalt. Seid nicht böse, sagte er, ich muß euch für einige Minuten stören! Einen der Novizen schickte er den Prior holen, der kam auch gleich heran, ohne Erwartung von Schlimmem, ein fülliger Mann mit überaus gütigem Gesicht.
Albert sagte: Mein Bruder Edward, meine Mitbrüder alle, ich muß euch um Gehör bitten. Ich sah eben – keine Untreue im Großen, aber doch eine Untreue gegen den Geist unseres Tuns. Ich habe in meinem Heimatkloster Köln gelernt und ihr werdet mit mir der Meinung sein, daß man eine Verirrung schon im Anfang ausrotten muß, daß man unduldsam sein muß auch gegen das Geringe, denn es wächst aus der gleichen Wurzel wie das Bedeutende und wird, läßt man es gewähren, schnell ebenso bedeutend. Ich darf so sprechen, denn ich habe eben einen steinigen wochenlangen Weg bergauf und -ab hinter mich gebracht, noch sind meine Füße wund. Seid nicht erschreckt über mich rauhen Gast, ihr werdet bald erkennen, daß ich euch kein Herr sein will, sondern ein Mitbruder. Ich sah einen von euch, wie er im Wagen zu einem Kranken fahren wollte. Das ist nur erlaubt in eiligen Fällen – war es ein solcher, mein Bruder?
Nein, sagte der Mönch, da ist ein Mann, der am Gewissen leidet und öfter meinen Zuspruch wünscht. Das Dorf liegt hoch, der Weg ist steil und braucht viel Zeit, darum schickt mir der Bauer einen Wagen.
Wir haben alle viel Zeit und wenn du unterwegs über manches nachdenkst, ist sie nie verloren. Geh vors Tor und heiße den Mann mit dem Wagen leer nach Hause fahren. Sage ihm, du kommst zu Fuß nach, kehre dann wieder hierher zurück. Der Mönch ging und kam wieder. Bruder Prior, sagte Albert, werden solche Fahrten auch von anderen gewohnheitsmäßig gemacht?
Du mußt bedenken, Bruder Albert, daß bei euch am untern Rhein das Land flach ist, unsere Stadt aber ist an ein hohes Gebirge gelehnt, auch ist es bei uns sehr heiß, das sind veränderte Umstände.
Deine Darlegung bedeutet offenbar ein Ja, ihr habt euch daran gewöhnt zu fahren, die Vorschrift des Ordens aber ist eindeutig. Diese prächtigen starken Männer, traust du ihnen wirklich so wenig zu? Sollten sie nicht froh sein im Wissen: mehr Mühe mehr Ehre? Und du mein junger Bruder sieh: Dieser gewissenskranke Mensch im Gebirge quält sich offenbar sehr, du magst es noch so gut meinen, dein Zuspruch nützt nichts, denn du hältst ja schon eine geringe Mühe von dir ab, wenn du wie zum Vergnügen hinter den Rossen sitzt und behaglich in den schönen Tag siehst.
Aber schlimmer: die Leute an der Straße haben deine Bequemlichkeit vor Augen, die Achtung vor dem Entsagungsmut unseres Ordens sinkt damit. Noch schlimmer: daß damit die Versuchung zum Wohlleben in deine eigene Seele eingezogen ist. Jedes Gespräch mit einem Kranken ist, wenn nicht ein Kampf, so doch ein Gewicht, das man sich aufladen muß, ohne Lohn, aus freudiger Freiwilligkeit heraus, Ja, wenn du dir den Weg so angenehm machst, wirst du dir die Heilung oder gar Rettung eines Verzagten nicht auch leicht machen?
Das sagt sich der, der dich holen läßt, heimlich auch. Dein Wort wird darum keine Kraft haben, so schädigst du den Orden wiederum. Du verleitest aber auch alle andern mehr und mehr dir nachzutun. Du siehst, das Geringe ist schon in seinem Anfang gar nicht gering, der Orden weiß warum er seine Vorschriften erläßt. Meine Mitbrüder, bleibt hart gegen euch auch in Dingen, die unbeträchtlich scheinen, sonst ertragt ihr bald auch die großen Entbehrungen, die von euch gefordert werden, nicht mehr. Nun sagt mir, ob ich recht habe?
