Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Es grünte ihm auf der andern Seite Hoffnung, aber fruchtlos; er hatte Aussichten, durch des Kleppers Allegro ma non troppo den haltenden Fuhrleuten ziemlich vorzusprengen; er ritt erheitert in starkem Schritt den Berg hinab, ins Dorf hinein; – aber da kehrte das Filial-Pferd ohne sonderliches Disputieren ein, es kannte den Wirt, jeder Krug war seine Tochter-, jeder Gasthof seine Mutterkirche. »Gut, gut,« sagte der Notar, »anfangs wars ja selber mein Gedanke« – und befahl unbestimmt einem Unbestimmten, dem Gaule etwas zu geben. Jetzt kam auch der flinke Grünhut nach. Vults Herz wallete auf vor Liebe, da er sah', wie der erhitzte schöne Bruder von der schneeweißen Bogenstirn den Hut lüftete, und wie im Morgenwehen seine Locken das zarte, mit Rosenblute durchgossene kindliche Gesicht anflatterten, und wie seine Augen so liebend und anspruchlos auf alle Menschen sanken, sogar auf das Siebengestirn. Gleichwohl konnte Vult den Spott über das Pferd nicht lassen: »Der Gaul«, sagt' er, mit seinen schwarzen Augen auf den Bruder blitzend und die Mähne streichelnd, »geht besser, als er aussieht; wie ein Musenpferd schwang er sich über das Dorf.« – »Ach das arme Tier!« sagte Walt mitleidig und entwaffnete Vulten.

Sämtliche Passagiere tranken im Freien – die Pilgrime gingen singend durchs Dorf – alle Tiere auf dem Dorfe und in der Luft wieherten und kräheten vor Lust – der kühlende Nord-Ost durchblätterte den Obstgarten und rauschte allen gesunden Herzen zu: weiter hinaus ins freie weite Leben! – »Ein sehr göttlicher Tag,« sagte Vult, »verzeihen Sie, mein Herr!« Walt sah ihn blöde an und sagte doch heftig: »O gewiß, mein Herr! Die ganze Natur stimmt ordentlich ein jubelndes herzerfrischendes Jagdlied an, und aus den blauen Höhen tönen doch auch sanfte Alphörner herunter.«

Da hingen die Fuhrleute die Gebisse wieder ein. Er zahlte schnell, nahm den Überschuß nicht an und saß im Wirrwarr auf, willens, allen vorzufliegen. Es ist ein Grundsatz der Pferde, gleich den Planeten nur in der Sonnen-Nähe eines Wirtshauses schnell zu gehen, aber langsam daraus weg ins Aphelium; der Schimmel heftete seine vier Fuß-Wurzeln als Stifte eines Nürnberger Spielpferdes fest ins lackierte Brett der Erde und behauptete seinen Ankerplatz. Der bewegte Zaum war nur sein Ankertau – fremde leidenschaftliche Bewegung setzt' ihn in eigne nicht – umsonst schnalzte der leichte Reiter in grün-atlasener Weste und mit braunen Hutflammen, er konnte ebensogut den Sattel über einen Bergrücken geschnallet haben und diesen spornen.

Einige dieser sanftesten Fuhrleute bestrichen die Hinterbeine des Quietisten; er hob sie, aber ohne vordere. Lange genug hatte nun Walt auf sein Mitleiden gegen das Vieh gehört; jetzt warf er ohne weiters dem Trauerpferd den Schusser ins Ohr – die Kugel konnte die Massa, den Queue fortstoßen ins grüne Billard. Walt flog. Er rauschte schnell dicht hinter der Hühner-Kette von Pilgern, die scheu auseinanderspritzte, bis leider auf eine an der Spitze gehende taube Vorsängerin, die Reiten und Warnen nicht vernahm – umsonst zupften seine sterbenden Finger voll Todesnot im Ohr und wollten Kugelzieher sein – seine fliegende Kniescheibe rannte an ihr Schulterblatt und warf sie um – sie erstand schleunigst, um frühe genug, unterstützt von allen ihren Konfessions-Verwandten, ihm über alle Beschreibung nachzufluchen. Weit hinter dem Fluchen bracht' er nach langer Ballotage die Glücks- und Unglückskugel zwischen dem Daumen und Zeigefinger heraus, teuer schwörend, nie dieses Oberons-Horn mehr anzusetzen.

Wenn er freilich jetzt die Bestie wie eine Harmonika traktierte, nämlich langsam – so daß jeder die größten Schulden auf ihr absitzen konnte, sogar ein Staat, wenns anders für diesen einen andern Schuldturm geben könnte außer dem Babelturm –: so wär' es wohl gegangen, hätt' er sich nicht umgedreht und gesehen, was hinter seiner Statua equestris und curulis zog; ein Heer, sah er, setz' ihm hitzig mit und ohne Wagen nach, Pilger voll Flüche, sieben weiße Weisen voll Spaß und der Student. Der menschliche Verstand muß sehr irren, oder an dem, was er nachher tat, hatte die Vermutung aus dem Vorigen großen Teil, daß der nachschwimmende Hintergrund nicht nur seinen Durchgang durch ein rotes Meer erzwingen, sondern daß sogar das Meer selber mit ihm gehen würde; weil er auf seinem lebendigen Laufstuhl niemand zu entrinnen vermochte. Schon das bloße Zurückdenken an den Nachtrab mußte wie Lärmtrommeln in die schönsten leisen Klänge fahren, die er jetzt am blauesten Tage aus den Himmels-Sphären seiner Phantasie leicht herunterhören konnte.

