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In einem Konvent, nahe dem Meer, einzeln zwischen kleinen Städten, hatte Albert länger zu tun als er gedacht.
Den jungen Mönchen hier, die meisten von reckenhafter Gestalt, mit blondem Flaum ums Kinn und blauen Jesusaugen, kamen in dem fetten Marschland die Almosen allzu reichlich ein, dabei führten sie über ihren Büchern ein allzu seßhaftes Leben und waren recht beleibt geworden. Obwohl meist Fischersöhne, scheuten sie nun Regen und Wind und da es von beidem hier viel gab, kamen sie nicht oft aus dem Haus. Ihr Prior war ihnen in all dem gleich, sie waren sich ihrer Lässigkeit gar nicht bewußt, machten auch einiges gut durch den Fleiß, mit dem sie besonders kunstfertige Abschriften herstellten.
Albert wollte daran verzagen, diese bärenhaften Kerle in irgend etwas zu ändern, aber sieh an: sie waren äußerst gutmütig und lenkbar. In einem verwunderten Ernst hörten sie ihres Ordensmeisters erste Mahnung an, eigentlich hatten sie einen besseren Dank erwartet, denn sie hatten ihm zum Empfang eine Pergamentschrift seines Marienlobs überreicht, mit kunstvollen Initialen und zärtlich ausgemalten Bildern, in gemeinsamer Arbeit entstanden.
Albert merkte, daß er hier nicht lange mit Worten angehen durfte, die ihnen wie aus einem fremden Land klangen. Er nahm sie lieber gleich mit unter den freien Himmel. Schweigsam und schnell schleppte er sie Tag für Tag bei jedem Wetter durch das Land, lustig drehten sich die farbigen Windmühlen, und lustig war es zu sehen, wie sich Patres und Novizen mit beiden Händen die hohen Mützen auf dem ungeschorenen Haar hielten.
Albert ließ sie ihre Lebensschicksale erzählen, bis sie kurz von Atem wurden, unheimlich wurde ihnen dieser Lehrmeister, der selber stumm sie so durchs Land jagte mitsamt ihrem Prior. Nun ließ er sie sogar noch während des Gehens singen, Vagantenlieder, sein Begleiter Ägid sang sie ihnen vor. Müller, Landleute, Hirten, selbst die Pferde und Kühe auf der Weide schauten verwunderter noch als andernorts herüber.
Dieser leichte Frohsinn lag nicht in der nordischen Brüder Natur. Erst als sie alle mitsammen an einem Bachufer saßen und um ein frommes Lied gebeten wurden, ließen sie ihre Stimmen frei in das Windgebraus klingen und sangen mehrstimmig, so abgetönt und schwellend, daß Albert sie von dieser Stunde an lieb gewann.
Hier hörte er den gotisch neuen Zusammenklang verschieden geführter Stimmen vollkommener als je irgendwo vorher.
Dennoch, hungrig nach Hause gelangt, fanden sie den Tisch dürftiger bestellt als sonst. Dabei setzte der Meister ihnen nun während der Wanderungen unversehens mit Fragen zu, die sie zu Gegenfragen und immer schärferer Gedankenarbeit zwangen, bald schmolz ihnen das Fett von Leib und Seele. Da erkannten sie die List und bestürmten, von einem neuen Leben erfaßt, den Meister selbst mit ehrlichen Zweifeln und listigen Einfällen, daß auch ihm, unter bewölktem Himmel sogar, der Schweiß von der Stirn rann.
Bei den Predigten sahen sie immer tiefer in das Gemüt dieses Mannes. Wie sie in den Knabenjahren mit ihren Vätern im Boot oft in das erregte Meer gerissen wurden, so packte sie jetzt die Gewalt der Menschenworte. So eng war ihr Leben gewesen? Wie weit konnte es werden? Schön war die Erde mit all ihrer Härte, sie waren vor anderen Menschen berufen, Gott zu helfen bei der Gestaltung seines Werkes, das nicht vollendet, sondern erst im Beginn war. Einer von ihnen mußte laut aufschluchzen, ergriffen von dieser Erkenntnis, und barg sein Gesicht in die Kutte.
Alle wollten sie hinaus aus dieser Stille hier, in eine große Stadt, allzu geruhsam dünkte sie jetzt ihr bisheriges Leben, wie werden sie es ändern, nicht aus Gehorsam, sondern aus eigenem Aufbegehr.
