Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Bändchen

Nro. 18: Echinit

Der Schmollgeist

Es braucht keinen großen diplomatischen Verstand, um zu erraten, daß der Notar in der Sonntags-Nacht nicht zu Hause blieb, sondern noch spät zu dem Theater-Schneider Purzel gehen wollte, wo sein Bruder wohnte, um bei ihm mehr über den blauen Jüngling zu hören. Aber dieser empfing heruntereilend ihn auf der Gasse, die er als Saal und Corso des Volks in Feier-Nächten erhob und zum Spaziergange vorschlug. Ziemlich entzückt nahms Walt an. So Sonntags in der Nacht unter den Sternen mit Hunderten auf- und abzugehen, sagt' er, das zeig' ihm, was Italien sei; zumal da man den Hut aufbehalten und ungestört zu Fuße träumen könne. Er wollte sofort viel reden und fragen, aber Vult bat ihn, bis in andere, einsamere Gassen zu schweigen und nicht Du zu sagen. »Wie so gern!« sagte Walt. Unbemerkt war ihm in der Dämmerung die Brust voll Liebe gelaufen wie eine Blume voll Tau – sooft er durfte, streift' er mit der Hand ein wenig an eine jede blutfremde vorbeigehende an, weil er nicht wissen könne, dacht' er, ob er sie je wieder berühre – ja, er wagt' es in schattigern Stellen der Nacht sogar, zu Erkern und Balkons, wo deutlich die vornehmsten Mädchen standen, aufzusehen und sich von der Gasse hinaufzudenken mitten darunter mit einer an der Hand als Bräutigam, den sein Himmel halb erstickt.

Endlich spannt' er vor dem Flötenspieler in einer schicklichen Sackgasse das glänzende historische Blatt von seinem innern Banquet und Freuden-Gewühle eines Nachmittags auf, der darin bestand – als Vult neugierig näher nachsah –, daß er draußen hin und her gegangen und den Blaurock getroffen. »Man sollte geschworen haben,« versetzte Vult, »Sie kämen eben aus GladheimDas Freuden-Tal in Walhalla. statt aus dem Rosentale her und hätten sich entweder die Freya oder die Siöfna oder die Gunnur oder die Gierskogul oder die Mista oder sonst eine Göttin zur Ehe abgeholt, und ein Paar Taschen voll Weltkugeln als Brautgabe dazu. – Doch ists zu rühmen, wenn ein Mann das Galakleid der Lust noch so wenig abgetragen – die Fäden zähl' ich auf meinem –, ausgenommen wenn der Mann nicht bedenkt, daß Zauberschlösser leicht die Vorzimmer von Raubschlössern sind.«

Aber jetzt wies ihm Walt den Berg der heutigen Weinlese, den blauen Jüngling, und fragte nach dessen Namen und Wohnung. Der Bruder erwiderte gelassen, es sei der Graf Klothar, ein sehr reicher, stolzer, sonderbarer Philosoph, der fast den Briten spiele, sonst gut genug. Dem Notar wollte der Ton nicht gefallen, er legte Vulten Klothars reiche Worte und Kenntnisse vor. Vult erwiderte, darin seh' er fast einige merkliche Eitelkeit des Stolzes. »Ich könnt' es nicht ertragen,« versetzte Walt, »wenn Menschen gewisser Größe demütig wären.« – »Und ich kann«, versetzte Vult, »es nicht erdulden, wenn der englische Stolz, oder der irländische oder der schottische, der sich sehr gut in Bücher-Darstellungen ausnimmt, in der Wirklichkeit auftritt und pustet. In Romanen gefällt uns fremde Liebe und Stolziererei und Empfindelei; – aber darüber hinaus schlecht.«

»Nein, nein,« (sagte Walt) »wie mir denn dein eigener Stolz gefällt. Wenn wir uns recht fragen, so erzürnt uns nie der Stolz selber, sondern nur sein Mangel an Grund – daher kann uns oft Demut ebensogut quälen; – daher ist unser Haß des Stolzes kein Neid gegen Vorzüge; denn indes wir allzeit größere über uns anerkennen und nur erstohlne, vorgespiegelte hassen: so ist unser Haß nicht Liebe gegen uns, sondern eine gegen die Gerechtigkeit.« – »Sie philosophieren ja wie ein Graf«, sagte Vult. »Hier wohnt der Graf.« Mit unsäglicher Freude sah Walt an die leuchtenden Fenster-Reihen einer Garten-Villa hinauf, die der Gasse den glänzenden Rücken zeigte und in welche ein langer Garten durch eine breite Vorhalle von Bäumen-Ordnungen führte. Jetzt ließ Walt vor dem Bruder eine durstige Seele in alle ihre Gedichte und Hoffnungen der Liebe ausbrechen. Der Flötenspieler sagte (eine gewöhnliche Ergießung seines Zorns): »Freilich in gewissen Stücken – indessen – zumal so – insofern ja freilich, o Himmel!« und fügte bei, seines schwachen Bedünkens sei Klothar vielleicht nicht weit von dem entfernt, was man im gemeinen Sprachgebrauch einen Egoisten nennt.