Deshalb ritt er geradezu aus der Landstraße über Wiesen in eine Schäferei hinein, wo er halb gleichgültig gegen lächerlichen Schein, halb mit errötender Ruhmliebe – für Geld, gute Worte und sanfte Augen – es sich von der Schäferin erbat, daß dem Schimmel so lange – denn er verstand nichts von Roß-Diätetik – Heu vorgesetzet würde, bis etwan die Feinde sich eine Stunde voraus- und ihn mathematisch gewiß gemacht hätten, daß sie nicht zu ereilen wären, gesetzt auch, sie fütterten zwei Stunden.

So neu-selig und erlöset setzt' er sich hinter das Haus unter eine schwarzgrüne Linde in den frischen Schatten-Winter und tauchte sein Auge still in den Glanz der grünen Berge, in die Nacht des tiefen Äthers und in den Schnee der Silberwölkchen. Darauf stieg er nach seiner alten Weise über die Gartenmauer der Zukunft und schauete in sein Paradies hinein: welche volle rote Blumen und welches weiße Blütengestöber füllte den Garten! –

Endlich – nach einer und der andern Himmelfahrt – machte er drei Streckverse, einen über den Tod, einen über einen Kinderball und einen über eine Sonnenblume und Nachtviole. Kaum wollte er, da das Pferd Heu genug hatte, von der kühlen Linde fort; er entschloß sich, heute nicht weiter zu reisen als nach dem sogenannten Wirtshaus zum Wirtshaus, eine kleine Meile von der Stadt. Indes eben in diesem Wirtshaus hatten alle seine Feinde um 1 Uhr Halt und Mittag gemacht; und sein Bruder war da geblieben, um ihn zu erwarten, weil er wußte, daß die Landstraße und der Schimmel und Bruder durch den Hof liefen. Vult mußte lange passen und seine Gedanken über die nächsten Gegenstände haben, z. B. über den Wirt, einen Herrnhuter, der auf sein Schild nichts weiter malen lassen als wieder ein Wirtshausschild mit einem ähnlichen Schild, auf dem wieder das Gleiche stand; es ist das die jetzige Philosophie des Witzes, die, wenn der ähnliche Witz der Philosophie das Ich-Subjekt zum Objekt und umgekehrt macht, ebenso dessen Ideen sub-objektiv widerscheinen lässet; z.B. ich bin tiefsinnig und schwer, wenn ich sage: Ich rezensiere die Rezension einer Rezension vom Rezensieren des Rezensierens, oder ich reflektiere auf das Reflektieren auf die Reflexion einer Reflexion über eine Bürste. Lauter schwere Sätze von einem Widerschein ins Unendliche und einer Tiefe, die wohl nicht jedermanns Gabe ist; ja vielleicht darf nur einer, der imstande ist, denselben Infinitiv, von welchem Zeitwort man will, im Genitiv mehrmals hintereinander zu schreiben, zu sich sagen: ich philosophiere.

Endlich um 6 Uhr hörte Vult, der aus seiner Stube sah, den Wirt oben aus dem Dachfenster rufen: »He, Patron, scher' Er sich droben weg! – Will Er ins Guckgucks Namen wegreiten?!« – Das Wirtshaus stand auf einem Birken-Hügel. Gottwalt war seitwärts aus dem Wege an den herrnhutischen Gottesacker hinaufgeritten, aus welchem der Schimmel Schoten aus den Staketen zog, während der Herr das dichterische Auge in den zierlichen Garten voll gesäeter Gärtner irren ließ. Wiewohl er den Kalkanten der groben Pedalstimme nicht durch die Birken sehen konnte: so zog er doch – da den Menschen überhaupt nach einer Grobheit feinstes Empfinden schwer verfolgt – sogleich den rupfenden Rüssel aus dem Spaliere auf und gelangte bald mit den Schoten im nassen Gebisse vor der Stall-Tür an.

Er tat an den sehr ernst unter seiner Türe stehenden Wirt von fernen – umsonst wollt' er gar vor ihn hinreiten – barhaupt am Stalle die Frage, ob er hier mit seinem Gaul logieren könne.

Ein ganzer heller Sternenhimmel fuhr Vulten durch die Brust und brannte nach.

Auch der Wirt wurde sternig und sonnig; aber wie wär' er – sonst hätt' er höflicher aus dem Dache gesprochen – darauf gekommen, daß ein Passagier zu Pferde in dieser Nähe der Stadt und Ferne der Nacht ihn mit einem Stillager beehren werde. – Als er wahrnahm, daß der Passagier ein besonderes Vieleck oder Dreieck mit dem rechten Beine über dem Gaule absitzend beschrieb, und daß er die schweren, mit einem organisierten Sattel behangenen Schenkel ins Haus trug, ohne weiter nach dem Tiere oder Stalle zu sehen: so wußte der Schelm sehr gut, wen er vor sich habe; und lachte zwar nicht mit den Lippen, aber mit den Augen den Gast aus, ganz verwundert, daß dieser ihn für ehrlich und es für möglich hielt, er werde den Hafer, den er morgen in die Rechnung eintragen konnte, schon heute dem Schimmel vorsetzen.

»Nun geht«, sagte Vult bildlich, der mit Herzklopfen die Treppe hinab dem Bruder entgegenging, »ein ganz neues Kapitel an.« Unbildlich geschiehts ohnehin.


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