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Rotrußland

Seit Alfons Paquet und Hans Vorst Rußland bereisten, liegt kein deutscher Bericht von Bedeutung über das innere Leben des großen Landes vor. Nun veröffentlicht ein soeben aus Rußland zurückgekehrter Adept des Leninismus. Dr. Alfons Goldschmidt, einen Band Moskauer Tagebuchblätter.

Was er sagt, ist höchst bemerkenswert und aufschlußreich. Aufschlußreicher als er es sich vielleicht selber träumen läßt. Auch eine bedeutsame schriftstellerische Leistung. Eine Kette kleiner, mit Liebe ausgeführter Bilder von Menschen und Tieren. Städten und Landschaften. Eine schriftstellerische Leistung – aber auch nicht mehr! Denn einer, der Sowjetrußland gesehen hat, darf nur schreiben mit einem sehr hohen Verantwortlichkeitsgefühl. Darf man Goldschmidt das absprechen? Er ist beileibe nicht, wie er immer wieder betont, ein »Tendenzhalunke«. Er schreibt nicht gegen die Wahrheit. Er schildert gewiß Bitteres und Trauriges, aber wie er es schildert, das ist die Sache. Als Bagatelle, frohgemut, fast ein wenig tänzelnd. »Wir werden's schon schaffen!« so etwa. Manches erinnert an die famosen Berichte Sven Hedins über den westlichen Kriegsschauplatz, der über diese Hölle in dem angenehm angeregten Tone eines abgebrühten Touristen plauderte.

Goldschmidt ist auch ungerecht. Er überschüttet die politische Quarantäne in Finnland und Estland mit bösartigem Hohn und macht die verhaßte Demokratie dafür verantwortlich. Aber daß diese selbe Quarantäne in Moskau noch viel konsequenter durchgeführt wird, findet er ganz selbstverständlich und teilt die Sperrmaßnahmen der russischen Regierung nicht ohne Genugtuung mit. Auch der gute Geschmack verläßt ihn hin und wieder. Er spricht von den fadenscheinigen Anzügen einiger Sowjetwürdenträger und dem blütengelben, nicht parfümierten Taschentuche eines anderen Herrn etwa so, wie früher ein Scherlscher Reporter von des Kronprinzen scharlachroter Attila sprach. Kurzum, er ging nach Rußland wie ein Byzantiner, der einmal in seinem Leben an einer Hoftafel teilnehmen darf.

*

Er gibt also Bilder und gibt auch einen Text dazu. Aber die Bilder sind so stark, daß sie seinen Text totschlagen. Was an diesem Rußland, dessen Ruhm Goldschmidt verkündet, beunruhigt, das ist das übermäßige Anwachsen eines Verwaltungsapparates, ohne daß in entsprechendem Maße produktive Arbeit geleistet würde oder auch nur die Mittel zu einer solchen vorhanden wären. Eine gewaltige Armee von Bureaukraten, die verwaltet, soweit sich Dalles verwalten läßt. In Wirklichkeit wohl nur eine Schutztruppe, die Suprematie der Kommunistischen Partei zu erhalten. Denn fest wurzelt der Kommunismus nicht. Es gibt, wie Goldschmidt sagt, noch keine kommunistische Gesellschaft, sondern erst eine kommunistische Partei, die nur einen Bruchteil des Riesenvolkes in sich aufgenommen hat.

Das äußere Bild von Petrograd und Moskau mag für den neuheitsgierigen Journalisten seine Reize haben. Jeder andere wird es trübe finden. Die alte Gesellschaft ist bis auf klägliche Reste vertilgt. Die Straße gehört der Arbeiterschaft. Die Straße ist größtenteils gut gefegt, frei von Schmutz und Staub. Leider auch von Handel und Wandel. Die meisten Läden sind geschlossen, die Schaufenster mit Brettern vernagelt. Der Verfasser teilt das gewissenhaft mit; ob er darin ein Zeichen von Prosperität entdeckt, verrät er nicht. Die Preise sind ins Monströse gestiegen. Ein viertel Liter Milch kostet 125 Rubel, eine Droschkenfahrt 3000 bis 5000 Rubel (zirka 30 bis 50 Mark)! An Kleidern scheint es zu fehlen; leider wird Goldschmidt an dieser Stelle dunkel und widerspruchsvoll. Im gleichen Atemzuge, in dem er nämlich behauptet, ein Kleiderelend nicht bemerkt zu haben, erzählt er doch, daß seine Übersetzerinnen sehr darüber klagten und heilfroh waren, als er ihnen seinen flanellenen Schlafanzug zum Anfertigen von Blusen überließ. Strümpfe sind Rarität geworden. Viele Frauen tragen nur kurze Socken, die nur ganz wenig über den Schuhrand hinausgehen. Goldschmidt versichert beruhigend, diese Nacktheit gebe nicht den geringsten Anlaß zu Zynismen. Sittlichkeit als Strumpfersatz! Das ist etwas, was im Winter außerordentlich warm halten wird. Überhaupt ist das früher so leichtfertige Moskau sehr sittsam geworden. Die Prostitution ist von der Straße verdrängt. Absolut von der Straße verdrängt.