Die jungen Mönche senkten die Köpfe, beschämt und trotzig zugleich, ein innerer Kampf spielte sich auf ihren Gesichtern ab. Bis einer rief, immer mehr folgten seinem Beispiel, endlich stimmten alle ein: Ja, Bruder Lesemeister, du hast recht! Auch der Prior gab Albert die Hand zum Zeichen des Einverständnisses.
Was ist da für ein Mann zu uns gekommen? sagten sie nachher unter sich, jüngere und ältere. Das muß der sein, von dem im Orden manche Rede geht! Sie erkletterten von nun an den steilsten Weg zu Fuß, wurden stolzer auf sich und spürten bald die höhere Macht, die sie durch die Strenge gegen sich selbst auf die Menschen hatten.
Es dauerte nicht lange, da klärte sie ein Gast, der von außen kam, darüber auf, daß ihr Lesemeister der Dichter des Marienlobs sei, das in allen Klöstern von Hand zu Hand gereicht wurde und als eine begnadete Offenbarung galt, wie sie dem Orden lange nicht geschenkt worden. Auch in Klöstern fremder Orden begann das Buch sich zu verbreiten, dem Predigerorden zu Ehre.
Weil ihr Lesemeister selbst von seinem Buch nicht sprach, schwiegen auch die Mönche, sie lasen es mit neuen Augen und ließen sich von seinem Urheber jetzt umso williger führen, zumal sie auf den nun beginnenden gemeinsamen Wegen den Lehrer auch aus seinen Gesprächen tiefer begreifen lernten. Sie beugten sich bald völlig vor ihm, gewannen Opferwillen, als sie die Botschaft vom freudigen Gott vernahmen.
Doch wurden zwei von den achtundzwanzig nach einiger Zeit widerwillig, sie wollten das Große im Orden nicht im Kleinen sehen. Sie stiegen, wie sie und andere es oft bisher gemacht hatten, einmal wieder des Nachts über die Klostermauer.
Nach dem Mittagbrot kamen Bürger, die sich beklagten über zwei Novizen, die in einer Wirtschaft mit verrufenen Leuten sich betrunken und nachher durch Lärm auf den Straßen die Nachtruhe der Stadt gestört hatten.
Prior Edward ging bedrückt zu dem Lesemeister und übergab ihm als dem nun Maßgebenden die Angelegenheit. Albert, nach kurzem Nachdenken sagte: Rufe alle wieder zusammen, nenne ihnen das schwere Vergehen und laß mich dann weiterreden.
Edward stand im Hof neben Albert, die Gerufenen kamen herbei. Sie hörten ihn und schwiegen beklommen.
Albert sagte ruhig: Ich bitte die beiden Schuldigen vorzutreten, schon damit nicht Unschuldige in Verdacht kommen.
Einer der beiden folgte der Aufforderung.
Albert fragte: Schämt sich der zweite so sehr, daß er verborgen bleiben will? Er wartete eine Weile umsonst. Ich will also vorerst mit dir allein reden! Ich frage dich: willst du im Orden verbleiben oder nicht? Wenn nein, dann gehe straflos dahin, wo es dir besser gefällt, und wir sind froh, einen solchen Mitbruder zu verlieren. Willst du aber unter uns bleiben, so sage es.
Ja, sagte der Novize mit klarer Stimme und leise fügte er hinzu: Es war eine Unbesonnenheit aus Trotz gegen dich, Bruder Lesemeister. Aber in der Trunkenheit ging ich dann wohl weiter als ich weiß.
Der zweite Durchgänger trat neben den ersten: Alles was mein Bruder sagt, gilt auch für mich. Ich war der Anstifter, wenn ich schwieg, so war es auch Trotz, nicht Furcht.
Euer Bekenntnis macht einiges gut, bleibt in Zukunft ebenso trotzig gegen die Versuchung, sagte Albert. Doch nun könnt ihr nicht ohne Buße bleiben, ihr habt dem Orden keine Ehre gebracht, aber auch eurer selbst wegen, um euch zu stärken, da ihr euch als schwach erwiesen habt. Nennt das Maß eurer Strafe selbst.
Der erste der beiden sagte zögernd: Gib uns auf, jeden zweiten Tag zu fasten, einen Monat lang.
Gut, sagte der Prior und ging ins Haus, ohne sich von Albert zu verabschieden.
