Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Nro. 64: Mondmilch vom Pilatusberg

Brief – Nachtwandler – Traum

Vult war, sobald er Walts überkühne Liebe gegen Wina und deren Begünstigung, so wie seine eigne Niederlage, sich recht nah' vor die eignen Augen gehoben hatte, nach Hause geeilt, mit einer Brust, worin die wilden Wasser aller Leidenschaften brausten, um sogleich an Walt so zu schreiben:
 

»Nur die Lächerlichkeit fehlte noch, wenn ich dirs lange verdächte, daß dein sogenanntes Herz nun auch endlich den Herzpolypen, den ihr Liebe nennt, in sich angesetzt, wenn gleich manches dabei so wenig das Beste ist als dein künstliches Verstecken vor mir. Das aber nimmst du mir jetzt nicht übel, daß ich zum Teufel gehe und dich allein deinem Engel ablasse, da der Liebe die Freundschaft so entbehrlich und unähnlich ist als dem Rosenöl der Rosenessig. Halte denn deinen geistigen Schar- und sonstigen Bock aus, bis du auf grünes Land aussteigst und auf der Stelle genesest, die schwerlich auf der Freundschaftsinsel ist. Himmel! zu was waren wir denn beide überhaupt beisammen und ritten, wie alte Ritter, auf einem Trauer- und Folter-Pferd (equuleus) oder Folteresel? – Etwa dazu, daß ich auf dem Wege und zum Besten deiner Erbschaft dich und dein Pferd lenkte und hielte und keinen von euch steigen oder fallen ließ? – Nun, die sieben Erben wissen, ob ich ihnen geschadet. Überhaupt, was sind denn die irrenden Menschen anders als Himmelskörper auf Erden, bei deren täglichen und jährlichen Aberrationen und Nutationen man nichts machen kann als bloß den guten Zach dabei, nämlich die Zachischen Tafeln davon? Ebenso hättest du dich auch sonst hintergangen, wenn du dir geschmeichelt hättest, ich würde dich sonderlich ausbilden und ausprägen mit meinem Münzkopf. Ich lasse dich, wie du warst, und gehe, wie ich kam. Auch du hast mich nicht merklich umgemünzt, so daß ich leicht schließe, du bist der – so wahren – Meinung, es sei im Geisterreich, so wie im Körperreich – man trage das Fuhrmannshemde sowohl auf Redouten als auf Chausseen – das Spurfahren verderblich.

Morgen bin ich in die freie Welt hinausgezogen. Der nahe Frühling ruft mich schon ins weite helle Leben. Spielgeld, das meine Schulden bezahlt, liegt bei; – und somit guten Tag. Fällt und klagt mich jemand an, Bruder, so verficht mich nicht; wahrlich, sobald man mich haßt, so frag' ich wenig darnach, ob man mich um drei Stufen stärker hasse oder nicht; und wie viele Menschen verdienen es denn überhaupt, daß man sich von ihnen lieben lässet? Mich ausgenommen, nicht zwei, und kaum.

Wir beide waren uns einander ganz aufgetan, so wie zugetan ohnehin; uns so durchsichtig wie eine Glastür; aber, Bruder, vergebens schreibe ich außen ans Glas meinen Charakter mit leserlichen Charakteren: du kannst doch innen, weil sie umgekehrt erscheinen, nichts lesen und sehen als das Umgekehrte. Und so bekommt die ganze Welt fast immer sehr lesbare, aber umgekehrte Schrift zu lesen.

Wozu sollen wir denn miteinander und voneinander Plagen haben? Du, als liebender Dichter, als dichtender Liebhaber, hältst deine künftigen so leicht aus als ein Vogel das Erdbeben – und ich meine so leicht als eine Winterlandschaft den Hagel. Aber warum war ich so dumm und trank täglich eine Flasche Burgunder weniger, ja oft zwei? Du bezahltest mirs nicht, daß ich nichts trank, und ich nicht einmal, wenn ich etwas trank. Oder glaubst du, daß ein Mann, der seine Flöte bläset, der mehr Welt hat, sah und genoß als alle seine Anverwandten, der in Paris und Warschau abends um 1 Uhr, nach Mitternacht, seine Tasse Suppe trank und seinen Löffel Eis speiste, so leicht sein Paris und Warschau als du dein Haßlau und Elterlein in einer Neupeterschen Mansardstube opfert, die nicht einmal den Quadratinhalt eines Opferaltars groß ist? Ich aber glaube, ich war ein Cook, der Freundschafts- und Gesellschaftsinseln entdeckte und darunter die schöne Insel O-Waihi, welche aber den Entdecker und Weltumfahrer zuletzt, als er den Mastbaum wollte wieder zusammenschienen lassen, gar tot machte und auffraß.

Sogar meine Flöte ist dir entbehrlich, da du einmal (was du wohl vergessen) eine Hoboe für eine Flöte angesehen, nämlich angehört. Und da dir, wie du sagst, überall die höchsten Töne am meisten gefallen: so wirst du immer musikalisch-glücklich bleiben, weil in der Tat alle Schrei-, Miß- und Zorn-Töne, die den Ohren auf Gassen begegnen, stets hohe und höchste sind.