Walt hielt es jetzt schon für Freundes-Pflicht, den unbekannten Grafen hierüber heftig zu beschützen, und berief sich auf dessen edle Physiognomie, die gewiß darum, vermutete er, so trübe beschattet sei, weil er fruchtlos nach einer Sonne sehe, die ihm auf irgendeinem Altare voll Opfer-Asche den alten Phönix der Freundschaft erwecke; und ganz reiner Liebe schließe gewiß kein Herz sich zu. »Wenigstens setzen Sie vorher,« sagte Vult, »eh' Sie vor seinen Kammerdiener treten, einen Fürstenhut auf, ziehen einen Stern an, binden ein blaues Hosenband um: – dann mögen Sie bei ihm zur Cour vorfahren; so nicht wohl. Ich ja selber, der ich von einem so eisgrauen Adel bin, daß er vor Alters-Marasmus fast erloschen ist, mußte vorher bei ihm eigne Verdienste vorschützen. – Und wie wollen Sie ihm Ihre Freundschaft promulgieren? Denn bloßes Hegen derselben tuts nicht.« –

»Von morgen an«, sagte Walt unschuldig, »such' ich ihm so nahe zu kommen, daß er alles deutlich lesen kann in meinem Herzen und Gesicht, was die Liebe an ihn hineingeschrieben, Vult!« – »Van der Harnisch, zum Henker! Was ist zu Vulten? Sie bauen demnach auf Ihren Diskurs und dessen Gewalt?« versetzte Vult. – »Jawohl,« sagte Walt, »was hat denn der Mensch außer so seltnen Taten noch anderes?« – Aber den Flötenspieler überraschte an einem so bescheidenen Wesen, das höhere Stände vergötterte, dieses stille feste Vertrauen auf Sieg ausnehmend. Die Sache war indes, daß der Notar schon seit geraumen Jahren, wo er Petrarcas Leben gelesen, sich für den zweiten Petrarca still ansah, nicht bloß in der ähnlichen Zeugungskraft kleiner Gedichte – oder darin, daß der Welsche von seinem Vater nach Montpellier geschickt wurde, um das Jus zu studieren, das er gegen Verse später fahren ließ –, sondern auch – und hauptsächlich – darin mit, daß der erste Petrarca ein gewandter zierlicher Staatsmann war. Der Notar glaubte, er dürfe, nach den Reden zu schließen, die er mehrmals siegend an Goldinen und die Mutter gehalten, ohne Unbescheidenheit auf einige Ähnlichkeit mit dem Italiener rechnen, falls man ihn nur in die rechten Lagen brächte. So geht eigentlich in dieser Minute kein Jüngling in ganz Jena, Weimar, Berlin usw. über den Markt, der nicht glauben müßte, als Schrein – Sakramentshäuschen – Heiligen-Haus – Rindenhaus – oder Mumienkasten irgendeines jetzt oder sonst lebenden Geister-Riesen heimlich herumzulaufen, so daß, wenn man besagten Schrein und Mumienkasten aufschlüge, der gedachte Riese deutlich ausgestreckt darin läge und munter blickte. Ja, Schreiber dieses war früher fünf bis sechs große Männer schnell nacheinander, so wie er sie eben gerade nachahmte. Kommt man freilich zu Jahren, nämlich zu Einsichten, besonders zu den größten, so ist man nichts.

»Wir wollen doch in einem fort hier auf- und abgehen«, sagte Walt, der in Vults Repliken, zumal von seiner Himmelsluft berauscht, nichts spürte als dessen Manier. »Ins Bette lieber; – wir stören vielleicht Klotharn, der schon darin liegt, denn ich höre, morgen verreiset er auf einige Tage sehr frühe« – berichtete Vult, als woll' er, ordentlich sich selber zur Pein, aus Walts vollem Herzen recht viel Liebe vorpressen.

»So ruhe sanft, Geliebter!« sagte Walt und schied gern von der lieben Stelle und dann vom verdrüßlichen Bruder. Voll Freude und Friede zog der Notar nach Hause – in die stillen Gassen schaueten nur die hohen Sterne – er sah im Marktwasser einer nach Norden offnen Straße die Mitternachts-Röte abgespiegelt – im Himmel zogen helle Wölkchen wie verspätet aus dem Tage heim und trugen vielleicht oben die Genien, die den Menschentag reich beschenket hatten – und Walt konnte, als er so glücklich in sein einsames dämmerndes Stübchen zurückkam, sich sowohl des Weinens als des Dankens nicht enthalten.


 << zurück weiter >>