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Winter im Norden

Sie wanderten die Ostsee entlang, die nicht Flut und Ebbe hatte, aber durch Wald- und Felsküste in immer wechselnder Gestalt lockte, bis in die baltischen Länder. In einem Konvent trafen sie einige junge Patres aus Köln, sie waren von Albert selbst erzogen, edle Jünglinge von einem edlen Meister. Sie waren hart und gütig zugleich, hatten von Haus ihre innere Glut mitgebracht und ihr Lehrer hatte lebendiges Feuer daraus gemacht, nichts an ihnen war in den Jahren der Trennung lau geworden.

Wenn auch nicht mein Blut, so doch meine Söhne, die das beste von mir weitergeben, dachte Albertus. Diese rheinischen Männer hatten aus sich selbst den viel zahlreicheren Novizen Aufbau und Ordnung gegeben, Albert hatte nicht viel mehr zu tun, als einfach da zu sein und, während er die ermüdeten Füße ausruhte, das Haus mit seiner Strahlung zu erfüllen. Die Brandung der Zeit prallte am Geist dieses Klosters ab.

Unversehens gerieten die beiden Wanderer in den Winter, einen ungleich rauheren, als sie vom Rhein her gewohnt waren. Die Wege verloren sich im Schnee, die Luft war ein zweites Meer aus Nebel, selten machte ein Sonnentag es möglich, in die Weite zu sehen. Dennoch ging Kraft und selbst Schönheit von dieser Natur aus, aber sie blieb feindlich, trieb ins Haus zurück.

Albert und Ägid ließen sich im nördlichsten der Klöster Kutten aus warmer Wolle nähen, der tiefe Schnee und die scharfen Winde machten dennoch oft genug sogar nahe Wege und Kampfgespräche im Freien unmöglich, sie mußten für zwei, drei Monate rasten. Hätte ich meinen Aristoteles nur zur Hand, wie gut könnte ich hier weiter daran arbeiten, rief Albertus immer wieder.

Ägid holte endlich listig seinen Reisesack und griff zwei Bände aus der Tiefe herauf, die er treulich die ganze Zeit hindurch unter Brot und Obst getragen hatte.

Die Bände waren schwer wie Stücke Eisen. Der Meister wog sie in der Hand und sagte voll Rührung: Die werde ich am jüngsten Tag Gott zeigen und ihn um eine besondere Gnade für dich bitten. Denn nicht nur, daß du sie trugst bis hierher, du mußt sie auch die gleiche Zeitlänge wieder zurücktragen. Ich selbst kann dir nur mit Anstrengung und Einsamkeit lohnen.

Aber Ägid hatte mehr zu tun; er mußte schreiben, während sein Meister im Zimmer umherging und ihm Übersetzung und Kommentar in die Feder sprach. Denn der mehr als Sechzigjährige mußte wie nach einem inneren Gesetz die Füße in Bewegung halten, er hatte zwar geglaubt, nun, nachdem er das Meer gesehen, werde er Ruhe in sich haben, aber neue Ungeduld machte es ihm schwer, den Frühling abzuwarten.

Die Insassen des Klosters, in dem sie Rast hielten, übten eifrig Gesang und Musik. Albert konnte sich nicht satt hören; wieviel unbegreiflich Schönes gibt es schon auf dieser Welt, Musik – ist sie nicht eine Vorahnung des Jenseits? Wie sollte man sie sonst erklären, sie ist das einzige auf Erden, das keinen erkennbaren Zweck hat und ihr Gesetz in sich, wir können es ihr nicht auferlegen, wir können es nur aus ihr hervorsuchen.

Ja, sagte der Lehrmeister, den Abglanz seiner Kunst auf der Stirn und in den Augen, sie ist mehr als Nachahmung der Natur, trotz Aristoteles, sie ist ein Gleichnis in der Seele des Künstlers, wie Bonaventura sagt: Der Künstler bringt nach außen ein Werk hervor, das dem innern Vorbild nachzukommen sucht. Auch Thomas von Aquin nimmt eine Präexistenz des Kunstwerks im Künstler an.

Kommt bei der Musik, wie ihr sie so herrlich auf euren Instrumenten macht, nicht etwas hinzu? Es ist andere Musik als bisher, Musik im Geist der Gotik.

Ihr sprecht es aus, Meister Albert, es ist so.

Wie aber ist dieser neue Geist über das Gefühl hinaus in Worte zu fassen?

Es ist das gleiche wie in der Architektur: Bei den gotischen Domen ist der Stein zu Leben gebracht, es ist eine Vielfalt von Strebepfeilern geworden. In der Musik hat das alte gregorianische Gesetz der Einstimmigkeit ebenso neues Leben gewonnen, die Stimmen singen für sich von Überdrang fortgerissen und doch bleiben sie in einem himmlischen Ziel zusammen. Nichts ist ja ganz neu, alles Neue ist eine Wiederkehr des Alten, auf veränderter Stufe. Sagt doch schon Augustinus vor achthundert Jahren: Wer jubiliert, sagt keine Worte, sondern der Klang ist eine Freude ohne Worte.

Ich bin gekommen, euch zu unterrichten, aber ihr unterweist mich, sagte Albertus.

Wenn du zurückkommst an den Rhein, wirst du auch dort die erneute Musik durchgedrungen finden.

Spielt, spielt! rief Albert. Das ist sicher: Musik ist die freudenreichste Art, Gott zu dienen.

Vergiß deine Dichtkunst nicht und die Malerei, sagte der Pater bescheiden und gab das Zeichen zum Beginn des nächsten Stückes, zu dem die Noten schon ausgeteilt waren.

