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1912

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Nationalliberale Götterdämmerung

Der Reichstagsabgeordnete Marx, der bekannte rheinische Zentrumsführer, hat sich vor kurzer Zeit einigermaßen energisch gegen den konservativen Blockbruder ausgesprochen und diskret die Möglichkeit einer Annäherung an die Nationalliberalen angedeutet. Von verschiedenen Seiten ist darauf hingewiesen worden, daß es sich wohl nur um einen Schreckschuß handeln könne; denn hervorragende Mitglieder der nationalliberalen Partei selbst seien zu einem Urteil über deren Zukunft gekommen, daß man ihr kaum noch die Bündnisfähigkeit zuerkennen könne.

In den »Grenzboten« untersucht der Oberverwaltungsgerichtsrat Dr. Damme die Zukunft der nationalliberalen Partei. Er, der zu den wenigen gehört, die den Charakter in der Partei verkörpern, kommt zu dem melancholischen Schlusse, daß sie infolge der Sonderbündelei der »Alten« wohl nicht mehr lange zusammenhalten werde. Er sieht die Ursache der Krisis in der Verschiedenheit der Stellung zur Sozialdemokratie und im Gegensatz zwischen Nord und Süd – Friedberg und Rebmann.

Gewiß liegt manches Zutreffende in diesen Ausführungen; aber sie erschöpfen die Situation nicht. Die Partei stirbt nicht an den erwähnten Gegensätzen. Die Konflikte bestehen schon lange, und trotzdem ist es bisher einigermaßen gegangen. Nein, die nationalliberale Partei geht an ihrer absoluten Inhaltlosigkeit, an ihrem vollkommenen Mangel an geistigem Gehalt zu Grunde. Die verschiedenartigsten Elemente haben sich bei ihr zusammengefunden. Einer steht dem anderen im Wege, und keiner hat deshalb Lust zur Tat.

Die Partei hat kein Programm. Darum sucht sie krampfhaft nach Parolen. Sie ist die Partei für Bildung und Besitz und wendet sich deshalb ausschließlich an das wohlhabende Bürgertum. Die Leutchen mögen ja Geld springen lassen; aber sie sind die letzten, die schöpferisch oder parteibildend wirken können. Im Grunde sind es ganz unpolitische Menschen, für die Ruhe die erste und letzte Bürgerpflicht ist, und die gegen alles, was nach Radikalismus auch nur riecht, eine instinktive Abneigung besitzen. Sie können naturgemäß weder Programm noch Grundsätze, nicht einmal eine Taktik haben. Die schlimmste Zeit für die Partei ist die Wahlzeit. Da müssen die Unglückswürmer von Kandidaten vor die Öffentlichkeit treten und erzählen, was sie alles zu bieten haben. Und sie haben nichts. Sie vertreten nur das nackte Geldsackinteresse, und dieses einzige Prinzip der prinzipienlosen Partei wird hinter einem Wall von Phrasen verschanzt – nur Phrasen!

Die nationalliberale Partei ist die klassische Partei der »nationalen« Phrase. Kulturkampftiraden ziehen nicht mehr. Aber die nationale Phrase wirkt immer noch in unseren Zeiten der häufigen äußeren Konflikte. Die nationalliberale Partei ist die patriotische Partei par excellence. Sie hat das »nationale Bewußtsein« in Erbpacht. Ihre Redner arbeiten mit den tollsten Kriegshetzereien. Dabei entspringen die alldeutschen Rodomontaden durchaus nicht einem überstarken Kraftbewußtsein, einem übertriebenen Nationalgefühl. Es sind nur traurige Verlegenheitsprodukte, bestimmt, die innere Leere zu maskieren. Man soll die Sache einer Partei verfechten, und man weiß nicht, was die Sache der Partei, wozu die Partei überhaupt da ist.

Seit den Tagen der Reichsfinanzreform war eine gemäßigte Opposition der harmlose Sport der Partei. Das hat sie aus den Nöten des Wahlkampfes mit einigermaßen heiler Haut gerettet. Und so hätte sie noch lange weiter vegetieren können, wenn die rabiate Scharfmachergruppe nicht gewesen wäre. Diesen Herrschaften paßt das lauwarme Verhalten der Partei nicht mehr. Sie fühlen sich in der Macht und pfeifen auf die Phrasen. Das darf aber der diplomatische Bassermann-Flügel nicht zugeben. Eine solche Demaskierung bedeutete das Ende. Die nackte Brutalität der Scharfmacher darf nicht vor allem Volk zum Parteiprinzip erhoben werden.

So rächen sich die alten Sünden an der Partei der Vertuschung.

Was wird aus ihr werden? Wird der eine Teil nach rechts, der andere Teil nach links fallen? Das naheliegende wäre allerdings die echt nationalliberale Lösung, daß unter der alten Schutzmarke weiter gewurstelt wird. Wahrscheinlicher ist aber doch eine Trennung. Und in dem Falle dürfte es zu einer Fusion des linken Flügels mit der Fortschrittlichen Volkspartei kommen. Das wäre nicht einmal unerfreulich. Wir bekämen zwar eine Bourgeoispartei in Reinkultur; aber es würde doch – und das ist die Hauptsache – eine verhältnismäßig starke bürgerliche Partei werden, die auch von der Regierung nicht ohne weiteres ignoriert werden dürfte. Diese Partei müßte den Kampf um die Macht aufnehmen. Dazu würden sie schon die nach rechts abgegangenen Elemente zwingen. Und vielleicht könnte sie uns dem parlamentarischen Regime eine Etappe näherbringen.

Aber das ist Zukunftsmusik. Für die Gegenwart steht nur fest, daß die nationalliberale Partei ausgespielt hat, ob sie dem Namen nach bestehen bleibt oder nicht. Niemand wird sie mehr ernst nehmen, niemand sie für bündnisfähig halten, niemand – außer den Koryphäen der Fortschrittlichen Volkspartei.

Das freie Volk, 31. August 1912


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