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Nun gleiten wir alle sacht in den Winter unseres Mißvergnügens. Keinen fand diese Herbstsonnenwende zufrieden. Keiner sprach: »Die Wolken all, die unser Haus bedräut, sind in des Weltmeers tiefem Schoß begraben.« Bleiern lastet es auf Siegern wie Besiegten. Bei den einen übertönt Festesjubel nur mühsam die Stimmen banger Sorge, und manche tönende Fanfare findet zages, hohles Echo. Und die andern, die das Spiel verloren? Richtungslos irren sie. Sie wissen ausgehungerte Völker hinter sich, ausgehungert an Leib und Seele. Stumpf und müde geworden. Stumpf und müde ist selbst die Raserei. Da ist keiner, der es fühlt: ... die Helle vor mir, Finsternis im Rücken. Die Ratlosigkeit ist das Zeichen dieser Nachkriegszeit. Kein Aufschwung, sondern Verdrossenheit.
Gestehen wir es uns ein: auch auf uns Pazifisten lastet diese Verdrossenheit. Wie heiß haben wir in vergangenen Jahren nicht die Stunde ersehnt, die den Kriegsgott stürzen sollte. Wie hat sich unsere Sehnsucht nicht diese große Wende vorgestellt! Die Krieger zerbrechen ihre Schwerter, zertrümmern die Kanonen, und nach Unzeiten trennenden Hasses verlieren die Grenzen der Länder ihre unheimliche Kraft; die Menschheit als heiligen und unerschütterlichen Begriff in sich tragend, so ziehen die Scharen der Soldaten in die Heimat zurück. Verhehlen wir es uns nicht, dieser Augenblick, die »weiße Sekunde«, wie ihn Leonhard Frank so wunderbar nennt, ist nicht gekommen. Das Ende des Krieges bedeutete nicht Verbrüderung, sondern hart und eindeutig: Sieg der einen Koalition über die andere! Sieg mit allen Konsequenzen für Sieger wie Unterlegene! Die Völker, nach Entwaffnung, nach Ruhe verlangend, bleiben weiterhin angespannt, aufgeputscht, von neuem wird ihr natürliches Gefühl, das Vereinigung will und nicht Trennung, von nationalistischem Geschrei übertönt und irregeführt. Das Resultat ist ein jämmerliches. Die Chauvins aller Länder gehaben sich noch, als läge die Zukunft in ihrer Hand.
Aber ist dieses Bild nicht doch trügerisch? Ist da nicht viel, was nur Wort ist und Gebärde, nur Aufputz und nicht festes Material? Würde das, was Politiker von der sicheren Warte der Partei in die Welt hinauskrähen, wirklich der Stimmung der Völker entsprechen, dann könnte man die Arbeit für die Gesellschaft der Nationen einstellen und auf 100 Jahre vertagen.
Wir gebrauchen so gern das Wort von der »neuen Zeit«. Für wenige ist es Überzeugung, Herzenssache, hat es echten revolutionären Inhalt. Für die meisten ist es Ornament. In Wahrheit aber haben wir die Schwelle der neuen Zeit noch längst nicht überschritten. Der 9. November bedeutete nicht den Grenzstein, sondern nur eine Etappe auf dem Wege dahin. Uns umweht noch nicht die Gottesluft der neuen Freiheit, wir leben noch inmitten von Zusammenbrüchen und Katastrophen.