Meine Gedanken werfen sich so wild umher wie Granitblöcke; aber ich schreibe hier im Finstern bei hellem Sternenlicht; ich habe keine Zeit – die Post ist bestellt – nichts noch eingepackt; und du sollst nicht eher von meinem Unsichtbarwerden wissen als nach ihm. Mit Briefen, die ich dir, hoff' ich, schicke, sollen dir gar die wenigen Ausschweifungen zukommen, die unserem Hoppelpoppel noch fehlen, wenn er als fest zusammengeleimter und langgeschwänzter Papierdrache aufsteigen will in Leipzig in der Zahlwoche.

Gehabe dich wohl, du bist nicht zu ändern, ich nicht zu bessern; so wollen wir einander denn in wechselseitiger Luftperspektive entlegen erblicken, und jeder von uns sage: ›Warum warst du ein Narr und kein Lamm?‹ Und doch, Walt, bist du allein an allem schuld.«

*

Als er eben in das Papier noch den zweiten Inhalt, das Geld, gelegt hatte – und eilte, um noch vorher sein Tagebuch, seine Noten und Notae und alles vorher für die Post zugesperret zu haben, bevor der Bruder erscheine: hörte er ihn kommen. Er warf sich vor dessen Eintreten aufs Bett und schnarchte als Fuhrbergmann ihm entgegen. Walt trat nahe an ihn, sah als Spes ins braunglühende Gesicht voll stürmischer Träume. Leise ging er umher, hauchte sich Tanzmelodien vor und legte als Text Liebesworte unter.

Zuletzt richtete sich Vult – von diesem windstillen und hohen Himmel wie geärgert – auf, trat mit zugeschloßnen Augen im Zimmer umher und stellte sich als Nachtwandler an, um in solcher Rolle ungefragt einzupacken, und sobald jener schliefe, unbedauert fortzugehen. »He da«, rief er, »her, ihr Leute, und was es noch sonst für Spitzbuben gibt, helft packen, Bestien, und schleppen! Greift mehr zu, ihr Helfershelfer! Soll ich denn nicht heute um 3 Uhr nach der Spitzbubeninsel, und unten steht schon mein Pferd gesattelt, wie?« Dabei zog er sich an. Walt begleitete seine blinden Schritte bewachend. »Allerdings, Freund, taugen die Menschen und die Gurken nichts, sobald sie reif sind; das ist ja mein eigner Satz. Der Mensch im allgemeinen verdient viele Nasen von Gott und mehrere Nasen, als sich je durch einen alten Theatervorhang gesteckt haben, den man daher an manchen Orten in Blech einfaßte. Die Gründe sind freilich nicht jedem geläufig.«

Jetzt ging er in seinen Zimmerverschlag und packte, blinzelnd und sich oft von Walt abkehrend, sein Tagebuch und alles in den Koffer. »Auf der Flöte? – Nein, sondern auf dem Kamm will ich ihn künftig anblasen und abkämmen. Sagen Sie mir nichts von Liebe, Herr Reisemarschall, sie ist zu dumm, eine hübsche Antike, die man den ganzen Tag ergänzen muß – ein Sonnentempel in Hosentaschenformat – und das dumme Ding glaubt, es lebe. Ich hab' es von ihr selber. Der Mensch führt sogar Gott vor einen Vergrößerungsspiegel, so unersättlich und so einfältig ist er – Stecht mich in Kupfer, wie einen britischen Kampfhahn, ich will eben ein Monatskupfer zum Wolfsmonat abgeben, liebster Artilleriesekretär!« Als er fertig war und bloß den Koffer zuzusperren brauchte, schien er nachzusinnen und auf eine neue Idee zu geraten. »Scher' Er sich weg, Leichenmarschall, ich sperre meinen Sarg schon selber zu und will auch den Schlüssel als Hals-Gehenke tragen und niemand hineinlassen als einen oder den andern guten Freund. Was die ganze und halbe Trauer um mich anlangt, so soll sie niemand anlegen als ich. Musik wird als Requiem während der Trauerzeit am wenigsten verboten, aber ich bestehe auf einem scharfen Trauer-Reglement. Der Nachtstuhl muß schwarz ausgeschlagen werden – man lasse das Kammergeschirr wie den Degen stahlblau anlaufen; – jede Maus in meinem Haus soll in Krepp gehen – meine Papillotten können Trauerschneppen sein und der Zopf in einer Trauerschleppe herabfallen. Aber was Henker ist das? Dort steh' ich ja leibhaftig und erscheine mir eigenhändig. – Warte, wir wollen gleich finden, wer von uns beiden wahren Du's der wahre und haltbarste ist.«

Hier versetzte er sich und dem Notar zugleich einen derben Schlag und erwachte davon; erst nachdem er wie verdutzt sich von Walten lange auseinandersetzen lassen, wo und was er sei, wurde er dahin gebracht, sich angekleidet aufs Bett zu werfen. Indem beide einander eine Zeit lang bewachten, fielen beide in einen wahren Schlaf.


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