Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Nro. 3: Terra miraculosa Saxoniae

Die Akzessit-Erben – der schwedische Pfarrer

Nach Ablesung des Testaments verwunderten sich die sieben Erben unbeschreiblich auf sieben Weisen im Gesicht. Viele sagten gar nichts. Alle fragten, wer von ihnen den jungen Burschen kenne, ausgenommen der Hoffiskal Knoll, der selber gefragt wurde, weil er in Elterlein Gerichtshalter eines polnischen Generals war. »Es sei nichts Besonderes am jungen Haeredipeta,« versetzte Knoll, »sein Vater aber wollte den Juristen spielen und sei ihm und der Welt schuldig.« – Vergeblich umrangen die Erben den einsylbigen Fiskal, ebenso Rats- als neubegierig.

Er erbat sich vom Gerichte eine Kopie des Testaments und Inventars, andere vornehme Erben wandten gleichfalls die Kopialien auf. Der Bürgermeister erklärte den Erben, man werde den jungen Menschen und seinen Vater auf den Sonnabend vorbescheiden. Knoll erwiderte: »da er übermorgen, das heißet den 13ten hujus, nämlich Donnerstags, in Gerichts-Geschäften nach seiner Gerichtshalterei Elterlein gehe: so sei er imstande, dem jungen Peter Gottwalt Harnisch die Zitation zu insinuieren.« Es wurde bewilligt.

Jetzt suchte der Kirchenrat Glanz nur auf eine kurze Lese-Minute um das Blättchen nach, worauf Harnisch den Wunsch einer schwedischen Pfarrei sollte ausgemalet haben. Er bekams. Drei Schritte hinter ihm stand der Buchhändler Paßvogel und las schnell die Seite zweimal herunter, eh' sie der Kirchenrat umkehrte; zuletzt stellten sich alle Erben hinter ihn, er sah sich um und sagte, es sei wohl besser, wenn ers gar vorlese:

Das Glück eines schwedischen Pfarrers

So will ich mir denn diese Wonne ohne allen Rückhalt recht groß hermalen und mich selber unter dem Pfarrer meinen, damit mich die Schilderung, wenn ich sie nach einem Jahre wieder überlese, ganz besonders auswärme. Schon ein Pfarrer an sich ist selig, geschweige in Schweden. Er genießet da Sommer und Winter rein, ohne lange verdrüßliche Unterbrechungen; z.B. in seinen späten Frühling fällt statt des Nachwinters sogleich der ganze reife Vorsommer ein, weißrot und blütenschwer, so daß man in einer Sommernacht das halbe Italien, und in einer Winternacht die halbe zweite Welt haben kann.

Ich will aber bei dem Winter anfangen und das Christfest nehmen.

Der Pfarrer, der aus Deutschland, aus Haßlau in ein sehr nördlich-polarisches Dörflein voziert worden, steht heiter um 7 Uhr auf und brennt bis 9½ Uhr sein dünnes Licht. Noch um 9 Uhr scheinen Sterne, der helle Mond noch länger. Aber dieses Hereinlangen des Sternen-Himmels in den Vormittag gibt ihm liebe Empfindungen, weil er ein Deutscher ist und über einen gestirnten Vormittag erstaunt. Ich sehe den Pfarrer und andere Kirchengänger mit Laternen in die Kirche gehen; die vielen Lichterchen machen die Gemeinde zu einer Familie und setzen den Pfarrer in seine Kinderjahre, in die Winterstunden und Weihnachtsmetten zurück, wo jeder sein Lichtchen mit hatte. Auf der Kanzel sagt er seinen lieben Zuhörern lauter Sachen vor, deren Worte gerade so in der Bibel stehen; vor Gott bleibt doch keine Vernunft vernünftig, aber wohl ein redliches Gemüt. Darauf teilt er mit heimlicher Freude über die Gelegenheit, jeder Person so nahe ins Gesicht zu sehen und ihr wie einem Kinde Trank und Speise einzugeben, das heilige Nachtmahl aus und genießet es jeden Sonntag selber mit, weil er sich nach dem nahen Liebesmahl in den Händen ja sehnen muß. Ich glaube, es müßt' ihm erlaubt sein.
 

