Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Nro. 54: Surinamischer Äneas

Malerei – Wechselbrief – Fehdebrief

Licht und leicht flogen die Horen in Doktor Huts vielgehäusigem Hause ein und aus und holten Honig. Hier, in diesem sonnenhellen Eiland der unschuldigen Freude, sah Walt keinen höflich-groben Fraisse – hörte keinen Geld-Werber und Geld-Jäger, der das durch Kontrakte eingezäunte Wild pürscht, keinen aus den fünf (Mosis-Bücher-)Klassen der Gläubiger, die uns ewig an die Lebens-Darre und Dörrsucht erinnern – hier hört' er nur Liederchen und Sprünge; hier waren ganze Sackgäßchen aus dem neuen Jerusalem. Denn was aus dem alten teils von Juden, teils von Christen einwanderte, konnt' er nicht hören, weil Flitte sich von seinen Arsenikkönigen der Metalle, den Gläubigern, bloß in einem fernen Schmollwinkel vergiften ließ. Im ersten Stockwerke wohnte die streitende Kirche, Flitte und die Könige; im dritten die triumphierende, Flitte und Walt.

Indes brachte der Notar es doch nicht so weit, daß er gar nichts gemerkt hätte. »Ich wollt', ich wäre kurzsichtiger,« (sagt' er sich) »bedenkt man, wie froh und freigebig der gute Mensch schon ist in Drangsalen, und wie ers vollends wäre ohne die geringsten Qualen – denn wahrlich gewisse Menschen hätten Tugend, wenn sie Geld hätten –, und mit welcher Süßigkeit er vom Reichsein spricht: wahrhaftig, so wüßt' ich keinen schönern Tag als den, wo der arme Narr die höchsten Geldkästen und Geldsäcke plötzlich in seiner Stube stehen sähe. Wie könnten einem solchen Menschen schon die Zinsen von den Zinsen der Zinsen der englischen Nationalschuld aufhelfen!« Er fragte, warum, da alle Leiden Ferien finden, denn die eines deutschen Schuldners nie absetzen, indes in England doch der Sonntag ein Ruhetag des verschuldeten Ohrs ist, wie sogar um die Verdammten (nach der jüdischen Religion) am Sabbat, am Feste des Neumonds und unter dem wöchentlichen Gebete der Juden die Hölle erstirbt und ein sanfter kühler Nachsommer des begrabnen Lebens über die heißen Abgründe weht.

Lieblich überwallete ihm das Herz, wenn er sich das Seelenfest ausfärbte, womit er den Flötenspieler durch den Elsasser und diesen durch jenen zu beschenken hoffte, wenn er Vulten die unschuldige liberale poetische Lebensfreiheit Flittens beschwüre und diesem einen Spiel- und Edelmann zugleich zuführte: »O ich will dabei dem wackern Bruder das Bewußtsein und Geständnis, geirrt zu haben, so sanft ersparen!« sagt' er entzückt.

Immer wärmer lebten beide sich in die Woche und ineinander hinein, sie hätten die Probewoche lieber wiederholt als geendigt. Flitten war das liebende, warme Wesen, womit Walt wie mit einer elektrischen Atmosphäre umgeben war, etwas Neues und Anziehendes; er konnte zuletzt schwer mehr ohne ihn aus dem Hause.

Walt machte daraus desto mehr, je weniger beide eigentlich, wie er fühlte, einander unterhalten konnten; ihre Nervengewebe hatten sich verstrickt, sie waren wie Polypen ineinander gesteckt; doch fraß jeder so auf eigne Rechnung, daß keiner weder der Magen noch die Nahrung des andern war.

