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Zu der immer stärker anschwellenden Kirchenaustrittsbewegung nehmen auch die politischen Parteien Stellung. Die Reaktionäre denunzieren diese Bewegung als »sozialdemokratische Mache«. Wer die Verhältnisse kennt, weiß, daß dies eine faustdicke Lüge ist; denn gerade die Sozialdemokratie nimmt in dieser Angelegenheit eine sehr vorsichtige, abwartende Haltung ein. Aber man hofft, die bürgerlichen Wortführer der Bewegung kompromittieren zu können. Die größte Unbeholfenheit zeigen (fast möchte man sagen: natürlich!) wieder die liberalen Parteien, die die ganze Bewegung entweder totschweigen oder ihre Ergebnisse in lächerlicher Weise zu verkleinern suchen. Gewiß ist es nicht Aufgabe der Parteien, in dem Für und Wider der Weltanschauungsfragen eine Entscheidung zu treffen; aber den politischen Bodensatz der Kirchenaustrittsbewegung dürften sie nicht außer Acht lassen. In einer der Berliner Massenversammlungen fiel ein Wort Karl Liebknechts, das die Situation blitzartig erhellte: Darf man, so etwa sagte er, dem preußischen Kultusminister auch nur indirekt das Gehalt bewilligen? Hier ist in der Tat der Kern der Frage zu finden: Darf die Staatskirche noch länger ihre unheilvolle Macht über die Schule behalten? Solange die Freiheit der Schule nicht errungen ist, wird die Austrittsbewegung nur noch stärker fortschreiten. Ihre Zukunft ist noch gar nicht abzusehen; denn wenn die freiheitlichen Parteien einmal ihre Bedenken überwunden und im Interesse eines kulturellen Fortschritts eine Verständigung erzielt haben werden, dann wird es in den Fundamenten der Staatskirche noch viel hörbarer als bisher krachen.
Wir Demokraten, die wir in unserem Programm die Trennung von Staat und Kirche und die freie Schule fordern, schenken diesen Vorgängen mit Recht unsere Aufmerksamkeit; denn jeder, der das Band zwischen sich und der Kirche zerschneidet, wird, ob er will oder nicht, auf die demokratische Seite gedrängt. Dafür sorgt der Staat, der ein »christlicher« Staat ist und immer noch nicht die alte Glaubens- und Gewissensschablone in die Rumpelkammer geworfen hat. Der Konfessionslose, mag er ein noch so friedlicher Bürgersmann sein, wird als eine Art »roter« Vorfrucht angesehen und demgemäß behandelt. Der Staat hat in der Hinsicht ein fein entwickeltes Unterscheidungsvermögen. Und wer als Konfessionsloser glücklich genug ist, allen offenen und geheimen Schikanen des öffentlichen Lebens zu entgehen, der wird sicher in die Kampfstellung gedrängt, wenn er seine Kinder in die rückständige und verpfaffte Schule schicken muß. Einerlei, ob er sich einer Partei anschließt oder nicht, auf jeden Fall gehört er auf die demokratische Seite. So arbeitet die Reaktion selbst an der Erleuchtung der Gehirne.