Leider sind die ökonomischen Beziehungen nicht so einwandfrei geregelt wie die erotischen. Denn Moskau schiebt, schiebt, schiebt. Nur Schiebung hält dieses Getriebe zusammen. »Es herrscht, offiziell gesprochen, schwerer Schuhmangel, aber die inoffizielle Beschuhung ist ausreichend.« Der Schieber, anderweitig ein Schädling, trägt im gelobten Lande der großen Wirtschaftsorganisatoren eine Kulturmission. Über diese Lücke in der kommunistischen Gesellschaft läßt sich Goldschmidt, der an deutsche Verhältnisse mit moralisch schwer befrachteten Imperativen herantritt, im Tone leichten Scherzes aus. Es gibt auch noch Luxus in Moskau. Es gibt noch immer parfümierte Wunder in Lackstiefelchen und Seidenjupons, und es gibt auch noch elegante Kavaliere. Ob diese dem absterbenden Bürgertum angehören, das, um nicht zu verhungern, ein Besitzstück nach dem andern veräußern muß, oder der neuen Bureaukratie, behält der sonst nicht wortkarge Verfasser für sich. Über alle Zweifel erhaben aber ist die agitatorische Leistung der Machthaber. Von allen Mauern wird ein grellbunter Plakatfeldzug geführt gegen die Augen der Moskowiter. Geschickt gemachte Massenmeetings dienen zur Auffrischung der Begeisterung.

Außerdem wird auch noch gearbeitet in Moskau. Tatsache. Herr Dr. Goldschmidt hat einige große Betriebe besucht. Musterbetriebe. Im übrigen wollte es der Zufall, daß jedesmal, entweder weil gerade Frühstückspause war oder es an dem Tage an Brennmaterial fehlte, die Arbeit stockte. Man soll ganz gewiß nicht auf ein paar Stichproben ein Urteil stützen, aber leise Zweifel an der Arbeitsintensität werden nicht unterdrückt werden können. Dafür wird aber desto mehr organisiert. Goldschmidt zeichnet getreulich die Porträts von einigen Wirtschaftsgewaltigen und überzeugt uns mühelos, daß es prachtvolle Menschen sind. Überzeugen kann er uns aber nicht, daß der Effekt ihrer Tätigkeit ein ebenso prachtvoller ist. Jenes mit starkem Pathos, vielleicht sogar mit Herzblut geschriebene Kapitel, das die Unterredung mit Krzyizanowsky, dem Leiter der Elektrizitätsabteilung, wiedergibt, läßt doch eine bedenkliche Ähnlichkeit dieser zentralen Verwaltungsstätten mit unseren vielgeliebten Kriegsgesellschaften durchschimmern, deren unbestrittenes Glanzstück es war, zur Sammlung von Obstkernen aufzufordern, während nicht eine Kirsche oder sonst etwas auf dem Markt war. Was der russische Meister dem Berliner Zauberlehrling eröffnete, war tönende Zukunftsmusik.

»Er sprach von den Stickstoffplänen, den Phosphatlägern, er sprach von einem sibirischen Gebiete, das 40 Millionen Menschen Nahrung bietet. Ein Kanada des Ostens tat sich auf ... Er zeigte mir eine ungeheure Wünschelrute. Ein Paradies tat sich auf ... Er hatte seine Bedenken, er wußte, wie lange das dauert...«

Überhaupt: nur mit Sozialismus seien diese Pläne durchzuführen.

