Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Nach der Ablesung des Testaments begehrte Knoll nach der 11ten Klausel »Harnisch muß« einen Eid von ihm, nichts auf das Testament zu entlehnen. Kuhnold sagte, er sei nur »an Eides Statt« es zu geloben schuldig. »Ich kann ja zweierlei tun; denn es ist ja einerlei, Eid und an Eides Statt und jedes bloße Wort«, sagte Walt; aber der biedere Kuhnold ließ es nicht zu. Es wurde protokolliert, daß Walt den Notarius zum ersten Erbamt auswähle – Der Vater erbat sich Testaments-Kopie, um davon eine für den Sohn zu nehmen, welche dieser täglich als sein altes und neues Testament lesen und befolgen sollte – Der Buchhändler Paßvogel besah und studierte den Gesamt-Erben nicht ohne Vergnügen und verbarg ihm seine Sehnsucht nach den Gedichten nicht, deren das Testament, sagt' er, flüchtig erwähne – Der Polizei-Inspektor Harprecht nahm ihn bei der Hand und sagte: »Wir müssen uns öfters suchen, Sie werden kein Erb-Feind von mir sein, und ich bin ein Erbfreund; man gewöhnt sich zusammen und kann sich dann so wenig entbehren wie einen alten Pfahl vor seinem Fenster, den man, wie Le Vayer sagt, nie ohne Empfindung ausreißen sieht. Wir wollen einander dann wechselseitig mit Worten verkleinern; denn die Liebe spricht gern mit Verkleinerungswörtern.« Walt sah ihm arglos ins Auge, aber Harprecht hielt es lange aus.

Ohne Umstände schied Lukas vom gerührten Sohne, um die Kabelschen Erbstücke, den Garten und das Wäldchen vor dem Tore und das verlorne Haus in der Hundsgasse, so lange zu besehen, bis der Ratsschreiber den letzten Willen mochte abgeschrieben haben.

Gottwalt schöpfte wieder Frühlings-Atem, als er die Ratsstube wie ein enges dumpfiges Winterhaus voll finsterer Blumen aus Eis verlassen hatte; so vieles hatt' ihn bedrängt; er hatte der unreinen Mimik des Hunds- und Heißhungers gemeiner Welt-Herzen zuschauen – und sich verhaßt und verworren sehen müssen – die Erbschaft hatte, wie ein Berg, die bisher von der Ferne und der Phantasie versteckten und gefüllten Gräben und Täler jetzt in der Nähe aufgedeckt und sich selber weiter hinausgerückt – der Bruder und der Doppelroman hatten unaufhörlich ihm in die enge Welt hinein die Zeichen einer unendlichen gegeben und ihn gelockt, wie den Gefangnen blühende Zweige und Schmetterlinge, die sich außen vor seinen Gittern bewegen.

Der liebliche Jesuiterrausch, den jeder den ganzen ersten Tag in einer neuen großen Stadt im Kopfe hat, war in der Ratsstube meistens verraucht. An der Wirtstafel, an der er sich einmietete, kam unter der rauhen ehelosen Zivil-Kaserne von Sachwaltern und Kanzelisten über seine Zunge, außer etwas Weniges von einer geräucherten, nichts, kein warmer Bruder-Laut, den er hätte aussprechen oder erwidern können. Den Bruder Vult wußt' er nicht zu finden; und am schönsten Tage blieb er daheim, damit ihn dieser nicht fehlginge. In der Einsamkeit setzte er ein kleines Inserat für den Haßlauer Kriegs- und Friedens-Boten auf, worin er als Notarius anzeigte, wer und wo er sei; ferner einen kurzen anonymen Streckvers für den Poeten-Winkel des Blattes – Poets corner –, überschrieben.

Der Fremde

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– – –∙∙–,–∙∙–.
– – –∙∙,––.

Gemein und dunkel wird oft die Seele verhüllt, die so rein und offen ist;
so deckt graue Rinde das Eis, das zerschlagen innen licht und hell und blau wie Äther erscheint.
Bleib' euch stets die Hülle fremd, bleib' es euch nur der Verhüllte nicht.

*

Schwerlich werden einem Haßlauer Ohre von einiger Zärte die Härten dieses Verses – z. B. der Proceleusmatikus: kel wird oft die – der zweite Päon: die Hülle fremd – der Molossus: bleib' euch stets – entwischen; durfte aber nicht der Dichter seine Ideen-Kürze durch einige metrische Rauheit erkaufen? – Ich bemerke bei dieser Gelegenheit, daß es dem Dichter keinen Vorteil schafft, daß man seine Streck- und Einverse nicht als eine Zeile drucken lassen kann; und es wäre zu wünschen, es gäbe dem Werke keinen lächerlichen Anstrich, wenn man aus demselben arm-lange Papierwickel wie Flughäute flattern ließe, die herausgeschlagen dem Kinde etwan wie ein Segelwerk von Wickelbändern säßen; aber ich glaube nicht, daß es Glück machte.

