Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Nro. 7: Violenstein

Kindheits-Dörfchen – der große Mann

Vult van der Harnisch reisete aus der Haßlauer Vorstadt nach Elterlein aus, als die halbe Sonne noch frisch und waagrecht über die tauige Fluren-Welt hinblitzte. Die Sonne war aus den Zwillingen in den Krebs getreten; er fand Ähnlichkeiten und dachte, er sei unter den vieren der Zwilling, der am stärksten glühe, desgleichen der zweite Krebs. In der Tat hatte schon in der Bergstadt Elterlein bei Annaberg seine Sehnsucht nach dem gleichnamigen Geburtsdorf angefangen und zugenommen auf allen Gassen; schon ein gleichnamiger Mensch, wie vielmehr ein gleichnamiger Ort drängt sich warm ins Herz. Auf der lebendigen Haßlauer Straße – die ein verlängerter Markt schien – nahm er seine Flöte heraus und warf allen Passagiers durch Flötenansätze Konzertansätze entgegen und nach, schnappte aber häufig in guten Koloraturen und in bösen Dissonanzen ab und suchte sein Schnupftuch, oder sah sich ruhig um. Die Landschaft stieg bald rüstig auf und ab, bald zerlief sie in ein breites ebenes Grasmeer, worin Kornfluren und Raine die Wellen vorstellten und Baumklumpen die Schiffe. Rechts in Osten lief wie eine hohe Nebelküste die ferne Bergkette von Pestitz mit, links in Abend floß die Welt eben hinab, gleichsam den Abendröten nach.

Da Vult erst nachts anzulangen brauchte, so hielt er sich überall auf. Seine Sanduhr der Julius-Tagszeiten waren die gemähten Wiesen, eine Linnäische Blumenuhr aus Gras: stehendes zeigte auf 4 Uhr morgens – liegendes auf 5 bis 7 – zusammengeharkte Ameishaufen daraus auf 10 Uhr – Hügel aus Heu auf 3 – Berge auf den Abend. Aber er sah auf dieses Zifferblatt der Arbeits-Idylle an diesem Tage zum erstenmal; so sehr hatten bisher die langen Fußreisen das übersättigte Auge blind gemacht.

Eben da der Hügel in dieser Sanduhr am höchsten anlief: so zogen sich die Kirsch- und Apfelbäume wie die Abend-Schatten lang dahin – runde grüne Obstfolgen wurden häufiger – in einem Tale lief schon als dunkle Linie das Bächlein, das durch Elterlein hüpft – vor ihm grünte auf einem Hügel, von der Abendsonne golden durchschlagen, das runde dünne Fichten-Gehölz, woraus die Bretter seiner Wiege geschnitten waren, und worin man oben gerade in das Dorf hinuntersah.

Er lief ins Gehölz und dessen schwimmendes Sonnen-Gold hinein, für ihn eine Kinder-Aurora. Jetzt schlug die wohlbekannte kleinliche Dorfglocke aus, und der Stundenton fuhr so tief in die Zeit und in seine Seele hinunter, daß ihm war, als sei er ein Knabe, und jetzt sei Feierabend; und noch schöner läuteten ihn die Viehglocken in ein Rosenfest.

Die einzelnen rotweißen Häuser schwankten durch die besonnten Baumstämme. Endlich sah er draußen das traute Elterlein dem Hügel zu Füßen liegen – ihm gegenüber standen die Glocken des weißen Schieferturms und die Fahne des Maienbaums und das hohe Schloß auf dem runden Wall voll Bäume – unten liefen die Poststraße und der Bach breit durchs offne Dorf – auf beiden Seiten standen die Häuser einzeln, jedes mit seiner Ehrenwache von Fruchtstämmen – um das Dörfchen schlang sich ein Lustlager von Heu-Hügeln wie von Zelten und von Wagen und Leuten herum, und über dasselbe hinaus brannten fettgelbe Rübsenflächen für Bienen und Öl heiter dem Auge entgegen.