Alberts Arbeit hier galt nicht nur dem Aristoteles, sondern auch allem, was er in den durchwanderten weiten Gebieten an Natur gesehen hatte und jetzt noch hier sah. In geringer Entfernung vom Kloster konnte er einen Adlerhorst beobachten. Lange Stunden, einen Schafpelz dicht um sich, das gelbe Fell nach außen, Pelz auch um die Füße gewickelt, stand er regungslos und spähte hinter einem Baum hervor. Den Aufflug zur Jagd, die Kämpfe in der Luft mit andern großen Vögeln, die Heimkehr in den Horst, das Treiben darin schilderte er auf vielen Seiten seines Tierbuches.

Ägid staunte immer von neuem, was alles unterwegs sein Lehrer gesehen, durchdacht und im Gedächtnis bewahrt hatte wie Erlebnisse von gestern. Kaum konnte er mit der Feder den Worten folgen, die aus einem fromm verzückten, dennoch zur Nüchternheit gezwungenen Hirn kamen. Das ist kein Mensch wie wir andern, dachte der Schüler und wußte nicht, wie oft dieser Mann, während er selbst wandermüde mittags ein paar Stunden im Schatten eines Baumes verschlief, allein vom Wege ab tiefer in die Natur vordrang, um zu schauen und zu horchen, an wie vielen Sommermorgen er in frühester Dämmerung vom inneren Feuer getrieben, das Lager verließ, um wieder zu horchen und zu schauen. Mit allen Vogelstimmen wußte er zu locken, brach durch Dorn und Gebüsch, um auf einer Fährte zu bleiben. Und doch war bei ihm, was andern Anstrengung genug für einen Tag gewesen wäre, nur Erholung. Dabei verlor er nicht an Kraft des Wesens, sondern nahm zu, leiblich und seelisch, sodaß er in allen Klöstern, Kirchen, Spitälern unterwegs den Brüdern und Kranken von seiner Kraft abgeben konnte.

Manchmal in einer Freistunde las Ägid den Mitbrüdern, während sie auf niedern Schemeln um ihn saßen, das zuletzt Geschriebene vor, als winzige Teile der Naturgeschichte, die einmal alles, was auf der Erde, im Wasser, zwischen Erde und Himmel ist, in sich fassen soll, vom Grashalm und Insekt bis zu den Feuervulkanen und Sternen.

Hört mal zu und seht manches von heute ab mit andern Augen an:

»Die Ameisen fühlen Kälte, Regen und Sturmwinde, der Beweis dafür ist, daß sie vor dem Ausbruch solchen Wetters sich in ihren Nestern zusammenscharen. Wenn man ihre Nester öffnet, so ergreifen sie ihre weiten, länglichen Eier und tragen sie fort. Alle Ameisen sind gleichmäßig an der Arbeit, sie scheinen keinen König zu haben, so ist ihr Staat nicht wie bei den Bienen, alle wohnen sie aus Liebe zur Tugend und wegen des Guten zusammen.«

Am anderen Tage erzählte Ägid von dem vielen, was, der Meister selbst niedergeschrieben hatte und was zu Hause wohlgeordnet lag.

Die verschiedensten und merkwürdigsten Dinge, an die zum Teil noch kein Mensch gedacht hat, werdet ihr lesen, wenn das einmal alles in Abschriften in die Welt hinausgeht. Mir hat der Meister erlaubt, hinein zu sehen, so oft ich will; darum darf ich wohl auch davon erzählen, ich bin der einzige, der es kann. Da gibt es Untersuchungen über den Gehörsinn der Fische und Maulwürfe, über den Geruchsinn der Fische, über die Kampfart der Wildeber, den elektrischen Schlag der Zitterrochen, die zehn Arten der Edelfalken, von denen bisher nur acht bekannt waren, über die Verspinnung der Seidenraupen, über unzählige Heilkräuter, den besten Boden für die Weinrebe, den Einfluß der Ortslage auf das Klima, über Gestalt und zukünftige Entwicklung der Erde, über die Analyse von Metallen, Echtheit oder Unechtheit von alchemistischem Gold, über den Lauf und das Gesetz der Gestirne.

Die Mönche auf ihren Schemeln hörten verwundert zu.

Die Wurzel seines gesamten naturwissenschaftlichen Werkes aber, sagte Ägid, ist der Satz: Die Naturwissenschaft hat nicht zum Ziel, das Tatsächliche zu berichten und einfach hinzunehmen, sondern vielmehr die Ursachen im Naturgeschehen zu ergründen.

Mehrere Menschen sind in unserem Bruder Albertus vereint! Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, schloß Ägid. Und leise fügte er hinzu: Eines kann ich euch nicht schildern: die Ehrfurcht, die Albertus vor dem Kleinsten ebenso wie vor dem Größten in der Natur hat, und das ist das Schönste an ihm. Er weiß garnicht, wie ich ihn in solchen stummen Augenblicken liebe.

Der Schnee schmolz, die Bäche schwollen an, die Wiesen lagen überschwemmt wie Seen.

Es mußte Albertus sein, gerade aus solcher Ungeberdigkeit der Natur neu erwachte Lebensbegier zu ziehen. Wir gehen nach Süden, dem Frühling in die Arme, rief er und war nicht länger zu halten. Alle Warnung war umsonst, Furcht vor wassergetränkten Schuhen und vor Husten in der gesunden Brust kannte er nicht. Ägid hätte lieber das Ablaufen der Wasser abgewartet, aber willig und fröhlich machte er sich doch mit auf den Weg.

Sie durchwanderten das Land, wo durch die Not der Zeit alle Leute Grübler geworden waren und den Mönchen mehr mit Fragen über das Geheimnis der Welt als mit irdischen Klagen kamen.

Der Himmel wurde mit jedem Tag blauer, die Sonne goldener.


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