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Neubabylon

Vor einiger Zeit veröffentlichte in der Wochenschrift »Das Tagebuch« der Publizist Thomas Wehrlin einen Beitrag zu einem Thema, dem die öffentliche Diskussion aus Mangel an Courage sorgfältig aus dem Wege geht. Ich bin, wie ich sofort darlegen werde, durchaus nicht in allem mit dem Verfasser einverstanden, halte aber für verdienstvoll an seinem Vorgehen die derbe, unverblümte Überschrift seines Artikels: »Die Verhurung Berlins«.

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»Doch nicht von den proletarischen Verkäuferinnen ihres Leibes wollte ich sprechen. Was wir alle an jedem Tag mit großen Augen aufs neue wahrnehmen, das ist die Korruption der bürgerlichen Frau, die Verhurung des jungen Mädchens aus sogenannter guter Familie. Unzählige Ehen sind Fassade des tollsten sexuellen Durcheinanders geworden. ›Gibt es denn noch‹, hörte ich vor Monaten eine junge Berlinerin fragen, ›Zwanzigjährige, die keine Verhältnisse haben?‹ Zwanzigjährige? Sie hätte von Siebzehnjährigen reden können, ja, vielleicht von Fünfzehnjährigen. Ein Geschlecht von Weibern ist aufgewachsen, das gar nichts im Kopf hat, als die Veräußerung seiner körperlichen Reize. Das sitzt in den Dielen, deren es in jeder Woche ein Dutzend neue gibt, das läuft abends in die Kinos, das trägt Röcke bis zu den Knien, kauft die ›Elegante Welt‹ und die illustrierten Filmblätter, das bevölkert Garmisch-Partenkirchen, Saarow-Pieskow, die Thüringer Winterhotels, den Harz und die Seebäder. Für diese Weibsen werden die Auslagefenster der Delikatessenhändler gefüllt, das kauft Pelze und Schuhwerk zu tollen Preisen, das strömt in Scharen Sonntag vormittags über den Kurfürstendamm. Längst gibt es nicht mehr bloß eine Kaste von Demimondänen. Die junge Bourgeoisfrau, die Bourgeoistochter ist Konkurrentin geworden. Die Verhurung hat sich tief in die bürgerliche Familie eingefressen.«

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Mit Recht wird hervorgehoben, daß dieser Skandal sich nicht auf Berlin allein beschränkt, sondern gleichermaßen die Provinz durchfressen hat. Wie die zitierten Sätze aufzeigen, richtet die Philippika sich in erster Linie gegen die Frauen. Aber wenn auch weiter ein weitverbreiteter Männertypus von heute: »der fette, genußgierige Kaufmann, der das Geld leicht erworben hat und auch leicht wieder los wird«, gebührend gestäupt wird, wenn auch ein zweiter ergänzender Artikel Verteidigendes für die Frauen beibringt, so scheinen mir zwar die Symptome fest umrissen, aber die aufgeworfenen Fragen in ihren Möglichkeiten nicht erschöpft zu sein. Capucinaden sind Temperamentserleichterungen, aber führen nicht weiter.

Tausendmal hat der Verfasser recht, wenn er sagt, es wuchere ein wüster Nihilismus, eine traurige Folge des Zusammenbruches der preußisch-kantianischen Gesellschaftsordnung im Bürgertum. Die Ausschweifung hat alle Klassen erfaßt; Bar-Betrieb, Nackttanz-Tempel, sittliche Depravierung der bürgerlichen Frau sind äußere Erscheinungsformen; keine Keuschheitskommission wird daran etwas ändern. Wenn die Lüste der honetten Leute die Fesseln abstreifen, steht der Gesetzgeber Sittenrichter machtlos vis-à-vis.

Und trotz alledem scheint mir die Gefahr eigentlich wo anders zu liegen, als in der gegenwärtigen Herabschraubung der Sexualität auf das Niveau des Palais de Danse. Allen großen Völkerkrisen, die in langjährigen Kriegen sich auswirkten, folgte das jähe Ausbrechen der Vitalität eines mürbe gewordenen Geschlechts. Das hat nichts zu tun mit der bewußten Kraft heidnischer Sinnenfreude, sondern eher mit der hektischen Betäubungsmanie der Bürger einer Stadt, die der schwarze Tod schließlich zurückgelassen hat. Eben hat man sich noch das Haupt mit Dornen umkränzt und den Rücken mit Ruten zerfetzt, und nun beginnt der an sich irre gewordene Lebenswille wieder von dieser Welt Besitz zu ergreifen. Das ist allemal ein wenig erfreuliches Schauspiel, das nicht nur die Sitte durchlöchert, sondern mehr noch den guten Geschmack. Nicht Dionysos wird auf den Altar gestellt, sondern das Schwein. Und nach einer Weile Raserei tritt dann plötzlich ein Rückschlag ein. Das ist der bedenkliche Augenblick.

Wir wissen von Macaulay über die englischen Zustände nach der Stuart-Reaktion. Die Puritanerherrschaft hatte bescheidenste Lebenslust versiegen lassen. Nun schlug alles ins Gegenteil um; selten hat die Welt eine so konsequente Schamlosigkeit gesehen – das Leben der vornehmen Gesellschaft war eine einzige wollüstige Raserei geworden. Dann wehte plötzlich wieder ein anderer Wind: Clio warf das transparente Mänadenkleid ab und tat sich hübsch ehrbar in Baumwolle. Ja, man wurde fromm, man hielt auf Wahrung der Form. Die Liebe, eben noch öffentliche Angelegenheit, verkroch sich in Alkoven. Die Schamlosigkeit der Gasse legte Schminke an und hielt mit bigottem Augenaufschlag Einzug in die Salons. Don Juan fuhr zur Hölle – es kam Tartüff. Das Zeitalter der bürgerlichen Heuchelei hatte begonnen.

Ein gütiges Schicksal bewahre uns vor solcher Wiederholung. Das hätte noch gefehlt: das Bethaus mit dem verschwiegenen Aufgang zum Lupanar. Nein, mein liebes schwarz-rot-goldenes Sodom, deine Libationen sind nicht appetitlich, aber wenn ich daran denke, es könnte einmal jene muffige Moral mit dem lüsternen Seitenblick und den seelischen Geheimfächern wiederkommen, dann verschlucke ich die Verwünschung und sage lieber mit der erhabenen Gelassenheit des Feldwebels, der die Mannschaftsstube betritt: weitermachen!

Monistische Monatshefte, 1. Februar 1921


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