Als er von diesem Grenzhügel des gelobten Kinderlandes hinunterstieg, hört' er hinter den Stauden in einer Wiese eine bekannte Stimme sagen: »Leute, Leute, sponselt doch euer Vieh; hab' ichs nicht schon so Millionenmal anbefohlen? – Bube, sage zu Hause, der Gerichtsmann hat gesagt, morgen wird ungesäumt mit zwei Mann gefront, auf der Klosterwiese.« Es war sein Vater; der mattäugige, schmächtige, bleichfarbige Mann (in dessen Gesicht der warme Heu-Tag noch einige weiße Farbenkörner mehr gesäet) schritt mit einer leuchtenden Sense auf der Achsel aus den Rainen in die Straße herein. Vult mußte umblicken, um nicht erblickt zu werden, und ließ den Vater voraus. Dann fiel er ihm mit einigen klingenden Paradiesen der Flöte, und zwar – weil er wußte, wie ihm Chorale schmeckten – mit diesen in den Rücken.

Lukas schritt noch träger fort, um länger zurückzuhören – und die ganze Welt war hübsch. Braune Dirnen mit schwarzen Augen und weißen Zähnen setzten die Grassicheln an die Augenbraunen, um den vorbeipfeifenden Studenten ungeblendet zu sehen – die Viehhirtinnen zogen mit ihren Wandel-Glöckchen auf beiden Seiten mit – Lukas schneuzte sich, weil ihn der Choral bewegte, und sah ein ungesponseltes Weide-Pferd nur ernsthaft an – aus den Schornsteinen des Schlosses und Pfarrhauses und des väterlichen hoben sich vergoldete Rauchsäulen ins windstille kühle Blau –

Und so kam Vult ins überschattete Elterlein hinab, wo er das närrische verhüllte träumende Ding, das bekannte Leben, den langen Traum, angehoben und wo er im Bette zu diesem Traum, weil er erst ein kurzer Knabe war, sich noch nicht hatte zu krümmen gebraucht.

Im Dorfe war das Alte das Alte. Das große Haus der Eltern stand jenseits des Bachs unverändert mit der weißen Jahrszahl 1784 auf dem Dach-Schiefer da. – Er lehnte sich mit dem Flötenliede: »Wer nur den lieben Gott läßt walten« an den glatten Maienbaum und blies ins Gebetläuten hinein. Der Vater ging, sehr langsam unter dem Scheine des Umsehens, über den Bachsteg in sein Haus und henkte die Sense an den hölzernen Pflock an der Treppe. Die rüstige Mutter trat aus der Türe in einem Manns-Wamse und schüttete, ohne aufs Flöten zu hören, das abgeblattete Unkraut des Salats aus einem Scheffel, und beide sagten zueinander – wie Land-Gatten pflegen – nichts.

Vult ging ins nachbarliche Wirtshaus. Von dem Wirte erfuhr er, daß der Pfalzgraf Knoll mit dem jungen Harnisch Felder beschaue, weil die Notariusmacherei erst abends angehe. »Trefflich,« dachte Vult, »so wirds immer dunkler, und ich stelle mich ans Backofen-Fenster und sehe ihrem Kreieren drinnen zu.« Der alte Lukas trat jetzt schon gepudert in einer großblumigen Damast-Weste an die Türe heraus und wetzte in Hemdärmeln an der Schwelle das Messer für das Souper des Notarius-Schöpfers ab. »Aber das Pürschlein solls auch nicht herausreißen«, setzte der Wirt hinzu, der ein Linker war; »der Alte hat mir seine schöne Branntweinsgerechtigkeit verkauft, und der Sohn hat von der Blase studiert. Aber lieber das Haus sollt' er weggeben, und zwar an einen gescheuten Schenkwirt; sapperment! dem würden Biergäste zufliegen, der Bierhahn wäre Hahn im Korbe, aber ganz natürlich. Denn die Stube hat zweierlei Grenzen, und man könnte darin zuprügeln und kontrebandieren und bliebe doch ein gedeckter Mann.« –

Vult nahm keinen so spaßhaften Anteil am Wirte, als er sonst getan hätte; er erstaunte ganz, daß er unter der Hand ordentlich in eine heftige Sehnsucht nach Eltern und Bruder, besonders nach der Mutter, hineingeraten war, »was doch«, sagt' er, »auf der ganzen Reise gar nicht mein Fall gewesen«. Es war ihm erwünscht, daß ihn der Wirt beim Ärmel ergriff, um ihm den Pfalzgrafen zu zeigen, der eben in des Schulzen Haus, aber ohne Gottwalt ging; Vult eilte aus seinem, um drüben alles zu sehen.