Die Kirchenherrscher haben als Erklärung für die Kirchenflucht eine seichte Formel gefunden: der Materialismus ist daran schuld; die zunehmende Vergnügungssucht des Volkes entfremdet es der Religion. Die Moralphilosophen und Wissenschaftler äußern sich ähnlich: das Niveau der breiten Masse sinke tiefer und tiefer; das Ringen um einen geistigen Lebensinhalt werde seltener und seltener. – Seien wir ehrlich. Auch wir Demokraten haben schon oft geseufzt, wenn unsere feurigsten Reden ungehört verhallten, wenn die Ergebnisse unserer Arbeit, an unserem Eifer und unseren Opfern gemessen, klein erschienen. Ohne Zweifel, eine gewisse Verflachung des äußeren Lebens und ein Mangel an Innenkultur macht sich überall bemerkbar. Sollen wir aber deswegen zu Bußpredigern werden? Gehen wir lieber den Ursachen nach! Jene Erscheinungen, die Übereifrige – die Unglückspropheten kommen meistens aus dem »völkischen« Lager – als Symptome des Verfalles ansprechen, sind in Wahrheit Folgeerscheinungen eines forcierten Kapitalismus. Man sollte mit der Kraft des Volkes wuchern; aber man schändet dieses edelste Material geradezu. Wir haben nicht mehr die behagliche Genußfreudigkeit unserer Voreltern, nicht mehr im gleichen Maße die Fähigkeit zu geistiger und seelischer Vertiefung. Das Schnellzug-Tempo unserer Zeit ist der Reflexion abhold. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Einzelnen hört mehr und mehr auf. Der Kleinbürger von ehedem ist längst Arbeitnehmer geworden, hat seine Arbeitskraft verkauft. Für ihn ist das Dasein nicht viel mehr als eine Hetzjagd. Die Arbeitskraft wird durch raffinierte Systeme noch künstlich gesteigert; nur auf die Quantität kommt es noch an. Dazu tritt die Sorge um die Existenz. In die kargen Mußestunden drängt sich das Gespenst der Arbeitslosigkeit. Kann man von solch einem müde gehetzten Menschen, der vielleicht noch unter der Geißel der Berufskrankheiten zittert, tiefe seelische Kultur verlangen? Wir müssen zufrieden sein, wenn der Arbeitnehmer von heute wenigstens noch in seiner Berufsorganisation tätig ist. Häufig genug gefährdet ja auch das seine Existenz. Da sprechen die Neunmalweisen von einer »Vergnügungs«sucht des Volkes. Eher könnte man von einer Betäubungssucht sprechen. Wie verständlich ist es, wenn die Menschen sich in den paar freien Stunden über das Eintönige ihres Daseins hinwegzutäuschen suchen. Wer daran etwas ändern will, der muß die Axt an die Wurzeln dieser »gottgewollten« Ordnung legen. Da machen aber die Bußprediger nicht mehr mit. Hat z.B. schon jemals die Kirche ihren Einfluß gegen kapitalistische und feudalistische Ausbeutungen geltend gemacht? (Von einzelnen ihrer Diener, die ihre Stimme erhoben, abgesehen – rühmliche Ausnahmen!)
Aber lassen wir uns nicht verleiten, die Dinge allzu schwarz zu malen! Wir erleben augenblicklich alle Schwankungen und Widersprüche einer Übergangszeit. Eine Kultur liegt im Sterben, und die Keime einer neuen sind kaum sichtbar. Wer scharfe Sinne hat, wird dennoch aus der babylonischen Verwirrung der kulturellen und religiösen Gefühle eine Losung heraushören, die bedeutendste unserer Zeit: daß es gilt, eine freiere, bessere Zukunft zu schaffen. Der arbeitende Mensch steht heute in einem Emanzipationskampfe, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht gesehen hat. Zum ersten Mal pocht er wirklich auf seine Menschenwürde und fordert seinen Anteil an den geistigen und materiellen Gütern dieser Welt. Wenn wir manchmal pessimistisch werden, so ist es nur, weil uns die Entwicklung nicht schnell genug geht, weil wir noch viel zu viele Schwachmütige unter uns sehen, weil häufig ein kleinlicher Klassen- und Cliquenegoismus die Entwicklung zu hemmen droht. Bitter ist auch, daß sich das geistige Deutschland in seiner großen Mehrheit den Emanzipationskämpfen fern hält. Da man nach einem boshaften Ausspruch Lichtenbergs in Deutschland eher die Nase rümpfen, als die Nase schneuzen lernt, stehen die Vertreter von Kunst und Wissenschaft blasiert und degoutiert abseits. Der politische Kampf ist ihnen zu roh; sie fürchten sich, ihre schönen Seelen zu besudeln und ihre noch schöneren Finger. Sie reden klug über die Welle des religiösen Gefühls, die angeblich neuerdings über Europa geht; aber sie haben keine Ahnung von der religiösen Glut, mit der ein einfacher Arbeiter für seine Überzeugung kämpft. Sie reden schön vom Erwachen eines neuen Idealismus; aber was für sie ein reines Studierstuben- oder Salonproblem bleibt, das wird in politischen, beruflichen, genossenschaftlichen und kulturellen Organisationen in die Tat umgesetzt. Hier ist eine Religion der Hoffnungsfreudigkeit, der nimmermüden Arbeit, aber auch der Opfer und der bitteren Tränen. Eine Religion, zu der die Intellektuellen nur schwer den Zugang finden. Das ist um so beklagenswerter, als gerade das Beispiel und Bekenntnis geistig hervorragender Menschen Tausende aufrütteln könnte, die zu einem eigenen Entschluß bisher nicht die Kraft gefunden haben oder von Zweifeln verzehrt worden sind. Der ästhetische Wert des Intellektualismus ist natürlich unbestreitbar. Sein Kulturwert jedoch ist gering. Meistens geht er an geistiger Inzucht zugrunde. Wenn sich zwei Zeiten scheiden, gehört aber die Zukunft dem vollen, freudigen Gefühl.