Was sich rings um uns begibt, das ist der Ausverkauf des alten Zustandes der zwischenstaatlichen Anarchie. Man räumt auf, man verschleißt. Und immer wieder setzt es in Staunen zu sehen, was für Gerümpel dabei zutage kommt, und wie wichtig die Herren Verkäufer ihren Krimskrams nehmen. Erst jetzt wird die europäische Fäulnis aus der Zeit vor 1914 wirklich offenbar. Jetzt muß auch der Blödeste die Schwären und Gebresten des europäischen Leibes sehen. Jene Schwären und Gebresten, die man so nett »Territorialprobleme« nennt, und die ein jeder Staat so ängstlich zu verbergen trachtete, obgleich der Geruch verriet. Daß nun die Hüllen heruntergerissen sind, das wäre an und für sich gewiß kein Schade. Gefährlich ist nur, daß man alle Konflikte noch immer mit den Mitteln der alten, durch die Ereignisse überholten und widerlegten Diplomatie zu lösen sucht. Daß noch immer die Einstellung eine durch und durch imperialistische ist. Daß noch immer der stolze Trödel der »nationalen Ehre« mit seinen Fahnen und Wappentieren den Ausschlag gibt, während die wahren Bedürfnisse der Menschheit Überbrückung der Grenzen und gegenseitige Hilfe verlangen, wenn wir nicht einer Weltkatastrophe zutreiben wollen. Aber die Lenker unserer Geschicke schwelgen auf Trümmern, verschleudern mit großer Geste Länder und bestimmen kaltlächelnd Grenzen in Gebieten, die ihnen in gleichem Maße vertraut sind, wie etwa einem durchschnittlichen Europäer das Indianer-Territorium.
Darf es als Entschuldigung gelten, daß es bei den Besiegten nicht besser aussieht, daß man, anstatt mutig vorwärts zu schauen, nach verstaubter Tradition schielt und der nationalen Reinigung die nationalistische Klopffechterei vorzieht? Noch taumeln wir alle im Labyrinth des Krieges. Ein Jahr nach Abschluß des Waffenstillstandes noch darf der alte Clemenceau, ein Mann von untadeliger demokratischer Vergangenheit, sich über alle Gebote der Demokratie hinwegsetzen und versuchen, seine persönliche Denkungsart, eine seltsame Mischung von nationalistischer Überreiztheit und verschrobener Bismärckerei, einem großen freiheitsliebenden Volke als nationale Gesinnung aufzupfropfen. Ein Jahr noch nach Abschluß des Waffenstillstandes treiben in Deutschland weite Volksschichten einen albernen Kultus mit dem wattierten Preisringer Ludendorff. Neue Zeit? Nein, noch taumelt alles im Labyrinth des Krieges. Damit ist aber unsere pazifistische Arbeit notwendiger denn jemals.
Es wird mit Recht viel davon gesprochen, daß die Rehabilitierung Deutschlands zurzeit die Hauptsache sei. Nur über den Weg sind die Meinungen verschieden. Die einen heben hervor, daß nur ein unbedingtes Schuldbekenntnis uns die Sympathie der Welt wiedergewinnen könne, während die andern sich mit Eichenlaub bekränzen, teutonisch die Brust mit den diversen »Orangeorden« recken und nur das eine zu sagen haben: Nur nichts zugeben! Zähne zusammenbeißen und Haltung! Das imponiert. – Die dritte Kategorie setzt sich aus jenen zusammen, die alles gemütlich in einem Topf zusammenrühren und dann freundlich lächelnd verkünden, es hätten alle die gleiche Schuld, und wir Deutschen hätten Zeit zu warten, bis die andern zur gleichen Erkenntnis gekommen wären. So gutherzig eine solche Auffassung ist, so wenig verspricht sie Erfolg. Zu sehr ist die Stimmung gegen uns und zu wenig unsere Lage dazu geeignet, es auf neue Geduldsproben ankommen zu lassen. Es ist vielmehr unsere höchste Pflicht, uns mit aller Kraft für die Durchdringung Deutschlands mit pazifistischem und demokratischem Geist einzusetzen. Wir müssen den Mut zu absolut neuen Methoden finden. Stärker noch als formale Schuldbekenntnisse, die von Skeptikern sehr leicht als Lippenbekenntnisse gewertet werden können, müßte eine solche Tat wahrhaft vorbildlich wirken und am allerersten geeignet sein, die Barrieren des Hasses und Mißtrauens um uns niederzulegen. Das ist der Weg zum Völkerbunde der Zukunft, der nicht aus dem Kalkül der Staatsmänner erwächst, sondern dem Rechtsempfinden der Völker. Dann erst wird die Stunde der Versöhnung anbrechen und der letzte Krieger sein Schwert unter Rosen begraben.
Völker-Friede. November 1919