Draußen fand er das Dorf so voll Dämmerung, daß ihm war, als steck' er selber wieder in der helldunkeln Kinderzeit, und die ältesten Gefühle flatterten unter den Nachtschmetterlingen. Hart am Stege watete er durch den alten lieben Bach, worin er sonst breite Steine aufgezogen, um eine Grundel zu greifen. Er machte einen Bogen-Umweg durch ferne Bauernhöfe, um hinter den Gärten dem Hause in den Rücken zu kommen. Endlich kam er ans Backofenfenster und blickte in die breite zweiherrige Grenzstube – keine Seele war darin, die einer schreienden Grille ausgenommen, Türen und Fenster standen offen; aber alles war in den Stein der Ewigkeit gehauen: der rote Tisch, die roten Wandbänke, die runden Löffel in der hölzernen Wand-Leiste, um den Ofen das Trocken-Gerüste, der tiefe Stubenbalken mit herunterhängenden Kalendern und Herings-Köpfen, alles war über das Meer der langen Zeit, gut eingepackt, ganz und wie neu herübergeführt, auch die alte Dürftigkeit.

Er wollte am Fenster länger empfinden, als er über sich Leute hörte und am Apfelbaum den Lichtschimmer der obern Stube erblickte. Er lief auf den Baum, woran der Vater Treppe und Altan gebaut; und sah nun gerade in die Stube hinein und hatte das ganze Nest.

Darin sah er seine Mutter Veronika mit einer weißen Küchenschürze stehend, eine starke, etwas breite, gesund nachblühende Frau, das stille, scharfe, aber höfliche Weiberauge auf den Hoffiskal gelegt – dieser ruhig sitzend und an seinem breiten Kopfe das Nabel-Gehenke eines Pfeifenkopfes befestigend – der Vater gepudert und im heiligen Abendmahls-Rock unruhig laufend, halb aus achtender Angst vor dem großen eingefleischten corpus juris neben ihm, das gegen Fürsten und alle Welt gerade so keck war als er selber scheu, halb aus sorgender, das corpus nehm' es übel, daß Walt noch fehlte. Am Fenster, das dem Baum und Vulten am nächsten war, saß Goldine, eine bildschöne, aber bucklige Jüdin, auf ihr rotes Knäul niedersehend, woraus sie einen schafwollenen Rotstrumpf strickte; Veronika ernährte die blutarme, aber fein-geschickte Waise, weil Gottwalt sie ungemein liebte und lobte und sie einen kleinen Edelstein hieß, der Fassung brauchte, um nicht verloren zu gehen.

»Der Knecht ist nach dem Spitzbuben ausgeschickt«, versetzte Lukas, als der Fiskal unwillig erzählte, Walt habe nicht einmal seine eignen Felder, geschweige des sel. Van der Kabels seine ihm zu zeigen gewußt, sondern ihm einen Fronbauern Kabels dazu hergeholt und sei wie ein Grobian weggeblieben. Vom erfreulichen Testamente, sah Vult, hatte der Fiskal noch kein Wort gesagt.

Auf einmal fuhr Gottwalt in einem Schanzlooper herein, verbeugte sich eckig und eilig vor dem Fiskal und stand stumm da, und helle Freuden-Tränen liefen aus den blauen Augen über sein glühendes Gesicht.

»Was ist dir?« fragte die Mutter. »O meine liebe Mutter,« (sagt' er sanft) »gar nichts. Ich kann mich gleich examinieren lassen.«

– »Und dazu heulst du?« fragte Lukas. Jetzt stieg sein Auge und sein Ton: »Vater, ich habe«, sagte er, »heute einen großen Mann gesehen.« – »So?« versetzte Lukas kühl – »Und hast dich vom großen Kerl wamsen lassen und zudecken? Gut!«