Am Abend saß Albert in seiner Zelle und schrieb, Edward besuchte ihn: Ich möchte dir mitteilen, Bruder Lesemeister, daß ich dieselbe Zeitdauer mit den beiden Novizen fasten werde, um auch meine Strafe zu haben.
Albert sah ihn an. Und ich, sagte er, werde eine Woche die gleiche Buße auf mich nehmen, und also dreimal meinem geliebten Haferbrei morgens, mittags und abends entsagen. Denn aus Trotz gegen mich gingen die beiden ja über die Mauer, also habe auch ich Schuld. Aber, Bruder Prior, denke auch daran, daß nach der menschlichen Natur von Zeit zu Zeit solche Überschreitungen unausbleiblich sind, sie haben sogar das Nützliche, daß durch sie eine Reinigung und Festigung geschieht.
Da begriff Edward den Meister und sagte: Nun erkenne ich dich, nun habe ich wirklich von dir gelernt.
In der nächsten Woche war Beat, der jüngere der beiden Novizen, wieder entflohen mit seinen wenigen Sachen, also will er wohl für immer fortbleiben.
Der Prior kam aufs neue zu Albert, schmerzlich erschüttert: Auf mich fällt die Schuld, du wirst mir den Vorwurf allzu lang geübter Nachsicht nicht erlassen.
Beat floh wieder aus Trotz, also keinem unedlen Grunde, gerade aus solchen kann etwas Tüchtiges werden! Gib acht, er wird zurückkommen, sagte Albert mit Bestimmtheit. Dieses zweite Vergehen ist nicht so schlimm wie das erste, der Geist der dir Unterstellten ist dennoch der rechte.
Wirklich klopfte nach einigen Tagen Beat wieder an die Tür Alberts, der Prior trat mit ihm ein: Aus Trotz gegen dich, Bruder Lesemeister, ging ich fort und wollte auch nicht wiederkommen, heut drängte es mich doch zurück.
Deine Strafe wird diesmal schwer sein, und nicht du, sondern ich werde sie bestimmen, sagte der Prior.
Beat senkte den Kopf.
Erfülle mir einen Wunsch, Bruder Prior, sagte Albert, gib ihm eine Strafe, die leicht aussieht, aber die schwerste von allen ist: strafe ihn gar nicht.
Der Prior war überrascht, dachte nach, zögerte, begriff endlich und sagte: Ich erkenne dich immer mehr. Wie du es wünschst, so sei es.
Niemand im Kloster liebte seit diesem Tag den Lesemeister mehr als dieser junge Bruder.
In kurzer Zeit waren alle Novizen und allmählich auch die Patres, sogar die älteren, auf den gemeinsamen Wegen durchs gesegnete Land ebenso leidenschaftlich Lernende geworden wie die Mönche in Hildesheim. Ja, in der südlich milderen Luft waren sie lenksamer, es gab zumal nach jener Flucht der beiden weniger Trotz als im Norden, sodaß Albert sogar sich Mühe gab, in einigen, die sich im Kampfgespräch zu nachgiebig erwiesen, Trotz hervorzurufen.
Häufiger auch als in Hildesheim sangen sie hier draußen gemeinsam. Es lag an der Üppigkeit des Pflanzenwuchses, an dem heiteren Höhenzug der Berge, an dem dichten Gesang der Vögel, an der Helle des Himmels, an den weltoffenen Gesichtern der Landleute, daß sich die Seele hier in Liedern auftun mußte. Die Menschen auf den Feldern hielten in ihrer Arbeit ein, wenn der zweistimmige fromme oder auch fröhliche Gesang zu ihnen schallte.
Längst hatten einige ihm eingestanden, daß sie wußten, wer der Dichter des Frauenlobs war, das sich in mehreren Zellen befand und das manche, auch ehe der Lesemeister angekommen war, täglich bei sich trugen, wie Mönche in allen Klöstern.
Nun las ihnen Albert, und das war der willkommenste Unterricht, aus seinem neuen Buch von der Natur des Guten vor. Dabei saß er am liebsten mitten zwischen allen in Rebengärten, hoch über dem Tal, in einiger Ferne ahnte man den hier noch jungen Rhein. Es war Albert nicht genug mit Anerkennung, obwohl sie aus aufrichtigem Herzen kam, sondern er verlangte nach Widerspruch: Gebt mir Gelegenheit, reizt die Kraft in mir, daß ich meine Arbeit noch verbessere, sagte er, arbeitet alle mit.