Albert freute sich seines Erfolges, aber er wußte, daß Herzen leicht wieder einschlafen, wenn der Anruf nicht unablässig anbrandet. Deshalb nahm er den Prior und zwei der jungen Patres noch in besondere Schulung, machte sie hart, eifrig, vertraute ihnen endlich die Schar der übrigen an.
Wenige Tage vor seiner Abreise sagte der Prior: Meister Albertus, wir wollen heute einen Weg gehen, den du noch nicht gegangen bist. Ich will dir ein großes hölzernes Bildnis zeigen, ein Bruder, nicht unseres Ordens, kam einmal, blieb einige Wochen, schlug und schnitt es aus einem Lindenstück. Es steht mitten im Gras, an einem Kreuzweg, wir dachten und sagten, es würde dort nicht lange den Stürmen standhalten, die vom Meer kommen, denn es steht frei, nur Gras und Himmel umher. Aber der Mann wollte es gerade an dieser Stelle haben, er hatte sie sich ausgesucht und mit unserer Hilfe hat er es so befestigt, daß es verwurzelt steht wie ein Baum, kein Sturm hat es noch gefällt, kein Blitz gesprengt. Wenige Leute kommen da vorbei, doch ließ der Mann sich nichts drein reden, tat auch sonst alles wie er wollte, ohne zu reden oder zu streiten, er hörte gar nicht, was wir ihm sagten. So ist eine Figur entstanden, die nicht jedem gefällt. Ich bin neugierig, deine Meinung zu erfahren. Wir hatten mal einen Gast, der schätzte sie als hohes Kunstwerk ein und drängte, daß wir es an einen belebteren Ort versetzen sollten, aber ich ehre den Willen dessen, der es an seinen Ort gestellt hat. Vielleicht aber haben es die Stürme inzwischen umgeworfen.
Sie gingen alle zusammen aus dem Haus, weit, die letzten Strohdächer der Bauern, die letzten Bäume und Büsche blieben hinter ihnen, es war nur noch Gras und Himmel um sie, das Gras war stechend, der Boden ein früheres Moor, die Luft voll Salzgeruch. Doch standen bescheidene Blumen genug da und der Himmel war besät mit kleinen weißen Wolken, so war der Tag doch bunt und freudig.
Warum denn dieser Weg? fragte Albert, hier scheint es in der fernsten Ferne kein Haus mehr zu geben.
Und doch sind da noch einige, allein mit Erde und Gewölk, antwortete der Prior.
Die Mönche sangen ihre frommen Chöre – war es Einbildung, daß die Bienen lauter summten, Schmetterlinge herbeiflogen, Vögel sich erhoben und in den Gesang einstimmten, wo es vorher lautlos war?
Von fern zeigte sich, daß das Kreuz noch stand, es erschien in der leeren Ebene überaus groß. Als sie davorstanden: war es wahrlich keins der üblichen, nicht ein bärtiger nackter Mann, der nach seinem Tod mit fast anmutigem Gesicht an seinem Marterholz hing, sondern ein rauhes Gebilde, wild aus dem Holz gehauen, auch nicht bemalt, dadurch blieb es halb der Natur angehörig.
Auch hatte der menschgewordene Gott am Kreuz noch nicht ausgelitten, er hielt den Mund geöffnet in Qual, die Brust war eingesogen unter einem Stöhnen, die Augen waren im Brechen, tief hing der Körper in der Nagelung herab. Nicht hoch war das Kreuz, die Füße berührten fast die Erde.
Kein Wort wurde zwischen den Mönchen gesprochen, so machtvoll war der Eindruck, daß jeder, und hatte er schon öfter vor dem Kreuz gestanden, den Trieb spürte, den Mann vom Holz zu lösen, ihn am Leben zu erhalten und bedrückt war, das nicht zu vermögen. –
Auch der Gedanke stellte sich bei allen gleichmäßig ein: was hat dieser Jesus getan und was tust du, das diesem Opfer auch nur entfernt gleich käme? Er verlangt nicht den gleichen Tod von uns, im Gegenteil, er gibt uns durch seinen Tod das Leben – aber was müssen wir tun in diesem Leben, wirken, leisten, leiden, überwinden, um ein solches Opfer für uns nicht nutzlos zu machen?
