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Spätere Geschlechter werden die Periode des Weltkrieges kein Heldenzeitalter Europas nennen, sondern eine Zeit tiefster Erniedrigung. Die Aufpeitschung des Nationalismus, die Entfesselung und Nutzbarmachung aller Instinkte, die man sonst als edel zu bezeichnen pflegt, haben seelische Epidemien hervorgerufen, die auf lange Zeit noch alle internationale Politik zu einem ebenso schwierigen wie gefährlichen Problem machen werden. Insofern ist auch der Versailler Frieden nichts künstlich Konstruiertes, sondern durchaus aus einer Zeit gewachsen, die Haß und Rache heiligte und alle Niedrigkeit für den Dienst des Vaterlandes mobilisierte. Und deshalb kann das traurige Friedensdokument nicht durch ein paar Federzüge beseitigt werden, ehe nicht ein wirksames Serum gegen die Krankheitserreger gefunden ist.
Von unseren früheren Gegnern ist Frankreich am hartnäckigsten und sträubt sich am heftigsten gegen die von England und Italien befürwortete Politik der Vernunft. Ohne eine Besserung unseres Verhältnisses zu Frankreich aber ist keine Restitution europäischer Gesinnung und Gesittung denkbar. Daß unsere bisherige Politik Frankreich gegenüber versagt hat, einerlei, nach welcher Methode man arbeitete, ob Gongschlag oder Flötentöne, scheint uns der Beweis zu sein, daß mit rein politischen Mitteln hier nichts ausgerichtet werden kann. Es muß bei uns ein sittlicher Wille sich regen, der der Welt beweist, daß das Regime wirklich ein Regime ist, und nicht eine Ohnmacht, oder gar eine Draperie.
Heute aber ist es leider so, daß wir in diplomatischen Noten unser Elend ausstöhnen und unsere Presse lauttönend an das Gewissen der Welt rührt, Deutschland vor dem Hungertod zu bewahren, und daß in grellem Kontrast zu den amtlichen und halbamtlichen Leichenbittermienen dieses Deutschland, wie es da in wildem Tempo dahinlebt, ein Antlitz trägt, das wenig geeignet ist, Sympathien zu erwecken. Mit einem Wort: ehe wir unser öffentliches und privates Leben nicht sehr gründlich säubern, werden wir keine Aussicht haben, Anschluß zu finden an eine Welt, ohne die wir nicht leben können, und die jetzt unser Treiben weit befremdeter betrachtet, als wir es in unseren kritischsten Stunden tun.
Denn uns fehlt der kritische Blick für uns selbst. Wenn einer Nation eine bitterlich harte Aufgabe zufällt, so ist es die, eine Niederlage mit Anstand zu tragen. Gelingt das, so sind schon die allerschlimmsten Folgen paralysiert, und die Bürgschaft neuen Aufstiegs ist gegeben. Wo aber ist bei uns Haltung zu finden? Beträchtliche Teile des deutschen Volkes wollen noch nicht einmal die Tatsache der Niederlage gelten lassen. Bestreiten den militärischen Zusammenbruch. Behaupten, es wäre ganz gut möglich gewesen, den Krieg weiterzuführen. Mit Erfolg weiterzuführen. Es ist aber weder ehrlich, noch dem Vaterlande dienlich, eine unabweisbare Tatsache mit Phrasen wegoperieren zu wollen und diejenigen mit allen Mitteln zu bekämpfen, die unter der Macht dieser Tatsache die Konsequenzen gezogen haben. Gewiß ist es wenig erquicklich, immer wieder auf die Dolchstoßlegende zurückkommen zu müssen. Aber unsere Reaktion, der ärgste Hemmschuh einer vernünftigen Neugestaltung, lebt von zwei höchst anfechtbaren, dennoch auf primitive Gemüter höchst eindrucksvollen Behauptungen: 1. die deutschen Machthaber von 1914 seien am Ausbruche des Krieges absolut unschuldig, 2. der Krieg sei im Oktober 1918 nicht verloren gewesen, die Auflösung der Armee sei auf verhängnisvolle Einflüsse von seiten der Heimat zurückzuführen. Es ist bedauerlich, daß diese beiden Behauptungen bisher von den Linksparteien noch nicht in ihrer vollen Gefährlichkeit erfaßt wurden, daß es bei den Demokraten wie bei den Sozialisten eigentlich nur einzelne Persönlichkeiten sind, die mit ihrer ganzen Energie diese Spiegelfechtereien bekämpfen. Und doch braucht über die Bedeutung solcher Legenden kein Wort verloren zu werden: sie sollen das alte System rechtfertigen, sie sollen die Monarchie und ihre Ratgeber reinwaschen, für schuldlos erklären, am Krieg wie am Zusammenbruch. Damit aber wird der neuen Staatsform, die doch gerade eine Folge dieses Zusammenbruches war, der Boden unter den Füßen fortgezogen.