Nun kam es zu freimütigen Erörterungen, einige hatten von Albert gelernt und machten es ihm, halb Ernst, halb Scherz, nicht immer leicht ihren Einwänden standzuhalten. Seine Genugtuung war groß.
Abends fertigten einige besonders Begabte Abschriften für ihn an, freuten sich der Änderungen und Zusätze, mit denen er nach den Wortkämpfen seine Arbeit versehen hatte. Nach langen Monaten des Fleißes übergaben sie ihm die bemalten Zeugnisse ihrer Mühe. Glücklich schenkte er ein Buch dem Kloster, eins nahm er an sich und trug es immer mit, legte es abends auf den Schemel neben sein Lager, eins schickte er nach Hildesheim, die andern nach Köln, seinen Namen vermochte er nicht mehr zu verbergen, man erkannte sein Wesen aus jedem Wort.
Er war nicht einfach ein gesteigerter Mensch, sondern ein ganz neuer, in den die Gnade kenntlich eingezogen war. In jeder Bewegung, ja in der bloßen Haltung, mochte er stehen oder sitzen, war das ein besonderer Mann geworden, der sich von allen andern abhob. Er selber spürte diese Begnadung, anfangs erstaunt, dann beglückt, endlich in hinnehmender Demut. Aber gerade die Demut steigerte die Sichtbarkeit der Begnadung bis zu einer Helligkeit, einer Ausstrahlung um ihn herum, die von Menschen, die auch begnadet waren, mit irgend einem unbekannten Sinn wahrgenommen wurde.
Oft ging er an den Abenden, wie es Hochmeister Jordan mit ihm in Padua getan, mit einem der Schüler allein durchs Feld; so öffnete er eines jeden Seele. Jedem riet er, ihn nicht in seiner Redeweise nachzuahmen, zeigte vielmehr jedem die eigene Kraft. Sie hingen ihm an in einer Dankbarkeit, die so groß war, daß sie nicht zu Wort werden konnte.
An einem Abend, als sie alle zusammen saßen, neben einer Quelle, die leise aus dem Berghang rann, erzählte er von der, die zuerst an seinem Werk auf den Waldwegen mitgearbeitet hatte: die Himmelsmutter auf der Eselin mit ihrem Knaben. Er könnte, hätte er die Begabung, sie hinmalen auf Pergament, so wie er sie gesehen, auch hatte er die Hufe des Tieres an den Steinen klingen hören.
Alle saßen schweigend, vom Geheimnis angerührt. Sie sahen in die sinkende Sonne, wird nicht Maria im glühenden Glanz der Wolken sich ihnen zeigen?
Alberts Sorge war, dem Prior nichts an Geltung zu nehmen. Dieser war trotz der Fülle des Leibes ein Mann, der gern über alten Büchern hingebeugt saß, ja sie waren ihm unmerklich lebendiger geworden als die jungen Menschen um ihn. Albert erklärte ihnen den Wert, den auch ein Mann solcher Art für den Orden hatte.
Edward selbst setzte sich eines Abends zu Albert hin, der auf einer Bank im Klostergarten dem Ballspiel aller zusah: Ich möchte dir einmal danken, Bruder Albert.
Wie ich dir.
Nein, nicht so, mir hast du nichts zu danken. Du bist der Herr hier geworden und läßt es mich nicht fühlen.
Du läßt mich im Seelengarten deiner Brüder Gärtner sein, eine Weile, ich lerne viel hier.
Du wandelst sie alle.
Ich werde selbst dabei gewandelt.
Du hast den Garten hier und da dürr gefunden, nun steht er überall in Zier, mir selber ist das Herz darüber voll Freude. Gott hat dich nach Freiburg geschickt.
Das tat nur ein Mensch, du weißt, wer das Amt hat und anordnet.
Und doch ist es Gott, der anordnet – muß ich das dir sagen? Bruder Albert, ich habe Furcht vor meinem Amt hier und denke in Sorge an den Tag, an dem du Abschied nimmst. Sage in Köln die Wahrheit und daß man mir ein Amt gegeben hat, das mir nicht gebührt. Du siehst, ich bin ein Büchernarr.
Wenn ich dir den Garten gerichtet habe, so hast du es nun leichter.
