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Es hat nichts zu tun mit der berufsmäßigen Gerührtheit des Festtagsplauderers, wenn man den Weihnachtstag zu einer Rückschau und Selbstschau benutzt und zugleich einen höheren Maßstab anlegt als gewöhnlich. Denn die Kämpfe des Alltags nötigen zur Bescheidenheit. Nur wo die Tradition stärker ist als die streitbarsten Menschen und eine kurze Waffenruhe aufdrängt, da sollte die nicht als Atempause benutzt werden, währenddessen man neue Kräfte sammeln kann, um am Tage nach dem heiligen Feste desto kräftiger auf den Gegner loszudreschen, sondern als eine kleine Frist der Versenkung in das eigene Ich, in seine Eigenschaften und Ideologien betrachtet werden.
Das Mittelalter, das wir Zeitgenossen der Tauchboote und Giftgase barbarisch und finster nennen, weil damals die Menschen einander mit Spieß und Morgenstern zu Leibe gingen, kannte die schöne Sitte des »Gottesfriedens«. Das heißt, an den Tagen, die durch des Heilandes Leiden und Sterben geweiht waren, hatte jeglicher Kampf zu unterbleiben. Darüber ist nun längst die Zeit hinweggegangen; so gründlich, daß nichts mehr in unserem Fühlen und Denken an diese alte bedeutungslose Sitte gemahnt.
Wir sind nämlich in allem »konsequenter« geworden und bilden uns darauf etwas ein. Das Weiche und Milde im Menschen wird nicht ästimiert, Härte und Rücksichtslosigkeit triumphieren. Man nennt es allerdings Charakterstärke, oder Lebenswillen, oder sonstwie. Aber man meint dabei doch immer den brutalsten Ellenbogen. Den wünscht man sich als Einzelpersönlichkeit, wünscht man der Summe der Einzelpersönlichkeiten ... dem Volke. Ja, der politische Kampf, der soziale Kampf: er ist bis zu ungeheuerlichsten Graden gesteigert. Und wenn wir jetzt abermals Christnachtschoräle anstimmen, – es hat allzu oft den fatalen Unterton: Herr, vertilge unsere Feinde!
Und das ist letzten Endes logisch. Denn was Weihnachten 1921 über der Menschheit funkelt, das ist nicht der Stern des neuen Bundes. Das ist noch wie in den Kriegsjahren die rote Brandrakete, die am schwarzen Nachthimmel über den nassen, kalten Gräben gaukelte, in denen Menschen mit hämmernden Herzen zusammengeduckt kauerten und ihre armen wirren Gedanken sehnsüchtig nach der fernen Heimat sandten. Noch immer tanzt dieses blutrote Signal über uns ..., und es ist in Wahrheit das Symbol zu der Gottheit, zu der die Menschen beten.
Schlechte seelische Vorbedingung für den Tag der Verheißung. Uns liegt der Donner der Kanonen noch immer im Ohre, und wir überhören den Gesang der Hirten. Was sind uns die Hirten auf dem Felde, die herbeieilen, um dem kleinen Gotte in der Krippe zu huldigen? Kleine Leute, die friedlich und harmlos mit ihren Tieren unter einem geflickten Strohdach hausen. Kleine Leute! Und doch haben diese »kleinen Leute« mit ihrem Glauben das römische Weltreich unterhöhlt und sind zum Piedestal der neuen Lehre geworden. Sie haben die neue Lehre durch die ganze Welt getragen. Bis der römische Imperator erkannte, daß es politisch am klügsten sei, zur Sicherung seiner Macht die Lehre von der Machtlosigkeit anzunehmen. Und so regierte fortan an Stelle des heidnischen Raubtiers das christliche Raubtier die Welt. Aber unvergänglich bleibt bei alledem der Apostelruhm jener ersten, die öffentlich Zeugnis ablegten für ihren Gott der Güte. Und in unseren Tagen, wo die Macht schrankenlos herrscht und ganze Völker an der Kette hält, da zuckt und bebt es in ähnlicher Weise in der Unterwelt der menschlichen Gesellschaft. Da sieht man Zeichen, wartet man auf Verheißungen und mischt in das schrille Gekeife des Hasses das leise und freundliche »Friede auf Erden!«
Die Stimme ist schwach, aber wehe dem Herodes, der seine Büttel ausschickt, um sie zu ersticken. Denn der Langmütige und Friedfertige mag zertreten werden. Aber die Langmütigen und Friedfertigen haben immer längeren Atem gehabt als ihre schnaubenden und tobenden Feinde.
Weihnachten ist das wahre Fest der Utopie. Es hat eine eigenartige und isolierte Stellung in dieser Welt der »gegebenen Tatsachen«. Der Mensch, wider Willen fest, wird weicher und spinnt sich hinein in einen sanften Zustand von Kampflosigkeit, und die Einbildungskraft behauptet ihr ewiges Recht neben der kalten Vernunft. In der seltsamen farbigen Wundergeschichte des großen Anatole France kommt jenes unvergeßliche Kapitel vor von dem alten Gärtner, der die Flöte des großen Pan. des Hirtengottes, bläst, und auf diese lockenden Klänge kommt alles sonst feindliche Getier einträchtig herbei und lauscht.
Weisheit des Alltags hat es in Fleisch und Blut übergehen lassen, daß das Erstreben des Möglichen die wahre Kunst geselligen Zusammenlebens sei. Aber tief in den letzten Verästelungen der Seele, da schwingt die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren wie ein ganz feiner Geigenton mit. Diese Sehnsucht tastet zurück und sucht in grauen Urzeiten den Garten Eden, die vollkommene Harmonie alles dessen, was lebt und atmet. Und diesen seligen Zustand, den sie so gern an den Beginn aller Tage setzt, den wünscht sie auch für das Ende. Ein herrlicher Gedanke: die Geschichte der Menschheit, von Blut und Schrecken übersättigt, umgrenzt von zwei blühenden Gärten. Eine frohe Botschaft, auch wo der Glaube fehlt. Wir senken vor ihr die Waffen und lauschen ihr so willig und so bezaubert wie die Tiere der Flöte des großen Pan.
Berliner Volks-Zeitung, 25. Dezember 1921