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In den versunkenen Zeiten vor dem Kriege spielte das Wort »Einflußsphäre« eine große Rolle. Sich eine Einflußsphäre sichern, war ein höflicherer, zivilerer Ausdruck für imperialistische Eroberungspolitik. Die kleinasiatische Küste hatte seit Jahrzehnten das Unglück, die Aufmerksamkeit der europäischen Mächte erlangt zu haben. England und Frankreich galten als heiße Favoriten, in einigem Abstande folgten Italien und Griechenland. Das zaristische Rußland äugte nach dem Bosporus, um Peters Testament endgültig zu vollstrecken, und der überschlaue Herr Helfferich wollte gleich quer durch Vorderasien mit der Bagdadbahn den »deutschen Gedanken« bis an den Persischen Meerbusen tragen. Alle diese Pläne haben durch den anatolischen Militärstaat, der sich in Angora konstituiert hat, eine empfindliche Schlappe erlitten, und besonders das konstantinische Griechenland hat einen Stoß erhalten, den es vielleicht niemals verwinden wird. Während die alliierten und assoziierten Mächte den Rest der europäischen Türkei beherrschen, hat sich der seltsame, gleichsam aus dem Stegreif entstandene Staat Angora zurzeit gänzlich ihrer Machtsphäre entwunden. Die Situation wird noch dadurch verschärft, daß zwischen Frankreich und England gerade über diese Frage Divergenzen entstanden sind.
Als 1918 der unselige Patient vom Bosporus endgültig die Verfügung über seinen siechen Leib in die Hände der Ärzte legte, deren Behandlung er diese chronische Agonie verdankte, begaben sich zahlreiche Militärs und Politiker aus den jungtürkischen Konventikeln nach Kleinasien, wo sie für ihre Feinde ziemlich unerreichbar blieben. Hier war auch noch vom syrischen Feldzug her ein starker militärischer Kern. Und man muß dem General Mustapha Kemal, der es schließlich verstand, aus den alten Truppenverbänden ein Heer von vielleicht 100 000 Mann zusammenzubringen und damit die Griechen zu schlagen, eine starke militärische Begabung zuerkennen. Außerdem ist Angora, im Innern eines steinigen, gebirgigen Landes gelegen, ein ideales Rebellennest. Von hier aus kann man schon nach der Richtung von Westminster und Quai d'Orsay eine lange Nase machen, ohne dafür den Bakel spüren zu müssen. Als Desperados kamen die Kemal, Enver usw. nach Kleinasien. Sie hatten nie Bedenken irgendwelcher Art gekannt. Sie sagten sich, daß die alten imperialistischen Mächte nichts mehr fürchteten als den russischen Bolschewismus. Und deshalb paktierten sie mit ihm. Das Bündnis hat zwar für beide Teile bedeutende Vorteile gebracht, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Kontrahenten sich gegenseitig betrügen. Über die wahre Natur des »Sozialisten« Enver-Pascha dürfte man in Moskau keinen Augenblick im Zweifel sein. Aber Angora ist wichtig als Beginn der revolutionären Durchdringung Asiens. Ob einem solchen Unterfangen in absehbarer Zeit bescheidenster Erfolg blühen könnte, soll und kann hier nicht beantwortet werden. Jedenfalls: der Schatten Moskaus über Angora bewirkte es, daß England und Frankreich mit den Kemalisten, die sich doch hohnlachend über den Frieden von Sèvres, der die Zerstückelung der Türkei enthält, hinwegsetzten, in aller Form verhandeln, und daß bei diesen Verhandlungen die Nationaltürken bisher nicht schlecht abgeschnitten haben. Ihre Delegierten haben die Geschichte der Diplomatie um neue, bisher noch nicht bekannte Nüancen von Pferdehändlergeriebenheit bereichert und damit ein höchst seltsames, aber würdiges und innerlich verwandtes Gegenstück zu Tschitscherins klassischer Ruppigkeit geliefert.