Wir sagten zu Eingang, daß alle kriegführenden Staaten noch unter den bösen Geistern zu leiden haben, denen sie selber den Weg freigegeben haben. In Deutschland hat, das wissen wir heute alle, die vielberühmte deutsche Organisation miserabel funktioniert, nur eins hat glänzend geklappt: die Kriegspropaganda! Und die war so intensiv, daß ihre Wirkungen noch heute schauderhaft lebendig sind und gar nicht wenige unserer Landsleute in einer geistigen Verfassung leben, die aufs Haar der von 1915 entspricht. Es will den Leuten nicht in den Kopf, daß etliches seitdem sich geändert hat, daß das Ludendorffsche Ingenium an Reservearmeen flügellahm wurde, die nur auf den für das geduldige deutsche Publikum bestimmten Papieren der O.H.L. eskamotiert werden konnten. Daß wir heute kaum mehr einen Torso der alten Armee unser eigen nennen dürfen. Daß von Sühne und Wiedergutmachung die Rede ist für Dinge, die ein allzu gefälliger Pressedienst zweimal täglich ignoriert oder als windige Bagatellen dargestellt hat. Das alles erscheint wie etwas Unwirkliches und die Versailler Quittung auf vier Jahre Torheit wie ein übler Traum nach schlecht verdauter Mahlzeit. So hat die Parforcepropaganda nicht nur während des Krieges das politische Urteilsvermögen getrübt und einen glimpflichen Abschluß verhindert – wir alle, auch die wir zur Opposition gehörten, seien wir ehrlich, liefen mit dem Wahnbild der »Kriegskarte« im Kopfe herum –, nein, in ihren letzten Ausstrahlungen stellt sie auch noch die junge Republik in Frage. Wenn aber ein besiegtes Volk leben will, dann muß es der Wirklichkeit ins Auge blicken, muß es prüfen, warum es unterlag. Was aber soll man von den vielen Deutschen sagen, die heute noch steif leugnen, daß Deutschland überhaupt die Bataille verloren habe?
Es darf keine Entschuldigung sein, daß auch die Politik der Alliierten nicht mit Weisheit befrachtet ist. Frankreich, das am meisten gelitten hat und dessen Gefühle deshalb auch am ehesten verständlich sind, verhärtet sich in einer Unzugänglichkeit, die sachte karikaturistische Linien annimmt. Amerika hat an Europa den Spaß verloren, Italien ärgert sich über Frankreich, und England spielt der stolzen Nation der Jeanne d'Arc gegenüber immer mehr die Rolle des fürsorglichen Krankenwärters, der sorgfältig aufpaßt, daß der Patient nicht in unbewachtem Augenblick aus dem Fenster springt. Fazit: die Entente ist rissig und brüchig geworden. Wie reagiert man in Deutschland darauf? Zur einen Hälfte mit Sentimentalitäten, zur anderen Drohungen, mit Verheißungen künftiger Rache. Das erste ist töricht und unfruchtbar, das zweite verbrecherisch. Denn ein besseres Mittel zur neuerlichen Zusammenschweißung der Entente als die Drohung mit einer Renaissance des alten deutschen Militarismus gibt es überhaupt nicht. Solange der Revanchefimmel sich hemmungslos in Presse und Versammlungslokal auslassen darf, wird die Isolierung Deutschlands fortbestehen. Es liegt uns fern, an das »gute Herz« der Ententepolitiker zu appellieren oder unsere Ungefährlichkeit schmalzig zu betonen oder dergleichen Harmlosigkeiten mehr zu verüben, über die drüben mit leichtem Lächeln quittiert wird, sintemalen auch außerhalb der deutschen Grenzpfähle das Wort »Orgesch« nicht zu den unbekannten gehört, nein, wir müssen eine andere Sprache reden, wenn wir überzeugen wollen – wir müssen überzeugen durch den Willen zur Sauberkeit! Die deutsche Demokratie hat arm begonnen und wird es auch für lange Zeit noch sein, aber sie soll ihre Armut mit Anstand tragen. Dann wird sich auch die Achtung, die uns heute in der Welt noch fehlt, wieder einstellen.
Es fehlt uns an Achtung. Eine Staatsform, die wirklich aus dem Willen des Volkes geboren wurde und sich trotzdem tagtäglich von verbissenen und verbohrten Minoritäten besudeln läßt, ohne im Ernst den Mut zur Abwehr zu finden, kann unmöglich estimiert werden. Man macht nicht gern Geschäfte mit einer Republik, von der man glaubt, sie könnte über Nacht aufhören, es zu sein. Und wenn führende Royalisten ausgerechnet die wenig ruhmvolle Affäre der Firma Grußer, Zollernsohn u. Co. zur Gelegenheit nehmen, um ein glühendes Bekenntnis zu dem vor zwei Jahren fortgestammten Herrscherhause abzulegen, so muß das im Auslande wirklich den Eindruck erwecken, man sei in Deutschland rettungslos der Idiotie verfallen, daß man selbst im Parlament mit derartig kläglichen Argumenten kommen kann. Das sind Dinge, die einfach verheerend wirken. Und man wird auch nicht aufgeregt durch die Hilferufe eines Volkes, das immer wieder versichert, eine Beute des Hungers werden zu müssen, wenn es tatenlos duldet, daß ein schändliches Parasitentum sich mästen darf auf Kosten aller. Wir rufen es in die Welt hinaus: »Laßt unsere Kinder nicht verhungern!«, aber wir sind nicht in der Lage, wohlwollenden Ausländern eine deutsche Großstadt zu zeigen, ohne erröten zu müssen. Geschäft ist alles! Auf diesem Trümmerhaufen sucht jeder sich noch schnell die Taschen vollzustopfen, und das Elend der Gesamtheit wird zur günstigen Konjunktur für den einzelnen.
Wir Deutschen haben, wie jedes andere Volk, ein Recht auf nationales Eigenleben und nationale Freiheit. Wir wollen nicht von hingeworfenen Brosamen unser Dasein fristen und nicht die Stipendiaten Neutraliens sein. Aber aus dem jetzigen Elend kommen wir nur heraus, wenn wir den Weg zur Sauberkeit finden, wenn wir im großen und kleinen wieder beginnen, ehrlich zu werden. Dann werden wir mit Recht wieder fordern dürfen, daß man uns hört. Aber wir können nicht an das Gewissen der Welt appellieren, wenn unser eigenes Gewissen schläft.
Berliner Volks-Zeitung, 1. Dezember 1920