Nicht damit, daß dieser Gott den ärgsten Menschentod starb, hingeschlachtet, sondern daß der Mund dessen, der verkündet hatte: Liebet eure Feinde! noch im letzten Stöhnen die Kraft fand zu sagen: Herr, vergib ihnen – damit hatte er das Wort ausgesprochen, das eine alte Welt umstürzte und eine neue heraufführte, so neu, daß sie heute nach zweitausend Jahren noch im Beginn ist.
Alle, die da standen, entblößten das Haupt, senkten die Stirn, auch jetzt sprach niemand, nicht der Prior, nicht Albertus. Menschliches Wort war zu gering vor dieser Gestalt, in dieser Erdenweite, darum hatte der Unbekannte das Kreuz hier aufgestellt, fern von Baum und Strauch, weil dieser Tod einsam sein mußte, um seiner Größe willen: Hier stöhnte die Not der Zeit selber. Sogar die Bienen, Schmetterlinge, Vögel waren zurückgeblieben.
Die Mönche beteten stumm, daß die Not der Welt vergehe, dann ging der Prior mit behutsamem Schritt, Patres und Novizen folgten ihm, einer in zögerndem Abstand vom andern, der letzte hielt noch eine Weile bei Albert aus, bis auch er ihn allein ließ.
Darf Albert als einziger bleiben? Hat er das Recht, sich so zu überheben? Nein, vor dem Bildnis dieses Gottes, der Mensch wurde, sind wir alle gleich gering, alle gleich voll Schuld.
Würde dieser Jesus heute ans Kreuz geschlagen und wären wir selbst unter seinen Jüngern – würden wir nicht alle ihn verlassen wie jene damals?
Albert tat die welken Blumen beiseite, die wer weiß wer, Bauer, Bäuerin oder Kinder, das kleinste auf den Schultern des größten stehend, um das Haupt des Gekreuzigten geschlungen hatten: er pflückte Blumen und erneuerte das Zeichen der Liebe.
Bist du nicht zu groß für Schmuck?
Ach, dein Tod ist so schön wie dein Leben, blumengleich, du wandeltest sanft und leuchtend und sankst wie die Blumen in ihrer Pracht unter der Sichel. Der du von Gott kamst, wie haben deine Augen Schönheit der Erde getrunken, wie ist alles auf dieser Erde erhöht in Glanz durch dich, wie leer wäre unsere Erde ohne deine Gestalt, ohne das Wunder deines Lebens, ja, samt der Bitterkeit deines Todes! Nein, der Erhebung deines Todes! Denn du starbst für uns. Ich bin noch zu erdennah, täglich mit dir zu sprechen, doch ich darf bei der Mutter weilen, unter deren Händen du Kind warst.
Albertus kniete: Du willst, daß wir leben das Leben, das du uns gegeben hast, damit wir es hingeben Tag für Tag in deinem Geist der Liebe, des Opfers, des Seins, nicht für uns, für andere, für alle, die uns brauchen, sei es in der Fülle und dem Lärm, sei es in der Einsamkeit. Du bist nicht tot in diesem Holz. Das Wort: Liebet eure Feinde! tönt auch von deinem Bildnis aus wie das Wort: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Albert nahm Abschied vom Kloster, das Meer rief. Die früher doch etwas wohllebigen Schüler hatten den Lehrer liebgewonnen, eben weil er streng war – dennoch hatte er keine Strafe ausgesprochen.
Er fühlte sein Andenken in guter Hut. Der Prior, doch auch aus der mild unnachgiebigen Zucht des Ordens hervorgegangen, hatte zu seinem Anfang zurückgefunden und in dem Meister ein neues Vorbild dazu erlebt. Sein Ehrgeiz war wachgerufen, er hielt vom Morgen bis zum Abend seine Schüler in Bewegung – der ihm zugeteilten beiden jungen Patres bedurfte er nicht, er hielt sie möglichst in der Reihe der übrigen.
Aber Alberts Stimme, sein Schritt waren immer unter ihnen. Alles was sie taten und sprachen, erhielt durch das Gedächtnis an ihn eine Weihe. Langsam wandelte sich der Prior, bis es ihm gelang, Albert nicht nur im äußern Tun, sondern im inneren Wesen nahe zu kommen – in einem stummen Wettkampf mit dem Davongegangenen. Wer endlich trug den Sieg davon? Der Prior! Und dennoch Albert, denn er hatte des Priors Sieg gewollt und vorbereitet.