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Im Oktober 1920 ist der alte Herr August Stein gestorben, nachdem er bis wenige Monate vor seinem Hinscheiden 36 Jahre lang als Vertreter der »Frankfurter Zeitung« in Berlin gewirkt hat. Nun hat ein Freund des Verstorbenen zwanzig Artikel aus der Zeit von 1891 bis 1914 gesammelt und in Buchform herausgegeben unter dem Titel »Irenaeus«. (Ein Pseudonym des Verstorbenen, der selten mit seinem Namen zeichnete.)
Stein, ein vornehmer, zurückhaltender Charakter, hat eine nicht öffentliche, aber dafür desto einflußreichere politische Rolle gespielt, wie in einer aufschlußreichen Einleitung dargelegt ist. So bedeutet dieses Buch nicht nur die wohlverdiente Ehrung eines Mannes, von dessen Wirken schließlich die wenigsten etwas erfahren haben, sondern auch die Rettung kleiner essayistischer Kostbarkeiten und glänzend durchgeführter Porträts von hervorragenden politischen Persönlichkeiten, die in der ausgehenden Bismarck-Zeit und in der wilhelminischen Ära im Mittelpunkt standen und heute schon so gut wie vergessen sind. Stein war nicht nur ein genialer Beobachter, sondern auch ein Meister eines zugleich soliden und grazilen Stils durch und durch, unerbittlich gerecht und menschlich tolerant durch und durch, eine durchaus harmonische Persönlichkeit; ein Vorbild für die jüngere Publizistik, die sich so gern in billigen Fechterposen verplempert oder, übler noch, dazu neigt, den Füllfederhalter mit der Heugabel zu vertauschen.
Aber vielleicht sind nicht einmal diese persönlichen Züge des Verfassers das Bemerkenswerteste an diesem Buche. Ich glaube, es ist die Atmosphäre darin. Fünfzehn, zwanzig Jahre trennen uns von dem Berlin, das darin behandelt wird. Aber wie unendlich fern ist das alles. Dieser Presseball von 1899, diese Plauderecken in den alten Parlamentsgebäuden, wie geruhig, wie altväterlich mutet das alles an, wie eine Episode aus Arkadien.
Das alles haben wir besessen, und doch kam uns schon damals das Leben fieberhaft und unstet vor, und aus einer billigen Romantik entstand die Freude am »Biedermeier«. Und dabei waren wir dem gar nicht so fern, wie wir dachten. Wir hatten es und wußten es nicht. Wenn man in diesen Irenaeus-Plaudereien liest, dann fühlt man es plötzlich: das Biedermeier reichte bis 1914. Da kam der Krieg, die große Lokomotive, und führte uns für immer davon ...
Berliner Volks-Zeitung, 21. Juli 1921