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Es ist ein gutes, altes Komödienmotiv, durch eine vorgespiegelte Gefahr, die gar nicht existiert, reputierliche Persönlichkeiten, die die Träger von Moral und Sitte sind, sich selbst entlarven zu lassen. Das hat Shakespeare in seinem »Sturm« mit verzeihender Altersmilde gestaltet. Und der Bildhauer Barlach, ein grüblerischer Mensch, mit geheimem Lyrismus geladen, nimmt das dankbare Motiv auf, und wirbelt es durch sieben höchst unmilde, bald mit Tragik, bald mit Essigsäure durchtränkte Szenen. Die Achillesferse dieses Spiels ist nur, daß ein wirklicher Mittelpunkt fehlt, eine Person, die alle anderen überragt, die alle ausgeworfenen Fäden faßt. Und dennoch: mag das alles so wirr sein und abrupt, man muß schon sehr plumpe Finger haben, um nicht den echten Menschen dahinter zu greifen. Wer außer dem Strindberg der letzten Periode konnte einen so unerhörten Totentanz gestalten? Wenn es auch kein geschlossenes Drama geworden ist, so doch ein wirklicher Künstlertraum voll krauser Phantastik und heißer Wahrheitsliebe. –
Der Beifall setzte sich mit Mühe durch. Intendant Jeßner hatte Hintergründe geschaffen voll ahnungsvollen Schauers. Die ersten Bilder beherrschte Lothar Müthels jugendliches Pathos und Rudolf Forsters auch im Affekt streng beherrschtes rhythmisches Spiel. Dann schob Kortner alles beiseite. Ein grauköpfiger Dämon, ein Satanspriester voll orgiastischen Lebens. Kortner entschied den Abend. Sonst hätte ein verehrtes Publikum, das die Shakespearische Phantastik bejubelt, die Phantastik des großen Bildhauers Ernst Barlach unter einem Riesenskandal begraben. Sintemalen besagter Barlach noch in keinem Nachschlagebuch Namen und Nummer hat.
Berliner Volks-Zeitung. 2. April 1921