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Neu-Delphi

Wir alle haben in der Schule von dem Delphischen Orakel gehört. Gewöhnlich sprachen die Schulmeister davon mit jener pathetischen, überzeugungdurchzogenen Stimme, die sich am 27. Januar immer so schön ausnahm. Ich entsinne mich nur eines alten Griesgrams, der den ganzen Orakelbetrieb einen aufgelegten Schwindel nannte. So denken wir Leute wohl alle.

Und doch – wie segensreich wäre ein solches Institut in unserer ruhelos suchenden Gegenwart. Wie viel Unheil könnte verhütet werden, wie vielen Zeitgenossen könnte eine Ahnung eingepflanzt werden von dem Risiko ihrer Unternehmungen. Allerdings hat Krösus nicht den Doppelsinn jenes Bescheides gewürdigt, der ihm verkündete, er werde ein großes Reich zerstören, wenn er den Halys überschreite. Aber schließlich hat man aus solchen Unglücksfällen gelernt. Gäbe man heute einem Parlamentarier, der bei einer Kabinettsbildung kräftig von seinen Ellenbogen Gebrauch macht, die Weisheit auf den Weg: »Trittst du in das Kabinett ein, so werden nach der nächsten Wahl die Mitglieder einer Fraktion in der berühmten Droschke spazieren fahren können!« – was wettet ihr, er wird es bleiben lassen?!

Erstaunlich, daß Herr Stinnes, der doch Gazetten und Telegraphenagenturen scheffelweise zusammenkauft, noch nicht auf die Idee gekommen ist, ein solches Orakel aufzumachen. Das müßte doch weit wirkungsvoller sein und viel, viel billiger arbeiten als diese zahllosen Meinungsmühlen, die nur Wind machen und nicht einmal Strohmehl liefern.

Man könnte ohne besondere Schwierigkeiten eines der vielen Wohnungsämter oder irgendeine beklagenswerterweise ins Hintertreffen geratene Kriegsgesellschaft in eine Reichs-Orakel-Stelle verwandeln. Denn gerade solche Behörden sind schon durch ihre ganze bisherige Tätigkeit für die Mitwelt vom Zwielicht des Geheimnisvollen umflossen und geübt in jenem Doppelsinn der Antworten, mit denen einst die Pythia von Delphi die klugen Griechen jahrhundertelang an der Nase herumgeführt hat.

Berliner Volks-Zeitung, 29. April 1921


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