»Ach Gott«, rief er; und wandte sich an die aufmerksame Goldine, um es so dem Examinator mit zu erzählen. Er hatte nämlich oben im Fichtenwäldchen eine haltende Kutsche gefunden und unweit davon am Waldhügel einen bejahrten Mann mit kranken Augen, der die schöne Gegend im Sonnenuntergange ansah. Gottwalt erkannte leicht zwischen dem Manne und dem Kupferstiche eines großen deutschen Schriftstellers – dessen deutscher Name hier bloß griechisch übersetzt werde, in den des Plato – die Ähnlichkeit. »Ich tat« – fuhr er feurig fort – »meinen Hut ab, sah ihn still immerfort an, bis ich vor Entzückung und Liebe weinen mußte. Hätt' er mich angefahren, so hätte ich doch mit seinem Bedienten über ihn viel gesprochen und gefragt. Aber er war ganz sanft und redete mit der süßesten Stimme mich an, ja, er fragte nach mir und meinem Leben, ihr Eltern; ich wollt', ich hätt' ein längeres gehabt, um es ihm aufzutun. Aber ich macht' es ganz kurz, um ihn mehr zu vernehmen. Worte, wie süße Bienen, flogen dann von seinen Blumen-Lippen, sie stachen mein Herz mit Amors Pfeilen wund, sie füllten wieder die Wunden mit Honig aus: O der Liebliche! Ich fühlt' es ordentlich, wie er Gott liebt und jedes Kind. Ach, ich möcht' ihn wohl heimlich sehen, wenn er betete, und auch, wenn er selber weinen müßte in einem großen Glück. – Ich fahre sogleich fort«, unterbrach sich Walt, weil er vor Rührung nicht fortfahren konnte; bezwang sie aber etwas leichter, als er umhersah und gar keine sonderliche Fremde fand.

»Er sagte« – fuhr er fort – »die besten Sachen. Gott, sagt' er, gibt in der Natur wie die Orakel die Antwort, eh die Frage getan ist – desgleichen, Goldine: was uns Schwefelregen der Strafe und Hölle deucht, offenbart sich zuletzt als bloßer gelber Blumenstaub eines zukünftigen Flors. Und einen sehr guten Ausspruch hab' ich ganz vergessen, weil ich meine Augen zu sehr auf seine richtete. Ja, da war die Welt rings umher voll Zauberspiegel gestellt, und überall stand eine Sonne, und auf der Erde gab es für mich keine Schmerzen als die seiner lieben Augen. Liebe Goldine, ich machte auf der Stelle, so begeistert war ich, den Polymeter: ›Doppelte Sterne erscheinen am Himmel als einer, aber o Einziger, du zergehest in einen ganzen Himmel voll Sterne.‹ Dann nahm er meine Hand mit seiner sehr weichen, zarten, und ich mußte ihm unser Dorf zeigen; da sagt' ich kühn den Polymeter: ›Sehet, wie sich alles schön verkehrt, die Sonne folgt der Sonnenblume.‹ Da sagt' er, das tue nur Gott gegen die Menschen, der sich mehr ihnen zuwende als sie ihm. Darauf ermunterte er mich zur Poesie, scherzte aber artig über ein gewisses Feuer, was ich mir auch morgen abgewöhne; Gefühle, sagt' er, sind Sterne, die bloß bei hellem Himmel leiten, aber die Vernunft ist eine Magnetnadel, die das Schiff noch ferner führt, wenn jene auch verborgen sind und nicht mehr leuchten. So mag gewiß der letzte Satz geheißen haben; denn ich hörte nur den ersten, weil es mich erschreckte, daß er an den Wagen ging und scheiden wollte.

Da sah er mich sehr freundlich an, gleichsam zum Troste, daß mir war, als klängen aus den Abendröten Flötentöne.« –

»Ich blies in die Röten hinein«, sagte Vult, war aber etwas bewegt.

»Ja endlich, glaubt mirs, Eltern, drückt' er mich an seine Brust und an den lieblichen Mund, und der Wagen rollte mit dem Himmlischen dahin.« – –

»Und« – fragte der alte Lukas, der bisher, zumal wegen Platos vornehmen Amtsnamen, jede Minute gewärtig gewesen, daß der Sohn einen beträchtlichen Beutel vorzöge, den ihm der große Mann in die Hand gedrückt – »er ist weggefahren und hat dir keinen Pfennig geschenkt?« – »O wie denn das, Vater?« fragte Walt. »Ihr kennt ja sein weiches Gemüt«, sagte die Mutter. »Ich kenne diesen Skribenten nicht«, sagte der Pfalzgraf; »aber ich dächte, statt solcher leerer Historien, die zu nichts führen, fingen wir einmal das Examen an, das ich anstellen muß, eh' ich jemand zum Notarius kreieren will.«

»Hier steh' ich«, sagte Walt, im Schanzlooper hin und von Goldinen weg fahrend, deren Hand er für ihre Teilnahme an seiner Seligkeit öffentlich genommen hatte.


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