Schwerer! Die jungen Brüder werden dir nachtrauern, ich kann dich nicht ersetzen. Auch wächst das Unkraut in den Seelen nach, ich bin zu schwach, es überall auszuroden.
So solltest du nicht von dir sprechen, traue dir mehr zu, ringe um dein Amt.
Ich werde selbst nach Köln schreiben: sie sollen dich hier lassen und mir ein Amt an der Bücherei geben.
In Köln hat man dich lange ausgebildet und geprüft, nicht unüberlegt bist du als Prior hierher geschickt. Du liebst die Bücher und vergißt manchmal deine Schüler darüber. Ich habe sie nicht in einem solchen Zustand gefunden, daß ich dich ernsthaft zu tadeln weiß. Es ist doch natürlich, daß ich, der ich neu herkam, sie in manchem fördern konnte. Ringe, mein Bruder, fordere soviel von dir, wie du von ihnen fordern mußt.
Dennoch bin ich verzagt. Sie werden, wenn du fort bist, vergleichen und das Gefühl nicht hinzureichen wird mich schwer bedrücken.
Albert wurde unwillig. Klage nicht, ehe du nicht das äußerste versucht hast! Lassen die dir Anvertrauten nach meinem Fortgang nach, sei doppelt wach.
Allen hilfst du, nur ich gehe ungetröstet von dir.
Ich habe kein Mitleid mit dir, ich habe auch keins mit mir. Bruder Edward, aus Gehorsam bin ich von Köln fortgegangen, von solchen, die mir vertraut waren, von der größeren Welt dort – jeden Tag kamen Gäste aller Nationen, viele von großer Gelehrsamkeit. Wie lernte man dort von Menschen, die Vorbild waren! Vorbild, warum? Weil sie mit sich selbst gekämpft hatten, die Spuren sah man in den Furchen ihrer Gesichter. Kämpfe mit dir, wie ich mit mir tun muß. Harre aus, wie ich. Ich möchte an den Rhein zurück, ich war des Amtes in Hildesheim müde und mußte bleiben. Auch hier scheint mir meine Zeit erfüllt, ich warte jeden Tag auf den Brief, der mich zurückruft. Dennoch wie in Hildesheim tu ich meinen Dienst in Freude. Wenn du mir danken, willst, dann für das, was du in dieser Stunde von mir lernst.
Ich verdiene deinen Unmut, dennoch klage ich. Gerade an deinem Vorbild habe ich mein Ungenügen erkannt, mir nützt kein Kampf mehr. Es muß auch Erkenntnis und Bescheidung geben, Bruder Albert.
Ja, aber es ist für dich zu früh dazu. Ehe du nicht im Staube liegst, darfst du nicht klagen wie du klagst, ein breitkräftiger Mann wie du, der doch nicht nur an Büchern, sondern auch am Wein Trost findet.
Aber werde ich nicht Schaden anrichten an jungen Seelen, wenn ich zu spät mein Ungeschick erkenne?
Jungen Seelen ist nicht so bald geschadet von einem Manne wie du bist, rein, in allem ein Vorbild, nur nicht in der Wachsamkeit. Setz den Wachsamsten unter deinen Novizen ein, daß er für dich zusehe, wenn du über deinen Büchern sitzt, gib ihm einen zweiten als Beistand. Nicht heimlich, sondern gib ihnen offen vor allen dieses Amt.
Ich habe einem älteren Pater natürlich ein solches Amt gegeben.
Ja, aber nimm noch zwei junge hinzu, für andere Stunden, die jungen verstehen einander am besten. Gern, wenn für mich der Tag zu scheiden gekommen ist, werde ich dir raten, welche beiden du auswählst.
Mit diesen Worten endlich hast du mich gestärkt. Und ich weiß, ich darf wieder einmal kommen, wenn mir das Herz zu schwer wird.
Auch das überlege gut, tu immer selbst, was du tun kannst. Und du kannst viel, glaub mir, ich sage wahrhaft meine Meinung. Du bist mir ein Bruder lieb und wert geworden. Vielleicht wird es auch mich einmal mehr zu den Büchern als zu den Menschen ziehen. Dann muß auch ich einen Kampf durchmachen.
Ich fasse wunderbare Hoffnung! Mit diesen Worten, die er mehr zu sich selbst sagte, ging der Prior zu seinen Büchern zurück.