(Hier sah der Kirchenrat mit einem fragenden Rüge-Blick unter den Zuhörern umher, und Flachs nickte mit dem Kopfe; er hatte aber wenig vernommen, sondern nur an sein Haus gedacht.)
 

Wenn er dann mit den Seinigen aus der Kirche tritt, geht gerade die helle Christ- und Morgensonne auf und leuchtet ihnen allen ins Gesicht entgegen. Die vielen schwedischen Greise werden ordentlich jung vom Sonnenrot gefärbt. Der Pfarrer könnte dann, wenn er auf die tote Mutter-Erde und den Gottesacker hinsähe, worin die Blumen wie die Menschen begraben liegen, wohl diesen Polymeter dichten:

»Auf der toten Mutter ruhen die toten Kinder in dunkler Stille. Endlich erscheint die ewige Sonne, und die Mutter steht wieder blühend auf, aber später alle ihre Kinder.«

Zu Hause letzt ihn ein warmes Museum samt einem langen Sonnenstreif an der Bücherwand.

Den Nachmittag verbringt er schön, weil er vor einem ganzen Blumen-Gestelle von Freuden kaum weiß, wo er anhalten soll. Ists am heiligen Christfest, so predigt er wieder, vom schönen Morgenlande oder von der Ewigkeit; dabei wirds ganz dämmernd im Tempel; nur zwei Altar-Kerzen werfen wunderbare lange Schatten umher durch die Kirche; der oben herabhängende Taufengel belebt sich ordentlich und fliegt beinahe; draußen scheinen die Sterne oder der Mond herein – der feurige Pfarrer oben im Finstern auf seiner Kanzel bekümmert sich nun um nichts, sondern donnert aus der Nacht herab, mit Tränen und Stürmen, von Welten und Himmeln und allem, was Brust und Herz gewaltig bewegt.

Kommt er flammend herunter: so kann er um 4 Uhr vielleicht schon unter einem am Himmel wallenden Nordschein spazieren gehen, der für ihn gewiß eine aus dem ewigen Südmorgen herüberschlagende Aurora ist, oder ein Wald aus heiligen feurigen Mosis-Büschen um Gottes Thron.

Ists ein anderer Nachmittag, so fahren Gäste mit erwachsenen Töchtern von Betragen an; wie die große Welt diniert er mit ihnen bei Sonnenuntergang um 2 Uhr und trinkt den Kaffee bei Mondschein; das ganze Pfarrhaus ist ein dämmernder Zauberpalast. – Oder er geht auch hinüber zum Schulmeister in die Nachmittagsschule und hat alle Kinder seiner Pfarrkinder gleichsam als Enkel bei Licht um sein Großvater-Knie und ergötzet und belehret sie. –

Ist aber das alles nicht: so kann er ja schon von drei Uhr an in der warmen Dämmerung durch den starken Mondschein in der Stube auf und ab waten und etwas Orangenzucker dazu beißen, um das schöne Welschland mit seinen Gärten auf die Zunge und vor alle Sinne zu bekommen. Kann er nicht bei dem Monde denken, daß dieselbe Silberscheibe jetzt in Italien zwischen Lorbeer-Bäumen hänge? Kann er nicht erwägen, daß die Äolsharfe und die Lerche und die ganze Musik und die Sterne und die Kinder in heißen und kalten Ländern dieselben sind? Wenn nun gar die reitende Post, die aus Italien kommt, durchs Dorf bläset und ihm auf wenigen Tönen blumige Länder an das gefrorne Museums-Fenster hebt; wenn er alte Rosen- und Lilienblätter aus dem vorigen Sommer in die Hand nimmt, wohl auch eine geschenkte Schwanzfeder von einem Paradiesvogel; wenn dabei die prächtigen Klänge Salatzeit, Kirschenzeit, Trinitatissonntage, Rosenblüte, Marientage das Herz anrühren: so wird er kaum mehr wissen, daß er in Schweden ist, wenn Licht gebracht wird und er verdutzt die fremde Stube ansieht. Will ers noch weiter treiben, so kann er sich daran ein Wachskerzchen-Endchen anzünden, um den ganzen Abend in die große Welt hineinzusehen, aus der ers herhat. Denn ich sollte glauben, daß am Stockholmer Hofe, wie anderwärts, von den Hofbedienten Endchen von Wachskerzen, die auf Silber gebrannt hatten, für Geld zu haben wären.