Darauf kaufte sich der Notar im Laden drei unbedeutende Visitenkarten, weil er glaubte, er müsse auf ihnen an die beiden Töchter und die Frau des Hauses seinen Namen abgeben; und gab sie ab. Als er eilig seine Inserate in der nahen Zeitungsdruckerei ablieferte: fiel sein Auge erschreckend auf das neueste Wochenblatt, worin noch mit nassen Buchstaben stand:
 

»Das Flötenkonzert muß ich noch immer verschieben, weil ein schnell wachsendes Augen-Übel mir verbietet, Noten anzusehen.

J. van der Harnisch«
 

Welch einen schweren Kummer trug er aus der Druckerei in sein Stübchen zurück! Auf den ganzen Frühling seiner Zukunft war tiefer Schnee gefallen, sobald sein freudiger Bruder die freudigen Augen verloren, die er an seiner Seite darauf werfen sollte. Er lief müßig im Zimmer auf und ab und dachte nur an ihn. Die Sonne stand schon gerade auf den Abendbergen und füllte das Zimmer mit Goldstaub; noch war der Geliebte unsichtbar, den er gestern von derselben Sonnenzeit erst wieder bekommen. Zuletzt fing er wie ein Kind zu weinen an, aus stürmischem Heimwehe nach ihm, zumal da er nicht einmal am Morgen hatte sagen können: guten Morgen und lebe wohl, Vult! –

Da ging die Türe auf und der festlich gekleidete Flötenist herein. »O mein Bruder!« rief Walt schmerzlich-freudig. »Donner! leise,« fluchte Vult leise, »es geht hinter mir – nenne mich Sie!« – Flora kam nach. »Morgen Vormittag demnach, Herr Notarius,« fuhr Vult fort, »wünsche ich, daß Sie den Mietkontrakt zu Papier brächten. Tu parles français, Monsieur?« – »Misérablement,« versetzte Walt, »ou non«. – »Darum, Monsieur, komme ich so spät,« erwiderte Vult, »weil ich erstlich meine eigne Wohnung suchte und bezog und zweitens in einer und der andern fremden einsprach; denn wer in einer Stadt viele Bekanntschaften machen will, der tue es in den ersten Tagen, wo er einpassiert; da sucht man noch die seinige, um ihn nur überhaupt zu sehen; später, wenn man ihn hundertmal gesehen, ist man ein alter Hering, der zu lange in der aufgeschlagenen Tonne auf dem Markte bloßgestanden.«

»Gut,« sagte Walt, »aber mein ganzer Himmel fiel mir aus dem Herzen heraus, da ich vorhin in dem Wochenblatte die Augenkrankheit las« – und zog leise die Türe des Schlafkämmerchens zu, worin Flora bettete. »Die Sache bleibt wohl die« – fing Vult an und stieß kopfschüttelnd die Pforte wieder auf – »pudoris gratia factum est atque formositatis»Es geschah der Schamhaftigkeit und Wohlgestalt zu Liebe.« «, erwiderte Walt auf das Schütteln – »bleibt wohl die, sag' ich, was Sie auch mögen hier eingewendet haben, die, daß das deutsche Kunstpublikum sich in nichts inniger verbeißet als in Wunden oder in Metastasen. Ich meine aber weiter nichts als soviel: daß das Publikum z. B. einen Maler sehr gut bezahlt und rekommandiert, der aber etwan mit dem linken Fuße pinselte – oder einen Hornisten, der aber mit der Nase bliese – desgleichen einen Harfenierer, der mit beiden Zahnreihen griffe – auch einen Poeten, der Verse machte, aber im Schlafe – und so demnach auch in etwas einen Flautotraversisten, der sonst gut pfiffe, aber doch den zweiten Vorzug Dülons hätte, stockblind zu sein. – Ich sagte noch Metastasen, nämlich musikalische. Ich gab einmal einem Fagottisten und einem Bratschisten, die zusammen reiseten, den Rat, ihr Glück dadurch zu machen, daß der Fagottist sich auf dem Zettel anheischig machte, auf dem Fagott etwas Bratschen-Gleiches zu geben, und der andere, auf der Bratsche so etwas vom Fagott. Ihr machts nur so, sagt' ich, daß ihr euch ein finsteres Zimmer wie die Mund-Harmoniker oder Lolli bedingt; da spiele denn jeder sein Instrument und geb' es für das fremde, so wie jener ein Pferd, das er mit dem Schwanze an die Krippe gebunden, als eine besondere Merkwürdigkeit sehen ließ, die den Kopf hinten trage. – Ich weiß aber nicht, ob sie es getan.«

Flora ging; und Vult fragte ihn, was er mit der Türschließerei und dem Latein gewollt.