Unleugbar haben also die Nationaltürken Erfolge errungen. Erfolge, die um so größer erscheinen, wenn man an die alte hamidische Türkei zurückdenkt oder an die alles zerfressende Korruption der Tage Envers und Talaats, die doch bereits eine »Moderne« bedeuteten. Damit aber drängt sich die Frage auf: Ist das nur ein vorübergehendes, wenn auch aufregendes historisches Intermezzo, oder entwickelt sich hier ein neuer vorderasiatischer Staat, der allmählich die heute noch lebendigen islamitischen Kräfte an sich ziehen wird? (Die Frage des »Bolschewismus« der Männer von Angora soll hier ganz ausscheiden; das ist eine Komödie, die aus politischen Gründen – und übrigens recht unzulänglich – gespielt wird.) Man sieht in Deutschland solche Dinge immer romantisch. Der Deutsche denkt in Weltkatastrophen. Wenn das Wort Angora fällt, leuchten ferne Feuerbrände auf, gespenstert die Vision eines England vorüber, das seinen Todeskampf ausficht in dem heiligen, dreimal heiligen Krieg Allasiens gegen seine »Blutsauger«. (Wie gern würde Herr Reventlow zum Beispiel mitsaugen helfen!) Ist nun tatsächlich Angora eine reale Zukunftsdrohung? Zunächst bedeutet Angora nicht mehr als eine Militärdiktatur, als ein Janitscharenregiment. Wie sich die Bevölkerung dazu stellt, darüber haben wir überhaupt kein richtiges Zeugnis. Wird es nun gelingen, aus diesem bajonettumzirkten Gebiet ein Wirtschaftsgebilde zu machen, und wird das auf eigenen Füßen stehen können? Mißlingt das, so ist Angora wirklich nur eine Episode, ein langgezogener Kapp-Putsch.
Die Namen der führenden Männer müssen einigermaßen stutzig machen. Da kehren alle die fragwürdigen Helden aus der jungtürkischen Periode der alten Türkei wieder. Abenteurer, Desperados, keine Schöpfer. Ein Loblied auf die Kemalisten stimmte vor einigen Tagen der General Liman v. Sanders an, der, nachdem ihn sein stolzer Berberhengst 1918 auf den syrischen Wüstensand gesetzt hat, heute sich auf einem etwas harmloseren Reittier in Berliner Zeitungen auslebt. Der gewesene Orientgeneral behauptet, daß Mustapha Kemal und seine Leute sich bisher als »vortreffliche Organisatoren« erwiesen hätten. Da haben wir wieder dieses gefährliche Zauberwort von der »Organisation«. In vergangenen Zeiten haben Kemal und Enver es allerdings vorzüglich verstanden, sich die Taschen vollzuorganisieren, und die systematische Dezimierung der Armenier war gleichfalls eine organisatorische Leistung, für die ein großer Teil der deutschen Presse noch heute warme Anerkennung findet, aber ob selbst solche Talentproben hinreichend zum Aufbau eines neuen Nationalstaates legitimieren, kann mit einigem Fug bezweifelt werden. Wenn Herr General Liman v. Sanders weiterhin von der Modernisierung Angoras spricht, von Volkshochschule, Theater, Badeanstalten, Straßenverbreiterung usw., so bezweifeln wir durchaus nicht seinen guten Glauben. Er müßte aber als alter Militär wissen, was es auf sich hat, wenn der Militarismus plötzlich den Kulturfimmel bekommt. Die Jungtürken, als Schüler von Potsdam und Döberitz, haben es ihren Lehrmeistern abgeguckt, wie imponierend und billig Kulturschöpfungen – auf dem Papier sind. Nein, der Militarismus ist und bleibt steril. Wenn die alte Türkei in Anatolien neu erstehen soll, so wird nicht der Bandenführer und Armenierschlächter Enverscher Prägung der ausschlaggebende Faktor sein, sondern der türkische Bauer, der türkische Kaufmann. Denn die sind der Kern dieses oft mißbrauchten Volkes.
Man sollte deshalb in Deutschland gewisse Zukunftsträume vermeiden, in denen Angora für die Engländer die gleiche Rolle spielt wie für den Türkensultan, den einst der große Tamerlan vor den Mauern dieser Stadt gefangennahm und in einem goldenen Käfig zur Schau stellte. Gewiß kann sich heute Kemal damit brüsten, der Entente auf die Nerven zu fallen und diplomatische Siege zu erringen. Aber glaubt man im Ernst, England würde in Kleinasien die Festigung eines Raubstaates, der eine ständige Störung seiner orientalischen Interessen bedeutete, mit Ruhe hinnehmen? Noch immer ist England auch mit den gefährlichsten Gegnern fertig geworden. Das ist historisch leicht zu belegen, und wenn in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« der in Stinnesien akklimatisierte Sozialdemokrat Paul Lensch wider die »Legende« von der überlegenen politischen Klugheit Englands wettert, so ist das nicht mehr als das persönliche Übelbefinden eines Mannes, der noch immer unter den Nachwehen des großen deutschen U-Boot-Deliriums zu leiden hat. Kemal hat die zeitweilige Schwäche der Entente geschickt ausgenutzt, er hat die europäischen Mächte um eine »Einflußsphäre« ärmer gemacht. Das ist sein unbestreitbares Verdienst. Überspannt er den Bogen, und wird der Schatten Moskaus einmal schwächer, dann wird es sich erweisen, daß die englische Bulldogge noch immer stark und gewandt genug ist, um der fauchenden Angorakatze den Hals umzudrehen.
Berliner Volks-Zeitung, 19. Juni 1921