Es kam der letzte Probe- und Flitterwochentag. Walt scheuete alles Letzte, jedes scharfe Ende, sogar einer Klage. Ein Ripienist von Vults Spiele in Rosenhof hatte dessen Eintreffen verkündigt. Auch der Doktor Hut wollte nachts anlangen. Einige schöne Mitternachtsröte stand ihm bevor. Flitte bat ihn, diesen letzten Nachmittag, wo sie beisammen wären, ihn zu Raphaelen zu begleiten, welche ihm heute flüchtig sitze zu einem schlechten Miniatur-Porträt für den Geburtstag ihrer Mutter: »Wir drei sind süperbe allein«, fügt' er hinzu. »Wenn ich nun male, parlier' ich wenig; und doch animiert Reden ein Gesicht unglaublich.« Ob Walt gleich wenig delikate Welt darin fand, daß man ihn als Sprach- und Reiz-Maschine vor ein Sitzgesicht aufzustellen trachtete: so folgte er doch. Er wars schon gewohnt seit einer Woche, einige Male des Tags zu erstaunen über Mangel an zärtester Denkart, sowohl auf dem Markte als in den besten Häusern, welche äußerlich einen glänzenden Anstrich und Anwurf hatten.

Mit Vergnügen kam er in dem eigenen Hause wie in einem fremden an. Raphaela lächelte beiden von der obersten Treppe herab und führte sie hastig in ihr Schreibzimmer hinein. Hier waren schon widersprechende Weine, Eise und Kuchen gehäuft. Da eine Frau leichter das Herz als den Magen eines Mannes errät: so weiß sie freilich nicht, was er abends um 4 Uhr am liebsten trinkt. Ein Bedienter nach dem andern sah durch die Türe, um einen von Raphaelens Wünschen zu holen und erfüllt zurückzubringen. Die ganze Dienerschaft schien ihre Regierung für eine goldne von Saturn zu halten; man sah einige von der weiblichen sogar im Park spazieren gehen. Die immer voller ins Zimmer hineinströmende Abendsonne und der Freudenglanz, der jedem Gesichte steht, bewarfen das Mädchen und die Situation mit ansehnlichen Reizen. Flitte war gegen Raphaela nicht die Falschheit selber, sondern ein Fünftelsaft von Wesen – nämlich ein Fünftel galant, ein Fünftel gut, eines sinnlich, eines geldsüchtig, ein Fünftel ich weiß nicht was, als sie zu Walts Entzücken gesagt hatte: »Schmeicheln sollen Sie meinem Gesichte nicht, es hilft nichts; machen Sie es nur, daß ma chère mère es wiedererkennt.« – Im Notar kroch heimlich die stille Freude herum, daß er jetzt gerade unter seinem eignen Zimmer stehe, im Hause zugleich Gast und Mietsmann, daß er ferner nicht die kleinste Verlegenheit spüre – denn Flitte war ihm nicht fremd, und über eine Frau war schon zu regieren –, und daß die schönsten Düfte und namenlosesten Möbeln jede Ecke schmückten: »Hätt ich aber dies sonst als Bauernsohn aus Elterlein denken sollen?« dacht' er.

Flitte zog nun das Elfenbein und das Farbenkästchen hervor und erklärte dem Modelle, je freier und belebter es sitze, desto besser glück' es dem Maler. Indes hätte sie ebensogut auf dem Nordpol sitzen können, er aber auf dem Südpol kleben: die Ähnlichkeit wär' ihm nicht anders gelungen; er, überhaupt kein malerischer Treffer, wollte nichts treffen als das, was sie anhatte. Sie setzte sich hin und verfertigte das Sitz-Gesicht, das die Mädchen unter dem Malen schneiden. Die noble masque, womit sich alsdann der Mensch überstülpen will, ist das Kälteste, wozu er je sein Gesicht aushauet, so daß seltner Menschen als ihre Büsten porträtiert werden. Dieses Gesicht heißet in weiblichen Pensions-Anstalten das Sitz-Gesicht der Mädchen; – dann kommt das gespannte Frisiergesicht – dann das essende Butterbrot-Gesicht, eines der breitesten – endlich zwei Ballgesichter, das eine, die Wetterseite, für die Putzjungfer, das andere, die Sonnenseite, für den Tänzer. Walt kam jetzt in Gang und ins Feuer, und zwar um selber zu malen, nicht um andere malen zu helfen. Er kelterte – vortrefflich genug – Auszüge aus seiner neuesten Reise um die Welt und mischte beiher ein, daß er ihre Freundin, Wina, unter der Katarakte gesehen. Unter allen Erzählern und Unterhaltern sind Reisebeschreiber die glücklichsten und reichsten; in eine Reise um 1/1000000 der Welt können sie die ganze Welt bringen, und niemand kann ihnen (zweitens) widersprechen. Der Notar wollte sich seiner malerischen Stärke in Sommer- und Herbst-Landschaften – Flitte lieferte die Winter-Landschaft – noch stärker bedienen und setzte zu einem wandbreiten goldnen Bergstücke der Rosenhöfer Berghörner an; – aber Raphaela war ganz entzückt davon und brachte die Rede bald auf ihre Freundin Wina, um solche allein fortzuspinnen. Sie erhob deren Reize und Handlungen mit Feuer – sie zeigte ein Mahagony-Kästchen, worin deren Briefe lagen – sie wies die sogenannte Winens-Ecke im Winkel, wo diese gewöhnlich saß und zwischen der Park-Allee der untergehenden Sonne nachsah – sie glänzte ganz liebend und warm. – Der Notarius war ziemlich schwach bei sich; nach seinen stillen Augen zu urteilen, jubelte er laut, feierte er Bacchanalien, trieb artes semper gaudendi, lieferte Lusttreffen, sprach sich selber die Seligsprechung – ja er ging so weit, daß er sich zufällig hineinsetzte in Winas Ecke –