Ein neues Lebensgefühl macht sich geltend, ein neuer Idealismus, der nichts zu tun hat mit dem der Intellektuellen, eine größere Freude an den Erscheinungen des Lebens. Wir sind dafür der modernen Naturwissenschaft aufs äußerste verpflichtet. Sie hat uns neu sehen gelehrt: sie hat uns neue Wege der Erkenntnis gewiesen. Die Erde ist uns nicht mehr der Mittelpunkt des Weltensystems, der Mensch nicht mehr der Mittelpunkt der irdischen Schöpfung. Der Sinn für das Organische, für die Entwicklung hat sich geschärft. Wir haben das Bewußtsein, daß unser Leben dieser Erde gehört. Wir richten unsere Sehnsucht nicht mehr nach Erlösung. Wir wollen Befreiung. Die Befreiung als unsere eigene Tat! Das ist die schönste und stolzeste Losung unserer Zeit. Wir fühlen uns nicht mehr von dem Bewußtsein der Sünde behaftet, an dem Generationen gescheitert sind. Wir fragen nicht mehr: warum bin ich sündig? oder: was soll ich tun, damit ich seelig werde?, weil wir unser Fühlen, Denken, Handeln an anderen Gesetzen orientieren! Der Begriff der Erbsünde, an dem sich einst die Spitzfindigkeiten der Theologen erschöpften, hat seine Gewalt über uns verloren, weil wir wissen, wie viel von den Übeln der Welt nicht in unserer sündigen Seele oder in unserem lüsternen Fleische wurzelt, sondern in den sozialen Verhältnissen. Man kann es unserer Zeit nicht abstreiten, den Kampf gegen soziale Schäden hat sie aufgenommen wie keine vor ihr. Aber wir sind kaum über die Ansätze hinausgekommen. In vielen Dingen ist noch nicht einmal eine Klärung erfolgt. Hier liegt die große Aufgabe der Demokratie: Schutt und Moder hinwegzuräumen und Wege freizumachen für alles, was die Menschheit gesunder und glücklicher macht. Deshalb arbeiten wir für die Demokratie – nicht als Endziel, sondern nur als Ausgangspunkt für neue Entwicklungsmöglichkeiten: Und wir kämpfen nicht aus irgend einem dunklen Drange heraus, sondern weil die Erfahrung unsere Lehrmeisterin ist. Wir kämpfen nicht, weil wir glauben, – wir kämpfen, weil wir wissen!
Die Evangelien berichten von dem Leiden des Gottessohnes, seinem Begräbnis und seiner Auferstehung. Seltsam, in allen Mythen stirbt der junge, herrliche Gott des bitteren Todes und wird unter Wehklagen bestattet. Aber nicht lange, und die Grabessteine weichen: er steht wieder auf. Entspricht dieses Symbol nicht einem tiefinnersten Bedürfnis? Wir alle, die wir für eine Wahrheit kämpfen, haben Stunden des Zagens. Wie viel, so fragen wir, haben wir gehofft und gearbeitet, und wie wenig ist in Erfüllung gegangen. Und eines traurigen Tages bestatten wir unsere Hoffnungen. Aber was daran gut, was unvergänglich ist, das sprengt die Grabeshülle und erwacht in uns zu neuem, siegreichem Leben.
Das freie Volk, 11. April 1914