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»Kean«
Das Deutsche Theater durfte gestern über einen Premierenerfolg quittieren, wie ihn Berlin lange nicht erlebt hat. Der Erfolg war verdient, auch wenn man ohne weiteres feststellt, daß gestern abend nicht eine neue Epoche der deutschen Literaturgeschichte begann. Das vom allgemeinen Triumph abgezogen, sind wir alle gern dabei gewesen. Das Virtuosenstück des alten Dumas von dem großen Schauspieler Edmund Kean, der den Rausch der Kunst ins Leben hinüberträgt, funkelte in Kasimir Edschmids Aufbügelung in einem neuen verführerischen Glanze. Und wenn es auch kein Kunstwerk geworden ist, so doch, wie es der oft genug lügnerische Theaterzettel diesmal ehrlich aussagt, ein rechtschaffenes »Stück Theater«. Diese Offenherzigkeit entwaffnet den Kritiker; er stellt das Richtschwert unbedenklich in den Glasschrank und benutzt die freigewordenen Hände zum Applaudieren.
Der Virtuose Kean fand seinen Sänger im Vater Dumas, der auf seinem Rayon gleichfalls ein Virtuose war. Und Kasimir Edschmid, der modernste aller Virtuosen der Literatur, holt das Veraltetste heraus und füllt die Lücken mit einer neu empfundenen Menschlichkeit – und übergibt die Rolle dem Virtuosen Bassermann. Und der ist doch der herrlichste Ring dieser Kette. Dieser Schauspieler Kean, ewig in Geld- und Liebesnöten, von Lebendigkeit sprühend, bald gespenstisch flackernd, bald in irdischer Eitelkeit sich blähend, ist ein echter Serapionsbruder von Devrients Geblüt. Ihm kongenial ist Herr Paul Grätz als alter Souffleur Salomon. Aribert Wäscher und Hans Schweikart sind ein paar höchst ergötzliche Kavaliersgruppen; die weiblichen Gegenstücke Sita Staub und Käthe Nevil. Aus dem »fahrenden Volk« ragen sympathisch hervor Dore Steidl und Ernst Langheinz. Elsa Tiedemann als Daisy Miller in Einzelheiten noch ungelenk, aber in Sprache und mimischem Ausdruck von echter Beseelung. Und Herr Erich Pabst, der im vergangenen Winter in der Köpenicker Straße die Väter spielte, die von ihren expressionistischen Söhnen mißhandelt werden, überraschte in der Rolle des kaltäugigen morbiden Lebemannes.
Die Regie führte der Intendant Gustav Hartung aus Darmstadt, ein erlauchter Gast, der mit Recht gefeiert wurde.
Berliner Volks-Zeitung, 25. August 1921