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Wie ein roter Faden zog sich durch die Rede des Reichskanzlers zur Militärvorlage der Gedanke, daß das Erstarken des slavischen Machtbewußtseins uns noch einmal in einen schlimmen Konflikt mit dem europäischen Osten bringen könne. Was der Reichskanzler mit philosophischer Diskretion da angedeutet hat, das hat man viel bestimmter in der alldeutschen Presse lesen können, nämlich, daß mit Rußland als Vormacht eine slavische Völkerverbrüderung im Entstehen begriffen sei, die zu einem großen Schlage gegen das Germanentum aushole. Kriegerische Töne unserer Regierung und unserer herrschenden Parteien gegen Rußland, das ist wirklich überraschend. Wie lange ist es her, da mußten wir uns mit Recht beklagen, daß man es in Deutschland an Rückgratfestigkeit gegenüber russischen Anmaßungen fehlen lasse. Der Königsberger Hochverratsprozeß, verschiedene Reden des Fürsten Bülow zur Zeit der russischen Revolution, die Polizeiwillkür gegen politische Flüchtlinge sind noch nicht vergessen. Allzu bereitwillig wurde dem Kosakentum die Erbfreundschaft bezeugt und anstatt einer Gegenleistung so manche schlimme Rücksichtslosigkeit eingesteckt.
Je intimer aber Rußlands Allianz mit Frankreich wurde, desto mehr ist die Begeisterung für den östlichen Nachbarn verflogen. Unsere phantasievollen Alldeutschen sehen im Geiste schon Mitteleuropa von neuen Hunnenherden überschwemmt, von wilden Reitern mit strähnigen Haaren und geschlitzten Baschkirenaugen. Der Panslavismus hat es nämlich darauf abgesehen, die Kultur Alteuropas mit Stumpf und Stiel auszurotten. Was ist denn dieser Panslavismus nun? Da er dazu herhalten muß, eine neue Militärvorlage begründen zu helfen, werden ihm skeptische Gemüter schon ohnehin keine allzu große Bedeutung beimessen. Gewiß wird er in bewegten Perioden einen Einfluß ausüben können; aber organisatorisch kann er noch auf lange Jahre hinaus nicht wirken. Vielleicht niemals. Ein Abgrund klafft zwischen Russen und Polen, zwischen Polen und Ruthenen und zwischen so vielen anderen slavischen Völkerstämmen. Die kleinen Balkanstaaten, deren Blüte im Sande Thraciens verscharrt ist, kommen um so weniger für eine Machtpolitik in Frage, als ihre Einigkeit kaum lange anhalten dürfte. Aber der Panslavismus will weniger eine politische als vielmehr eine intellektuelle Sammlung herbeiführen. Er will die vielen geistigen Kräfte, die im Slaventum noch brach liegen, nutzbar machen und der älteren Kultur Westeuropas eine eigene slavische an die Seite stellen. Wir kennen den Bildungshunger russischer Studenten, denen Mütterchen Rußland die Bildungsmöglichkeiten einschränkt. So kommen sie nach Berlin, Genf oder Paris, um in freieren Ländern das Wissen der Zeit zu sammeln und es nachher in der Heimat als gangbare Münze unter ihre Volksgenossen zu bringen. Das ist nur zu begrüßen. Je mehr eine bodenständige geistige Kultur ein Volk durchdringt, um so mehr müssen die nationalistischen Strömungen abflauen, die ihre Wurzeln nur in grober Unbildung und intellektueller Minderwertigkeit haben. Gewiß hat die slavische Agitation häufig lärmende chauvinistische Formen angenommen. Wir zweifeln auch nicht, daß sich ein resoluter Junker, wie Purischkiewitsch, die endliche Lösung des Problems weniger geistig denkt und nichts lieber sähe, als daß sich auch Westeuropa vor der Knute beugte. Aber wovon träumen nicht unsere Alldeutschen? – –
Man versuche doch nicht, uns das Erwachen des Slaventums als drohendes Gespenst an die Wand zu malen. (Die Befürworter unserer Polenpolitik haben allerdings Grund, eine Abrechnung zu fürchten.) Die Rassenfrage wird nicht in dem Maße akut werden, wie man es darzustellen beliebt. Auch bei einer Zusammenfassung der slavischen Volkskräfte wird die Entwicklung, wie überall, zunächst einmal eine kapitalistische sein. Nun ist der Kapitalismus durchaus nicht friedliebend. Aber er führt Kriege um Zölle oder Absatzgebiete und nicht um Ideen. Ihn kümmern nicht Rasse, Nation, Religion. Längst hat er die alten Grenzpfähle ausgerissen. Er wertet die Menschen nur nach ihrer Arbeitskraft. Wohin aber der Kapitalismus seinen Fuß setzt, dahin folgt ihm wie sein Schatten die Arbeiterbewegung mit ihren sozialistischen und demokratischen Tendenzen, die wir heute als sicherste Gewähr für den Frieden ansehen müssen. Auch bei den arbeitenden Klassen der slavischen Völker wird das Verlangen nach höherer Lebensform erwachen. Die Balkanregierungen werden schon nach kurzer Zeit aus ihrem Siegesrausch geschüttelt werden und Problemen gegenüber stehen, von denen sie bisher noch kaum eine Ahnung hatten.
Einen nimmermüden Feind hat die Kultur Westeuropas allerdings. Das ist der Zarismus, der fremd und seltsam in unsere moderne Zeit hineinragt wie eine Verkörperung östlicher Barbarei, wie ein posthumer Sprößling Dschingis Khans.
Noch steckt das Slaventum kulturell in den Kinderschuhen, so daß von einer Bedrohung deutscher Kultur nicht die Rede sein kann. Und wenn wir die Kraft finden, unser politisches Leben freiheitlich, demokratisch auszugestalten, so werden wir einen neuen gewaltigen Vorsprung erringen. Dann wird noch lange Zeit an Tagen der Gefahr nicht nur auf kriegerischen Schauplätzen die ehrenvolle Parole ausgegeben werden: Die Deutschen an die Front!
Das freie Volk, 19. April 1913