Gottwalt umarmte ihn erst recht als Bruder und sagte dann, er sei nun so, daß er sich schäme und quäle, wenn er eine Schönheit wie Flora in die knechtischen Verhältnisse der Arbeit gestürzt und vergraben sehe; eine niedrig hantierende Schönheit sei ihm eine welsche Madonna mitten auf einem niederländischen Gemälde. – »Oder jener Correggio, den man in Schweden an die königlichen Stallfenster annagelte als Stall-GardineWinckelmann von der Nachahmung etc. « – sagte Vult –; »aber erzähle das Testament!«

Walt tats und vergaß etwan ein Drittel: »Seit die poetischen Äthermühlflügel, die du Mühlenbaumeister angegeben, sich vor mir auf ihren Höhen regen, ist mir die Testaments-Sache schon sehr unscheinbar geworden«, setzte er dazu. –

»Das ist mir gar nicht recht«, versetzte Vult. »Ich habe den ganzen heutigen Nachmittag auf eine ennuyante Weise lange schwere Dollonds und Reflektors gehalten, um die Herren Akzessit-Erben von weitem zu sehen – so die meisten davon verdienen den Galgenstrang als Nabelschnur der zweiten Welt. Du bekommst wahrlich schwere Aufgaben durch sie.« – Walt sah sehr ernsthaft aus. – »Denn«, fuhr jener lustiger fort, »erwägt man dein liebliches Nein und Addio, als Flora vorhin nach Befehlen fragte, und ihr belvedere, d. h. ihre belle-vue von schönem Gesicht und dazu das enterbte Diebs- und Siebengestirn, das dir vielleicht bloß wegen der Klausel, die dich um ein Sechstel puncto Sexti zu strafen droht, eine Flora so nahe mag hergesetzt haben, die zu deflorieren« – – –

»Bruder!« – unterbrach ihn der zorn- und schamrote Jüngling und hoffte, eine ironische Frage zu tun – »ist das die Sprache eines Weltmanns wie du?« – »Auch wollt' ich effleurer sagen statt déflorer«, sagte Vult. »O, reiner starker Freund, die Poesie ist ja doch ein Paar Schlittschuh, womit man auf dem glatten reinen krystallenen Boden des Ideals leicht fliegt, aber miserabel forthumpelt auf gemeiner Gasse.« Er brach ab und fragte nach der Ursache, warum er ihn vorhin so traurend gefunden. Walt, jetzt zu verschämt, sein Sehnen zu bekennen, sagte bloß, wie es gestern so schön gewesen und wie immer, so wie in andere Feste KrankheitenWeil die meisten Feste in große Wetter-Krisen treffen. fallen, so in die heiligsten der Menschen Schmerzen, und wie ihm das Augen-Übel in der Zeitung wehegetan, das er noch nicht recht verstehe.

Vult entdeckt' ihm den Plan, daß er nämlich vorhabe, so gesund auch sein Auge sei, es jeden Markttag im Wochenblatt für kränker und zuletzt für stockblind auszurufen und als ein blinder Mann ein Flötenkonzert zu geben, das ebenso viele Zuschauer als Zuhörer anziehe. »Ich sehe,« sagte Vult, »du willst jetzt auf die Kanzeltreppe hinauf; aber predige nicht; die Menschen verdienen Betrug – Gegen dich hingegen bin ich rein und offen, und deine Liebe gegen den Menschen lieb' ich etwas mehr als den Menschen selber.« – »O wie darf denn ein Mensch so stolz sein und sich für den einzigen halten, dem allein die volle Wahrheit zufließe?« fragte Walt. – »Einen Menschen«, versetzte Vult, »muß jeder, der auf den Rest Dampf und Nebel loslässet, besitzen, einen Auserwählten, vor dem er Panzer und Brust aufmacht und sagt: guck' hinein. Der Glückliche bist nun du; bloß weil du – soviel du auch, merk' ich, Welt hast – doch im ganzen ein frommer, fester Geselle bist, ein reiner Dichter und dabei mein Bruder, ja Zwilling und – so lass' es dabei!« –

Walt wußte sich in keine Stelle so leicht und gut zu setzen als in die fremde; er sah der schönen Gestalt des Geliebten diese Sommersprossen und Hitzblattern des Reiselebens nach und glaubte, ein Schattenleben wie seines hätte Vulten diese vielfärbige moralische Nesselsucht gewiß erspart. Bis tief in die Nacht brachten beide mit friedlichen Entwürfen und Grenzrezessen ihres Doppelromans zu, und das ganze historische erste Viertel ihrer romantischen Himmelskugel stieg so hell am Horizonte empor, daß Walt den andern Tag weiter nichts brauchte als Stuhl und Dinte und Papier und anzufangen. Froh sah er dem morgenden Sonntag entgegen; der Flötenist aber jenem Abend, wo er, wie er sagte, wie ein Finke geblendet pfeife.


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