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Kräfte der Vergangenheit

Vor zwei Jahren um diese Zeit kamen unsere Truppen zurück. Und obgleich der Krieg traurig abgeschlossen und ein schlimmer Friede in Aussicht stand, feierte doch die Hoffnung Feste. Heute wagen wir kaum auszublicken. Wir haben seitdem soviel des Schmerzes erlebt, daß schon ein besonderer Mut dazu gehört, die Zinne zu besteigen und die Blicke schweifen zu lassen über das dunkle Land. Dennoch empfinden wir auch heute den sanften Zauber des freundlichen Festes, und das »Friede auf Erden«, in uraltem Mythus verkündet, blutiger Hohn auf die Welt um uns, rührt an uns mit alter Wärme, Erinnerungen an Stunden um den geschmückten Baum werden lebendig, und über das unstet pochende Herz kommt kurze Ruhe. Was die Gegenwart versagt und die Zukunft noch verbirgt, gewährt gütig die Vergangenheit.

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Am 10. Dezember 1520 verbrannte Martin Luther vor dem Tore Wittenbergs die päpstliche Bulle, die den Bann aussprach über den Ketzer. »Weil du den Geist des Herrn getrübt hast, so verzehre dich das ewige Feuer«, so etwa sprach er. Damit endete die erste Phase der Reformation, die begonnen hatte mit dem Anschlag der 95 Thesen. Luther hatte der höchsten Autorität der Christenheit getrotzt, und dem geschriebenen Wort, das gestützt wurde von der größten und dauerhaftesten Organisation, die die Welt gekannt hat. das Recht der freien Persönlichkeit entgegengestellt. Fast alles von dem, was damals die Geister erregte und die Leidenschaft zur Siedehitze steigerte, ist für uns Geschichte geworden. Und wir sehen in Luther nicht mehr allein den Helden, sondern auch den irrenden Menschen, den unheilvoll irrenden Menschen, der, selbstgerecht geworden, den edlen Zwingli von sich wies, der die hungernden und versklavten Bauern dem Racheschwerte der Fürsten preisgab. Entsetzlichster und folgenschwerster Verrat im ganzen Verlaufe der deutschen Geschichte, Anbeginn der nationalen Zersplitterung, der Kleinstaaterei, der Duodeztyrannei, fühlbar bis zum heutigen Tag. Aber für uns wird das klein neben der einzigen Tat dieses Mannes: sich nicht zu beugen vor irgendeiner Autorität, und mag sie zur Seite haben die ganze Macht der Erde. Und nicht Luther, den Orthodoxen, nicht Luther, den unseligen Politiker, wollen wir feiern und bewahren, sondern Luther, den Trotzigen, dem sein Gewissen mehr galt als alle Drohungen der Macht. Und immer, wenn in Deutschland Götzen Altäre errichtet werden, dann möge sich der gute, alte Luther-Zorn regen und dem Plunder Scheiterhaufen bereiten. Weil du den Geist getrübt hast, so verzehre dich das ewige Feuer!