Am Himmel entzündeten sich zwischen düsteren Wolken die Sterne. Albert sah zu ihnen auf. Wann kommt der Brief, der mich an den Rhein zurückruft?
Das Weinlaub wurde rot, die Rebenstöcke kahl, die Nächte kalt, Schnee fiel, der Frühling wehte vom Süden durch die burgundische Pforte in den Schnee hinein, die Bergwiesen und die Auen im Talgrund bedeckten sich mit der bunten Freude der Blumen, die Sommersonne glühte, das Obst an den Bäumen reifte, die Trauben wurden in Holzbütten zur Stadt getragen, schon war wieder Frost da, der zweite Winter und immer noch wartete der Lesemeister im niederen, hellblau getünchten Predigerkloster auf den Ruf zur Rückkehr. Mehr als in Hildesheim konnte er zeigen, daß er den Kampf mit sich selbst nicht nur predigte, sondern auch in sich durchfocht: niemand merkte ihm die aufsteigende Ungeduld und Heftigkeit am Gesicht an.
Wieder einmal klopfte ein Bote mit Briefen am Tor an, unter anderen Briefen brachte er endlich den ersehnten. Der Lesemeister wurde von Freiburg abgerufen, Alberts Brust, trotz der Erfahrung von Hildesheim, hob sich schon zu einem Freudenschrei – aber er wurde nach dem Kloster in Regensburg geschickt.
Er stand im kahlen Garten, gerade ein wenig wärmte die Wintersonne in der Mittagsstunde. Er mußte den Kopf sinken lassen, wie die vom Frost getroffenen Blumen im Garten, so schwer schlug ihn der Schreck und eine große Traurigkeit folgte.
Der Prior sah ihn stehen, ahnte seinen Kummer und ging zu ihm hin.
Jetzt Bruder Edward, rief Albert in wirklichem Schmerz, geht es mir wie dir, jetzt muß ich mich selbst trösten, wird aber bitterer Trost werden. Nach Regensburg! Gut bedacht vom Orden, eine neue Stadt, neue Landschaft, neue Gesichter! Welch ein Vorzug, dahin geschickt zu werden, wo Stockung ist, frischen Geist hinbringen, den Puls des Ordens kräftig halten bis in die fernsten Glieder! So wenige Jahre beim Orden und so auserwählt! Wer wäre denn auch mehr geübt als ich, dasselbe wie in Hildesheim und hier immer wieder zu sagen? Wenn nur die andern wachsen, ich brauche kein Wachstum mehr!
Der Prior, verwirrt durch die Bitterkeit der Worte, legte ihm beruhigend eine Hand auf den erhobenen Arm.
Ja, Bruder Edward, jetzt wäre das einfachste, in dieser Nacht mit dem wenigen Meinen über die Mauer steigen und den Orden Orden sein lassen! In Wahrheit, dazu habe ich Lust, gib auf mich acht.
Der Prior drückte den Arm Alberts sanft nieder und streichelte ihn.
Ja, Bruder Edward, was war denn das bisher? Ein Spiel. Jetzt erst beginnt der Kampf des Lesemeisters Albert mit sich selbst, jetzt erst lernst du – zweifelhaft nur, ob du ein Vorbild erhältst. Du bist doch immerhin nach Freiburg entsandt, nahe der großen Straße und dem Strom, brauchst dich nur auf ein Schiff zu setzen und schwimmst nach Köln. Regensburg! Viel weiter ab war nicht möglich. Wer kommt dorthin? Niemand. Welche großen Gäste, von denen auch ich lernen kann? Nicht einer. Es ist Verbannung. Was aber habe ich getan, wo habe ich versagt, daß ich so gestraft werde? Vier Jahre fern vom großen Herzen des Ordens, in Mühe und Geduld – das ist mein Vergehen.
Bruder Albert, denk an deine eigenen Worte: Kämpfe mit dir selbst, sagte der Prior leise.
