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Das Weinrestaurant Hiller hat zwei Waggons französischen Kognak eingeführt mit Genehmigung einer hohen Obrigkeit. Zur Stärkung unserer Valuta.
Der frühere Staatssekretär Dr. August Müller hat darüber einen sehr entrüsteten Artikel geschrieben, unter anderem daran erinnert, daß schon in der »großen Zeit« die Menüs dieses Lokals eine Art Fettoase in der Kohlrübenwüste rund herum bildeten. Schließlich sollte diese gastliche Stätte geschlossen werden. »Die Schließung des Lokals wurde aber vereitelt«, so berichtet Dr. August Müller, »Reichskanzlei, Kriegsministerium, Großer Generalstab und Auswärtiges Amt vereinigten sich, und dem Druck, den diese gewichtigen Stellen ausübten, mußte die mit der Ausführung der Schließung betraute Kriegswucherbehörde weichen. Das Lokal blieb weiter geöffnet; es änderte an seinen Gepflogenheiten nichts ...« Man versteht es, daß so hohe Instanzen sich für die Weiterführung der gastronomischen Akademie Unter den Linden einsetzten. Die Annexionspolitiker mußten sich zu neuen Heldentaten stärken, und wenn man erst eine Mahlzeit von fünf Gängen nebst den dazugehörigen Flüssigkeiten geschluckt hat, so schluckt man auch die Industriegebiete von Longwy und Briey nebst den anderen »realen Garantien« in Ost und West weit bereitwilliger mit. Auch auf Andersdenkende übte ein Hiller-Frühstück magische Wirkung aus; so manche gerade Gesinnung ist damals zugrunde gefrühstückt worden. Ebenso mußten die Genies vom Großen Generalstab bei guter Laune gehalten werden. Der Zusammenhang zwischen Strategie und Alkohol ist ja bekannt; schon der große Suworow brauchte anständige Quantitäten Branntwein, wenn er siegen wollte. Daß Blücher und Wellington, die beide keine Temperenzler waren, schließlich mit dem magenkranken Asketen Napoleon spielend fertig wurden, kann gleichfalls als Beweis dafür verbucht werden, daß die Schlachtengöttin dem die Palme reicht, der ihr am fleißigsten Trankopfer darbringt.
Während aber bei Hiller die Halbgötter emsig ihr Talent befeuchteten, mußten draußen im Schützengraben die geringeren Geister sich weniger lukullisch mit Rumfutsch, Drahtverhau und Hindenburgsuppe bescheiden. Denn das Vaterland ist janusköpfig; das eine Antlitz ist marmorkalt und streng, die großen, harten Augen blitzen kategorische Imperative, und der gebieterische Mund scheint zu sprechen: was bist du ... Wicht?! Aber das andere Antlitz blickt mit den bacchusseligen Augen Silens, prunkt mit Falstaffs feisten Wangen und kupferroter Nase. Wir alle sehen zunächst nur das eine strenge Antlitz, aber wehe dem, der den Weg zum zweiten findet – mit seiner Tugend ist es vorbei.
Man pflegt dem Vaterland ehrende Inschriften zu widmen, etwa: Getreu dir bis in den Tod!, oder so ähnlich. Einfacher, ehrlicher und tatsächlicher wäre es, dafür zu setzen:
»Führe uns nicht in Versuchung!«
Berliner Volks-Zeitung, 28. April 1921