Das ist sehr schön. Aber es geht dem Volke da bitterlich schlecht, und mit Schrecken denken die Unbestrumpften an den russischen Winter. Und die, die ihm helfen müßten, schütteln Papierparadiese aus den Manschetten und heischen eine neue Weltordnung, um etwas davon zu verwirklichen. Nein, Herr Wirtschaftsorganisator, Ihre Phosphatläger und Ihr ganzes sibirisches Kanada sind uns keinen Pappenstiel wert und Hypotheken auf Mondschlössern, wenn es Ihnen nicht gelingt, in dieser Gegenwart Hungernde zu sättigen und Nackte zu bekleiden. Hier ist Ihr Arbeitsfeld! Hier ist Rhodos, hier wird getanzt!

Einmal fällt bei Goldschmidt das Wort: »Sie sind mehr Gegenwarts- als Zukunftsschauer«. Das ist ein leiser Tadel und gilt den englischen Sozialisten, die zu gleicher Zeit in Moskau waren. Sie waren nur sehr mäßig begeistert, und Frau Snowden sprach es in öffentlicher Rede aus: »Go your way, we go our way to the socialism!« (Geht euren Weg, wir gehen unseren Weg zum Sozialismus!) In diesen Worten liegt das Urteil Westeuropas.

*

Auch Goldschmidt sieht Gegenwart, aber es wiegt ihm federleicht gegenüber dem Gedanken der Zukunft. Er sagt zu dem System innerlich ja, und eben weil er innerlich ja sagt, erscheinen ihm die dunkelsten Stellen licht. Ihn beunruhigt deshalb auch in keiner Weise, was Tom Shaw, der englische Delegationsführer, jüngst in Genf erzählte, daß das russische Proletariat gänzlich rechtlos sei und weder Versammlungs- noch Pressefreiheit besitze, ebenso wie der einzelne Arbeiter nicht zu entscheiden habe, wo und zu welchem Lohn er arbeiten wolle. Er schreibt auch nicht ein Wörtchen über die alles beherrschende Militärdiktatur, obgleich sie uns aus jeder Zeile anstarrt. Weil er das System vorbehaltlos bejaht, deshalb kümmern ihn auch nicht die furchtbaren, zu Ausrottungen gestiegenen Verfolgungen, unter denen gerade die Sozialisten der Bruderparteien zu leiden hatten. Er konstatiert die Alleinherrschaft einer Partei der 600 000 über 150 Millionen und rechtfertigt sie sorgfältig. Ihn, den deutschen Geistigen, überkommt nicht ein Gefühl der Beschämung, wenn er jene Szene erlebt, in der ein Führer der menschewistischen Opposition zum Volke spricht, bleich, verängstigt, von Haß umknurrt. Ein noch Geduldeter. Mag sich heute Lenin behaupten mit der Macht der Bajonette, dauernd kann man nicht gegen alle regieren. Dauernd kann man nicht die Widerstrebenden in den Hungerturm sperren, um die Verelendeten und Entnervten dann hübsch gnädiglich aus der Hand fressen zu lassen. Deshalb ist das Zukunftsproblem Rußlands trotz Trotzki das demokratische. Der Wille, alle heranzuziehen und gewaltlos zur Mitarbeit gefügig zu machen, das eben ist die von Goldschmidt verpönte Demokratie. Kein System kann sich halten, das Güte, Toleranz, Wertschätzung des Menschenlebens als »liberalen Humanitätsdusel« verlacht, und Despotismus bleibt Despotismus, ob ihn ein zäsaristischer, ein kapitalistischer oder ein bolschewistischer Fronvogt ausübt. Der Lenin-Sozialismus will nicht Schöpfung, sondern Schablone. Aber das Leben ist Vielfältigkeit, Buntheit, Sehnsucht, die Schranken zu überwinden. Goldschmidt spricht an einer Stelle davon, daß in den Eisenbahnen viele blinde Passagiere reisten, obgleich Reise nur gegen Fahrtanweisung gestattet sei. Und dabei entschlüpft es ihm: »Das Leben will leben, reisen, die Kommunikation funktioniert gegen alle Drohungen.« Was hier im kleinen ein Loch in das Register administrativer Brutalität stößt, das wird sich einmal auf der ganzen russischen Erde wiederholen. Denn das Leben will leben, reisen, die Kommunikation funktioniert gegen alle Drohungen.

Berliner Volks-Zeitung, 13. August 1920


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