Der Jubel wuchs ganz. Man trank fort – in jeder halben Viertelstunde machte ein Diener die Türe auf, um einen zweiten spätern Befehle wegzufangen. Flitte wußte gar nicht, wie er auf einmal zu der Glückseligkeit gelangte, daß man so viel sprach ohne alles Langweilen zum Henker, und daß Raphaela sich so herrlich enthusiasmierte. Zufällig rückte Walt den Fenster-Vorhang, und eine Sonne voll warmer Tinten übergoß Raphaelens Gesicht, daß sie es wegkehrte; auf sprang Flitte, wies ihr ihr Sbozzo, fragte, ob es nicht halb aus den schönen Augen gestohlen sei. »Halb? Ganz!« sagte Walt aufrichtig, aber einfältig; denn sie hätte demselben Bildchen ebensogut mit dem Hinter-Kopfe und Stahlkamm gesessen. Der Elsasser gab ihr darauf einige Küsse öffentlich. Er tats vermutlich zu abrupt, dachte zu wenig daran, daß auch erblickte Empfindungen – so gut als gelesene – vor dem Zuschauer wollen motiviert sein; Walt sah eiligst in den Park und stand endlich gar auf.

»Ich wäre ja ein Satanas,« dacht' er, »ließ' ich sie nicht einander abherzen« und schlich unter einem landschaftsmalerischen Vorwand ein wenig auf sein Zimmer. Flitte machte sich, sobald er die Türe zugedrückt, vom schönen Munde wieder ans Malen desselben und punktierte fleißig. »Wie müssen jetzt die Seligen«, sagte oben Walt, »einander an den Herzen halten, und die Abendsonne glüht prächtig dazwischen hinein!« – In seine eigne Stube quoll das Füllhorn der Abendrosen noch reicher und weiter aus; dennoch standen seine verschlissenen Zimmer-Pieces (die Wohn- und die Schlaf-Kammer) im Abstich von der eben verlassenen Putz-Stube, und er maß die Kluft seines äußerlichen Glücks. Er wurde weich und wollte aus Sehnsucht, die Liebe wenigstens zu sehen, eben eilig hinunter, als Vult hereintrat. Ans Herz, ins Herz flog ihm Walt: »Ach so himmlisch,« sagt' er, »daß du jetzt eben kommst!«

