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Herr Professor Timerding

Zu Ende September fand in Bad Nauheim ein deutscher Naturforschertag statt, über den die Presse ausgiebig berichtet hat, insbesondere über den Höhepunkt, das Redegefecht Einstein-Lenard. Von einem andern Höhepunkt hat man weniger Notiz genommen, nämlich von der Rede des Herrn Professor Timerding aus Braunschweig über »Schule und Naturwissenschaft«.

Ich weiß nicht, in welchem Fach der Herr Professor beheimatet ist, weiß nicht, ob er alt oder jung ist, Sacco oder Bratenrock trägt, aber ich weiß, daß sein Referat eine intellektuelle Katastrophe ist. Nicht für den Redner, aber für die naturforschenden Zuhörer.

Vor nunmehr bald einem Jahre habe ich an dieser Stelle eine angstmeierige Rede des Theologen Tröltsch zu behandeln gehabt, die im übrigen nicht kluger Episoden entbehrte. Was Herr Professor Timerding vortrug, war in allen Stücken angstmeierig und das Gegenteil von klug. Ein handfester Reaktionär, der ein Unglück darin sieht, daß das Volk Lesen und Schreiben lernt, kann wenigstens die Konsequenz für sich in Anspruch nehmen. Was aber soll man von dem Professor Timerding halten, der zwar sehr entgegenkommend dem Volk ein Recht auf wissenschaftliche Bildung zubilligt, aber sofort anfängt Grenzen zu ziehen, und Abstriche zu machen?

Geben wir ihm aber selbst das Wort:

»Der Arbeiter drängt der Bildung zu. Wenn ihm das nicht gelingt, so kommt der Ruf: Kann ich nicht zu euch hinauf, so müßt ihr runter zu uns! Diese Bewegung fand ganz deutlichen Ausdruck auf der Reichsschulkonferenz ... Die Volksschullehrer sind nur vom Haß gegen die Religion und Geistlichkeit erfüllt und wollen daher die geistliche Schulaufsicht bekämpfen. Sie führen dafür die Aufklärung ins Feld. Das ist die Naturforschung von gestern und von vorgestern, ja des Altertums ... Wenn wir bedenken, daß der Arbeiter seine ganze sozialistische Weltanschauung mit dem Satze begründet, daß der Mensch vom Affen abstammt, so sehen wir, was von ernsthafter naturwissenschaftlicher Bildung abhängt. Man darf nicht den alten religiösen Glauben durch einen neuen Haeckelschen ersetzen ...«

Diese Sätze stehen in ihrer ganzen Schönheit da, und was ihnen erst die rechte Folie verleiht, das sind die lebhaften Zustimmungsrufe aus der Versammlung, von denen die Berichte melden. Außerdem sagt der Herr Magister noch, unvorbereitet, wie er sich hat, allerhand Unzulängliches gegen das Hochschulstudium der Volksschullehrer, will ihnen aber als Ersatz eine gediegenere naturwissenschaftliche Ausbildung auf den Weg geben.

Wie das alles nach Studierzimmer riecht, nach Bücherstaub und Hosenboden! Kein Grundelement unseres modernen Lebens, das nicht gründlich verkannt würde. Das Streben der Arbeiterschaft nach besserer Bildung wird in solcher Beleuchtung zur Sucht nach allgemeiner Nivellierung. Früher, als der Proletarier noch in den Tag hineindöste und kein Mensch an Volkshochschule und dergleichen dachte, da bildete er mit seinesgleichen die dumpfe und dumme Masse, auf die privilegiensicherer Bildungsdünkel nie ohne mitleidige Verachtung herabblickte. Und heute, wo Regsamkeit und Wissensdurst herrschen, da will der gleiche Arbeiter, weil es ihm nie und nimmer gelingen wird, jemals die Höhe der reinen Timerdingschen Atmosphäre zu erklimmen, in ohnmächtiger Wut alles in seine Niederung herabziehen, in jenen Geistessumpf, in dem alles damit begründet wird, daß der Mensch vom Affen abstammt und die Schulmeister (Gipfelfrevlervermessenheit!) gegen die geistliche Vormundschaft protestieren.

Soll man seine Zeit damit vertrödeln, gegen Timerding zu polemisieren? Es darauf anlegen, nachzuweisen, daß dieses auf falschen Voraussetzungen beruhe, jenes auf Verkennung der Sachlage? Verlorene Liebesmüh! Ein typischer deutscher Vorgang. Da versammeln sich die erlesensten Forscher des Landes zur Aussprache. Im Mittelpunkt steht eine neue Theorie, die in der Folge vielleicht Vorstellungen, in denen Generationen aufgewachsen sind, übern Haufen werfen wird. Da disputieren diese Männer und sind kühn genug, Dinge in Frage zu stellen, an denen zu rütteln, vor wenigen Jahren noch Sakrileg geheißen hätte. Wirklich, sie sind Revolutionäre.

Aber zwischendurch, seltsames Intermezzo, spricht einer über Angelegenheiten, die nicht unmittelbar zum Fach gehören und sieht die Welt aus den Fugen gehen, weil ein paar patriarchalische Begriffe und ein paar antiquierte Denkgewohnheiten im Sturm der Zeit zu wechseln beginnen. Und weint darüber, und die andern weinen mit.

Meine Herren deutschen Naturforscher, Sie wollen Galilei und Newton zum alten Eisen tun, aber Ihre schlotternde Bürgerlichkeit, sie soll uns auch weiterhin sakrosankt sein, nicht wahr? Sie wollen den Kosmos erschüttern, aber Ihre vermoderten Klassenbegriffe, sie allein sollen unerschüttert bleiben, rochers de bronce ... ist es nicht so? Sie verlangen die Freiheit der Forschung für sich, und mit Recht. Aber daß der kleine Lehrer auf dem Lande Luft und Ellbogenfreiheit braucht, um mit Freude schaffen zu können, ohne beengt zu sein von der mittelalterlichen Superiorität der Kirche, das will Ihnen nicht in den Sinn. Noch immer hat das böse Verslein, das Goethe Ihren Urgroßvätern widmete, seine Berechtigung:

In meinem Revier
sind Gelehrte gewesen;
außer ihrem eignen Brevier
konnten sie keines lesen.

Monistische Monatshefte. 1. November 1920


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