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Pharisäer

Der »Deutschen Tageszeitung« ist ein großes Heil widerfahren: irgendwo in der Provinz hat nämlich ein sozialistischer Funktionär etwa 30 000 Mark veruntreut, und das Agrarierblatt runzelt nun die Denkerstirne: »Das sind nun nach der Ansicht dieser Kreise die geeigneten Leute, die Interessen ihrer Klassengenossen zu vertreten. Sie können Mein und Dein nicht unterscheiden.«

Das, verehrte »Deutsche Tageszeitung«, bedarf einer Korrektur. »Diese Kreise« gibt es nämlich nirgends, deren Ansicht es ist, daß man die Kasse offenbaren Spitzbuben ausliefern müsse. Selbst ein Cercle von Berufsverbrechern würde keineswegs die Verwaltung der Bundeslade einem alten Langfinger überlassen, sondern sich dazu ein Individuum aussuchen, dessen besondere Begabung auf einem anderen Felde als jenem der Eigentumsvergehen zu suchen ist.

Und welche Intoleranz und Anmaßlichkeit, dem politischen Gegner gleichsam die erbliche Belastung für jede denkbaren Missetaten zuzuschieben. Die Politik ist schließlich kein Isistempel, an dessen Pforte alle trübe Menschlichkeit wie ein beschmutztes Gewand abfällt. Gestohlen wird überall, und überall sind schwache Menschen, die sich leicht verstricken und Versuchungen nicht widerstehen können. Es soll sogar schon einmal eine deutschnationale Parlamentsleuchte ein Amtssiegel vom Geldschrank entfernt haben, und von einem sehr sittenstrengen Chefredakteur der »Kreuzzeitung«, die gleichfalls die Tugend gepachtet hat, wird erzählt, er habe große Summen, die ihm harmlose Menschen mit Rücksicht auf sein ehrbares Gesicht und seine gute Gesinnung anvertraut hatten, an die Ausstattung eines Schlafzimmers verwandt, das nicht in seiner keuschen Wohnung gelegen war.

Es wird nämlich innerhalb und außerhalb der Mauern Ilions gesündigt. Und wenn du hörst, daß jemand, der einer Partei angehört, der du spinnefeind bist, silberne Löffel gestohlen oder Kinder geschändet hat, so sage nicht vielsagend »Aha«, sondern halte den Mund und denke an die Augenblicke, in denen du selbst drauf und dran warst, den schmalen Pfad der bürgerlichen Ehrbarkeit zu verlassen, und segne den Zufall, der dich verhindert hat, den ersten Schritt vom Wege zu tun.

Berliner Volks-Zeitung, 3. August 1921


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