Aber nun nach Verlaufe eines halben Jahres klopft auf einmal etwas Schöners als Italien, wo die Sonne viel früher als in Haßlau untergeht, nämlich der herrlich beladne längste Tag an seine Brust an und hält die Morgenröte voll Lerchengesang schon um 1 Uhr nachts in der Hand. Ein wenig vor 2 Uhr oder Sonnenaufgang trifft die oben gedachte niedliche bunte Reihe im Pfarrhause ein, weil sie mit dem Pfarrer eine kleine Lustreise vorhat. Sie ziehen nach 2 Uhr, wenn alle Blumen blitzen und die Wälder schimmern. Die warme Sonne droht kein Gewitter und keinen Platzregen, weil beide selten sind in Schweden. Der Pfarrer geht so gut in schwedischer Tracht einher wie jeder – er trägt sein kurzes Wams mit breiter Schärpe, sein kurzes Mäntelchen darüber, seinen Rundhut mit wehenden Federn und Schuhe mit hellen Bändern; – natürlich sieht er, wie die andern auch, wie ein spanischer Ritter, wie ein Provenzale oder sonst ein südlicher Mensch aus, zumal da er und die muntere Gesellschaft durch die in wenigen Wochen aus Beeten und Ästen hervorgezogne hohe Blüten- und Blätterfülle fliegen.

Daß ein solcher längster Tag noch kürzer als ein kürzester verfliege, ist leicht zu denken, bei so viel Sonne, Äther, Blüte und Muße. Schon nach 8 Uhr abends bricht die Gesellschaft auf – die Sonne brennt sanfter über den halbgeschlossenen schläfrigen Blumen – um 9 Uhr hat sie ihre Strahlen abgenommen und badet nackt im Blau – gegen 10 Uhr, wo die Gesellschaft im Pfarrdorfe wieder ankommt, wird der Pfarrer seltsam bewegt und weich gemacht, weil im Dorfe, obgleich die tiefe laue Sonne noch ein müdes Rot um die Häuser und an die Scheiben legt, alles schon still und in tiefem Schlafe liegt, so wie auch die Vögel in den gelb-dämmernden Gipfeln schlummern, bis zuletzt die Sonne selber, wie ein Mond, einsam untergeht in der Stille der Welt. Dem romantisch bekleideten Pfarrer ist, als sei jetzt ein rosenfarbnes Reich aufgetan, worin Feen und Geister herumgehen, und ihn würd' es wenig wundern, wenn in dieser goldnen Geisterstunde auf einmal sein in der Kindheit entlaufner Bruder heranträte, wie vom blühenden Zauber-Himmel gefallen.

Der Pfarrer lässet aber seine Reisegesellschaft nicht fort, er hält sie im Pfarrgarten fest, wo jeder, wer will, sagt' er, in schönen Lauben die kurze laue Stunde bis zu Sonnen-Aufgang verschlummern kann.

Es wird allgemein angenommen und der Garten besetzt; manches schöne Paar tut vielleicht nur, als schlaf' es, hält sich aber wirklich an der Hand. Der glückliche Pfarrer geht einsam in den Beeten auf und ab. Kühle und wenige Sterne kommen. Seine Nachtviolen und Levkoien tun sich auf und duften stark, so hell es auch ist. In Norden raucht vom ewigen Morgen des Pols eine goldhelle Dämmerung auf. Der Pfarrer denkt an sein fernes Kindheitsdörfchen und an das Leben und Sehnen der Menschen und wird still und voll genug. Da greift die frische Morgen-Sonne wieder in die Welt. Mancher, der sie mit der Abend-Sonne vermengen will, tut die Augen wieder zu; aber die Lerchen erklären alles und wecken die Lauben.

Dann geht Lust und Morgen gewaltig wieder an; – – und es fehlt wenig, so schilder' ich mir diesen Tag ebenfalls, ob er gleich vom vorigen vielleicht um kein Blütenblatt verschieden ist.

*


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