Vult, mit sanfter Stimmung zurückkehrend, tat zuerst (nach seiner Gewohnheit) die Fragen nach fremder Geschichte, eh' er die nach eigner auflöste. Walt teilte frei und froh den Ablauf des Notariats-Amtes und den Verlust der 70 Stämme mit. »Schlimm ists nur,« sagte Vult gelassen, »daß ich gerade selber verschwende und Geld verachte; sonst würd' ich dir aus Vernunft, Gewissen, Geschichte zeigen, wie sehr und wie recht ich meine Ebenbildnerei an andern, z.B. an dir, verfluche. Verachtung des Geldes macht weit mehrere und bessere Menschen unglücklich als dessen Überschätzung; daher der Mensch oft pro prodigo, nie pro avaro erklärt wird.« – »Lieber ein volles Herz als einen vollen Beutel!« sagte lustig Walt und sprach sogleich von der neuen Erbamts-Wahl und von der schönen Flittes-Woche und vom Lobe des Elsassers: »Wie oft«, beschloß er, »wünscht' ich dich her in unsere heimlichen geflügelten Feste hinein; auch damit du ihn weniger hart richten lerntest; denn dies tust du, Lieber!«

»Flitte scheint dir erhaben? ein Seelenklassiker oder so? Und seine Lustigkeit poetisches Segel- und Flugwerk?« fragte Vult. »Ich habe in der Tat«, versetzte Walt, »recht gut seinen schönen Temperaments-Leichtsinn, der nur Gegenwart abweidet, von dem dichterischen leichten Schweben über jeder unterschieden; er freuete sich nie lange nach.« –

– »Hat er dich in deiner Probe-Woche, die du dir selber sehr gut ohne allen fremden Rat gewählt, keine bedenklichen Sprünge machen lassen, die etwa Bäume kosten?« sagte Vult. »Nein,« versetzte Walt, »aber französische Fehltritte hat er mir abgewöhnt.« Hier fuhr der Notarius fort und bediente sich der fragenden Figur, ob Flitte ihm nicht das Feinste entdecket habe, z.B. daß man nie oder selten comment fragen müsse, sondern höflicher Monsieur oder auch Madame? Hab' ers nicht gerügt, fragte Walt, als er so ganz unfranzösisch bon appetit wünschte, oder eine Kammerfrau, femme de chambre, zur Kammerjungfer machte, oder einen friseur nicht coeffeur hieß? Hab' er ihm nicht gut erklärt, warum porte-chaise dumm sei, weil man die Wahl habe zwischen einer chaise à porteur und porteurs de chaise?

»Ich glaube nicht,« sagte Vult, »daß dich diese Sprachstunden mehr kosten als den Rest des Kabel-Walds.« – »Ein Hund woll' er heißen,« sagte Walt, »schwur mir Flitte, benütz' ers. In der Rechtschreibung aber dient' ich ihm, z.B. jabot schrieb er chapeau. Ach, bekäme der Arme nur weniger Gläubiger und mehr Geld!« – »Das wird eben deine Klippe auf ihm«, sagte Vult. »Wer arm wird – nicht wers ist –, verdirbt und verderbt, und wär's nur, weil er jeden Tag einen andern Gläubiger oder denselben anders zu belügen hat, um nur zu bestehen. So feiert er jeden Tag ein Fest der Beschneidung fremder Narren. So muß auch jeder Schuldner ungemessen prahlen; er muß mit Leibnizens Dyadik die 8 (z.B. Gulden) mit 1000 schreiben. Welche Reden – jeden Tag eine andere – hab' ich oft denselben Schuldmann an seinen Faust- und Pfand-Gläubiger halten hören und seine herrliche Unerschöpflichkeit Dichtern und Musikanten gewünscht, womit er dasselbe Thema – daß er nämlich eben nichts habe – so köstlich und süß immer mit Variationen vorzuspielen verstanden!« – »Ich lasse dich erst ausreden«, sagte Walt.

»So beschoß z.B., um es kurz zu machen,« – fuhr Vult fort – »der polnische Fürst *** in W. jeden Gläubiger anders; denn ich stand dabei; gemeines tiefes Volk beschoß er teils mit dem dragon, der 40 Pfund schießt, teils mit dem dragon volant, der 32 – nämlich er war grob gegen das Grobe – Honoratioren, besonders Advokaten, denen er schuldete, griff er teils mit der coulevrine, die 20 Pfund schießt, teils mit der demi-coulevrine an, die 10 – höher hinauf gebraucht' er den pelican, der 6 – den sacre von 5 – den sacret von 4 – und gegen seinesgleichen, einen Fürsten, den ribadequin, der 1 Pfund schießt.«


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