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Und noch eine andere Erscheinung steigt mächtig auf: Beethoven – gewiß einer, der nie gestorben ist, den kein Magus zu beschwören braucht. Wenn wir, wie in diesen Tagen, sein Andenken feierten, so gewiß nicht in dem Sinne, daß hier eine schuldige Devotion abgestattet, einem geschichtlich gewordenen großen Manne gehuldigt wird. Nein, wir taten es in dem Bewußtsein, hier einen großen Tröster zu haben. Wir Deutschen sind heute zwiespältiger und zersplitterter als jemals und suchen wie im Traume die Macht, die, hinwegführend über des Alltags Zänkereien, im Geiste uns eint. Wir suchen nicht nach einem Charlatan, der Trugbilder kommender nationaler Herrlichkeit, auf blutigen Schlachtfeldern errichtet, betörten Augen vorgaukelt, wir suchen nach dem Friede- und Freudebringer. der aus der Kraft der Menschenliebe das Präludium einer freundlicheren Zeit intoniert. Wer wäre da verehrungswürdiger als Beethoven, dieser Herrscher im Reiche der Töne, über Harmonien waltend wie ein schaffender Gott? In Beethoven, den mitten im Kriege giftigster Chauvinismus nicht anzutasten wagte, lebt die Sehnsucht nach der Menschheit. Und indem wir ihn ehren und uns in ihn versenken, bejahen wir seine Sehnsucht nach dem einzigen großen Volke Menschheit und dem großen Vaterland Erde. Und während die Staatsmänner an Demonstrations- und Remonstrationsnoten sich die Federn stumpf schreiben, geschäftige Politiker mühsam vernarbende Wunden mit Behagen aufreißen, lauschen Tausende, in großen Sälen dicht aneinander gedrängt, dem himmlischen Brausen Beethovenscher Symphonien und vergessen Vaterland, Volk, Partei, Klasse – und sogar das letzte Abendblatt. Und was vor wenig Zeit noch im Kampf und Streit stand, das fühlt sich ganz schlicht wieder Mensch. Alle Scheidung, alle Etikettierung weicht der alles überbrückenden, alles versöhnenden Gewalt der Melodie, und anfangs zagend, dann jubelnd tönt es wieder:

Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt:
Alle Menschen werden Brüder.
Wo dein sanfter Flügel weilt.

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Das sind die zwei Elemente, die unserer Gegenwart fehlen: die Tat und die Melodie. Die Tat, beflügelt durch das Gewissen, gefestigt durch den Willen zum Recht. Es geht nach diesem Kriege nicht mehr um die territorialen und kommerziellen Ansprüche der Staaten, es geht um Menschheitszukunft; und es geht in Deutschland nicht mehr um den Sieg dieser oder jener politischen Gruppe – es geht um das Volk, das in allen seinen produktiven Gliedern sich zusammenschließen muß. wenn es nicht untergehen will. Erst wenn wir das begriffen haben, dann wird unser Kampf um eine menschenwürdige Zukunft nicht nur, wie heute, übles Geräusch machen – »Mißtöne hör ich, garstiges Geklimper« – sondern eine Melodie mitklingen lassen. Heute kämpft man um Kleines, und deshalb sind auch die Mittel klein. Und dabei schwelt um uns ein Elend namenlos, welken Menschen dahin, ohne die Blüte auch nur geahnt zu haben, sterben Kinder langsam Hungers. Wir aber balgen uns um Quisquilien und nennen das »Politik«. Und draußen, da stehen die müden, durch vierjährigen Krieg gehetzten Völker noch immer Gewehr bei Fuß, und die Gier nach Fetzen Landes feiert Orgien. Noch leuchtet über dieser Welt nicht der Stern von Bethlehem. Und doch sind überall kleine Häuflein unverzagter Wanderer, bereit, ihrem Heiland zu huldigen, und wenn sie ihn auch im Stalle finden. Und während die schwarze Wolke noch den Stern verdeckt, wird schon mit gläubiger Inbrunst die Losung des neuen Bundes ausgegeben: es soll kein Mensch auf Erden mehr hungern – es soll kein Mensch auf Erden mehr die Waffe gegen den andern richten! So lebt die alte Christbotschaft fort, und Millionen von Herzen zittern ihr entgegen. Was heute frommer Glaube, das soll einmal Wirklichkeit werden. So wollen wir, mitten in Unverstand und Finsternis, nicht mit unseren Hoffnungen fallen, sondern freudig die Worte aufnehmen, die in Hebbels Tragödie der dem Schicksal verfallene Kandaules in letzter Stunde spricht:

Ich weiß gewiß, die Zeit wird einmal kommen,
wo alles denkt wie ich ...

Berliner Volks-Zeitung, 25. Dezember 1920


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