Albert schwieg, lange, die Stirn tief gesenkt, die Hände zu Fäusten geballt, die Brust keuchte. Ja, du hast, recht, so will ich tun, und du sieh dem Schauspiel zu, es wird unterhaltsam, denn der Lesemeister hier weiß noch nicht, ob er siegt. Was du nicht weißt, ist: er hat eine verfluchte Ungeduld in sich, er hat eine versäumte Lebenshälfte nachzuholen. Das hält er für seine Pflicht vor Gott, der ihm nicht vierzig Jahre geschenkt hat, sie zu verschwenden. Und ein brennender Ehrgeiz ist in diesem Mönch, dem es nicht genug ist, daß er es in einem Jahr vom Novizen zum Lesemeister gebracht hat. Er denkt an das Wort des Hochmeisters Jordan: Ich habe wichtiges mit dir vor. Und nun Regensburg! Gewiß, eine schöne Stadt, eine Stadt voll Ruhms, aber so weit vom Rhein! Ach, Hochmeister Jordan macht gern einen Scherz und niemand macht seinen Weg schneller als Gottvater zuläßt. Vergißt dieser Lesemeister, daß er Gehorsam gelobt hat? Will er ein Weiser sein, so packt er morgen seine kleine Habe, zieht die Wanderschuhe an, die er doch so liebt, nimmt den Stab – und fröhlich fort! Gottvater führt ihn genau dahin, wo er ihn haben will und wo es für ihn gut ist. Ist der Lesemeister aber ein Narr, so schimpft er über Gottvater. Was wird ihm Gottvater sagen? Ich schicke dich in die schöne Stadt Regensburg, damit du am Kostbarsten, was es gibt, an Menschen lernst. Gefällt es dir nicht, ich habe auch winzige Konvente im kahlen Gebirg, am einsamen Meer, oder auch außer deutschen Landes in der Sandwüste Afrikas – such dir aus. Ach Gottvater, wird der Lesemeister sagen, laß mich wenigstens erst nach Köln schreiben, laß mich meine Bedenken darlegen, laß mich um Erwägung bitten. Ist erwogen! ruft Gottvater und antwortet nicht mehr.
Albert ging schnell ins Haus, zerknitterte im Zorn den Brief, der Prior sah ihm bestürzt nach.
In der Nacht lag Albert ohne Schlaf, seine Brust atmete in unregelmäßigen Stößen. Was alles tobte in ihr wie in einem kochenden Kessel: Unwille, Empörung, Zorn, Trotz, ja leidenschaftliche Lust, ungehorsam zu sein.
Hei, das ist eine Nacht, wie sie sein soll für einen, der stets Kampf fordert gegen sich selbst. Jetzt macht er ihn einmal durch im gehörigen Maße, den Kampf gegen ein aufrührerisches Herz. Nur wenn du dieses Herz zwingst, wenn es dir gelingt dich zu bescheiden und froh dabei zu bleiben: dann bist du wert, Bruder Albert zu sein. Ist das nicht der höchste Rang: einfach Bruder Albert, den es auch nur einmal gibt? Jener höchste Rang, den jeder Bruder im Orden besitzt: ganz er selbst zu sein, seinen Wert ganz in sich selbst zu haben? Was alles an Kämpfen mußt du noch durchmachen, bis du diese Höhe erreichst: Bescheidung. Der geringste Bruder, der Gott und den Menschen dient, gilt nicht weniger als der höchste im Orden. Du weißt das, Albert und glaubst auch so und hast oft so zu einem Mitbruder gesprochen, der unzufrieden und empörerisch war wie du jetzt. Nun mühe dich, dein Wort und deinen Glauben wahr zu machen. Wandern im Staub, das ist nicht viel. Erkenntnis und Demut, damit fängt deine Mühe an. Sei gewiß, daß so wie du hier Prior, Patres, Novizen und Laienbrüder prüfst, du selbst unablässig geprüft wirst.
Ja, du sagst es mit Recht, es ist wahr: du bist begnadet, mit besonderer Kraft der Seele, dein Verlangen, besonders zu lernen, besonders zu wirken, nicht durch Rang, dazu bist du zu vernünftig und zu ehrlich, nein, durch dein Wort: es ist natürlich und der Orden erkennt das an, begrüßt es überaus, mit Dank an Gott nimmt er solche begnadete Menschen unter sich auf, willens, sie zu pflegen und zu hüten als einen köstlichen Schatz. Aber daß du nach Regensburg mußt: kommt diese Anordnung denn nicht gerade aus dieser Pflege, aus dieser Hut? Sicher ist es so, wie könnte es anders sein? Begreifst du mit Einsicht Begnadeter das nicht? Halte aus, nimm dein Kreuz auf dich, opfere diese Jahre, es ist zu deinem Heil!
Kämpfe Albert! Schlage dein Herz mit Fäusten, bis es Frieden gibt. Atme auf deinem Bett ruhig, tief und so leise, daß du selbst deinen Atem nicht mehr hörst. Wie? Stöhnst du noch? Ja, es geht nicht so schnell, schwer ist der Kampf gegen ein Herz. Wirf dich von einer Seite auf die andere, die Nacht ist lang. Wenn du am Morgen gesiegt hast, ist es früh genug.
Ja, wirf die Fäuste zum Himmel, drohe – Gott erschrickt nicht. Auch Gott hat ein Auge auf dir und prüft dich, so lang du lebst auf dieser Erde.
Wisch dir den Schweiß von der Stirn, auch das Haar ist naß, als hättest du gebadet. Ja, schwitze aus, treibe hinaus deinen Unmut – verzeihlich ist deine Sorge, auch deine zweite Lebenshälfte zu vertun auf einem Umweg, aber wie oft ist ein Umweg der kürzeste der Wege?
Auf gerader Straße ermüdet der Wanderer am ehesten, denn seine Kraft wird nicht geübt. Bruder Albert, Lesemeister – glaubst du, daß ein Lehrer allem Kampf entflohen ist, den er die andern lehren soll? Lehrer bleibt Schüler, du wirst deinen Schülern in Regensburg von deinem Kampf erzählen können, stolz, ein Mensch mit gesteigerter Erfahrung.
Ja, steh auf, geh aus dem Bett, groß ist der Durst, Kampf macht heiß. Hol dir einen Krug Wasser aus dem Brunnen in der Küche, klinke leise die Tür auf, ja, kalt ist der Steinboden, lustig das laute Atmen, Seufzen, Schnarchen der Mitbrüder hinter den Türen, unheimlich dennoch ist der lange Flur wie ein schlafendes Untier, dunkel ist die Küche, ja, taste mit den vorgestreckten Händen, fülle den Krug, setz ihn an den Mund, trink, trink, o, das tut wohl.
Als die frühe Dämmerung durchs Fenster sah und Albert aufwachte, lag der Sieg hinter ihm. Ohne jeden Kummer sah er nach dem Himmel, nicht nach Gott, nur nach dem Wetter.
Er spürte bevorstehenden Schneefall, eilte sich mit dem Ankleiden, seine Schultertasche war bald gepackt. Mit Wanderschuhen, breitem Hut und Stab ausgerüstet, klopfte er an des Priors Tür, trat zu dem Aufwachenden ein, um Abschied zu nehmen.
Du hast gesiegt über dich, Bruder Albertus?
Ich bin auf dem Weg nach Regensburg, sogar Wanderfreude ist in mir.
Es sieht nach Schnee aus, ich möchte rechtzeitig durchs Gebirge, nachher ist es wohl lange Wochen unwegsam.
Ich gebe dir zwei Novizen mit.
Dank wie für alles, was du Gutes an mir getan hast, aber es sind viele Kranke in der Stadt, sie haben eure Hilfe nötiger.
Der Prior sandte einen Boten, allen die Abreise des Lesemeisters zu künden. Bald waren alle im Hof versammelt, frierend und besorgt nach Schnee aussehend.
Albert kam und umarmte jeden. Bei den beiden letzten sagte er: Du denkst wohl an unser Gespräch vor langer Zeit, Bruder Prior. Diese beiden sind es! Die Erwählten waren die einst über die Mauer Entwichenen.
Ich denke daran, Dank hierfür und für alles Gute, das du an uns mehr tatest als wir an dir.
Der junge Beat trat vor: Darf ich bis übers Gebirge mit dem Lesemeister gehen? Es kommt Schnee.
Der Lesemeister will allein gehen, sagte der Prior.
Albert gab Beat noch einmal die Hand. Dank für Bereitschaft! Das ist so gut wie Tat!
Er ging gleich hinter dem Kloster wieder zwischen den Rebstöcken bergan. Als die Zurückbleibenden stürmend das Dach des Klosters erreicht hatten, von wo sie ihm den Abschied zuwinken wollten, war er schon hinter einer Wegbiegung verschwunden.
Leer und still blieb das Haus, als wäre die ganze Schar seiner Insassen mit davon.