Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Er sah eine Herde stummer Nachtigallen, die sich zum nächtlichen Abzug rüsteten. »Wo fliegt ihr hin, ihr süßen Frühlings-Klänge? Sucht ihr die Myrte zur Liebe, sucht ihr den Lorbeer zum Sange? Begehrt ihr ewige Blüten und goldne Sterne? So fliegt nur ohne Stürme unter unsern Wolken fort und besingt die schönsten Länder, aber fliegt dann liebesbrünstig in unsern Frühling zurück und singt dem Herzen in schmachtenden Tönen das Heimweh nach göttlichen Ländern vor.«

»Ihr Bäume und ihr Blumen, ihr neigt euch hin und her und möchtet noch lebendiger werden und reden und fliegen, ich liebe euch, als wär' ich eine Blume und hätte Zweige; einstens werdet ihr höher leben.« Und da bog er einen tief ans Wasser sich neigenden Zweig gar ein wenig in die Wellen hinein.

Plötzlich hört' er in tiefer Ferne hinter sich eine Flöte durch das Tal gleichsam auf dem Strom herunterkommen, dem Wehen entgegen. Die Ferne ist die Folie der Flöte; und ihm, der mehr ihren Ton als ihren Gang verstand, war keine nahe gute nur halb so lieb. Die Töne schienen nachzukommen, doch schwächer. Am Wege stand eine Steinbank, die ihn in dieser Einsamkeit schön an die Menschensorge für andere Menschen erinnerte. Er setzte sich ein wenig darauf, um gleichsam zu danken. Aber er legte sich bald ins hohe Ufer-Gras, um der guten Erde, die zugleich der Stuhl, der Tisch und das Bette der Menschen ist, näher zu sein, und regte sich wenig, um die im warmen stillen Uferwinkel spielenden Eintags-Fischchen nicht wegzuschrecken. Er liebte nicht einen und den andern Lebendigen, sondern das Leben, nicht einmal die Aussichten, sondern alles, die Wolke und den Gras-Wald der goldnen Würmchen, und er bog ihn auseinander, um ihren Aufenthalt zu sehen und ihre Brotbäumchen und ihre Lustgärtchen. Er hielt lieber mit Schreiben und Dichten auf seiner Schreibtafel innen, wenn ein buntes weiches Wesen über die glatte Fläche sich wegarbeitete, als daß er es weggeschnellet oder gar erdrückt hätte. »Gott, wie könnte man ein Leben töten, das man recht angesehen, z. B. nur eine halbe Minute lang«, fragt' er.

Er hörte die Flöte, die gleichsam aus dem Herzen der stummen Nachtigallen sprach. Heiße Freudentropfen sog das dunkle Getön aus seinem von tausend Reizen überfüllten Auge. Jetzt schlugen ein paar große helle Tropfen aus einer warmen Flug-Wolke über ihm auf seine flache Hand herab – er sah sie lange an, wie er es sonst als Kind bei Regentropfen gemacht, weil sie vom hohen fernen heiligen Himmel gekommen. Die Sonne stach auf die weiße Haut und wollte sie wegküssen – er küßte sie auf und sah mit unaussprechlicher Liebe nach dem warmen Himmel auf, wie ein Kind an die Mutter.

Er sang nicht mehr, seitdem er hörte und weinte. Endlich stand er auf und setzte seinen Himmelsweg fort, als er einige Schritte in der Nähe einen aus der Hutschnur eines Fuhrmanns entfallenen Zollzettel auf dem Wege gewahr wurde. In der Hoffnung, daß er dem Mann vielleicht nachkomme und ihn finde, hob er das Blättchen auf; weil ihm nichts Fremdes klein, wie nichts Eignes wichtig vorkam; und weil sein poetischer Sturm leichter einen Gipfel bog als eine Blume. Wenn die Leidenschaft glut-verworren auffliegt wie ein brennendes Schiff: so fliegt die zarte Dichtkunst des Herzens nur auf wie eine goldne Abendrot-Taube, oder wie ein Christus, der gen Himmel geht, weil er eben die Erde nicht vergisset.

Die Flöte floß ihm immer durch das Bette des Tales nach, ohne doch weder näher zu kommen, wenn er stand, oder zurückzubleiben, wenn er lief.

Jetzt schwang sich die Landstraße plötzlich aus dem Tale den Berg hinauf. – Die Flöte drunten wurde still, da sich oben die Weltfläche weit und breit vor ihm auftat und sich mit zahllosen Dörfern und weißen Schlössern anfüllte und mit wasserziehenden Bergen und mit gebognen Wäldern umgürtete. Er ging auf dem Bergrücken wie auf einer langen Bogen-Brücke über die unten grünende Meeresfläche zu beiden Seiten hin.

Er war ganz allein und vor Ohren sicher, er pfiff frei daher figurierte Chorale, Phantasien und zuletzt alte Volksmelodien und hörte nicht einmal auf, wenn er einatmete. Gegen die Natur aller andern Blasinstrumente bleibt diese Mundharmonika, wie die andere, romantisch und süß in großer Nähe – keinen halben Fuß vom Ohre – und wie bei der Musik im Traum ist hier der Mensch zugleich Instrumentenmacher, Komponist und Spieler, ohne im geringsten einen andern Lehrmeister dazu gehabt zu haben als wieder sich, den Schüler selber.

Immer betrunkner und glücklicher wurde Walt, als er auf dieser ersten Schäferpfeife, auf diesem ersten Alphorn fortblies, dem Morgenwinde entgegen, der die Töne in die Brust zurückwehte; und zuletzt wurd' ihm, als komme das verwehte Getön aus weiter Ferne her. Da er lange so ging und träumte – da er von dem Bergrücken bald links in die Hirtenstücken der Wiesen hinuntersah und zu den Kirchtürmen von Altengrün – von Joditz – von Thalhausen – von Wilhelmslust – von Kirchenfelda – und die Jagd- und Lustschlösser erblickte, deren beide Namen allein, wie romantische Zauberworte, alte Gegenden und Paradiese der Kinderseele erscheinen ließen – da er bald wieder rechts hinunterschauete auf die zweite Ebene, worin sich der gerade Fluß seines Tales, die Rosana, frei geworden, auf einem blumigen Tanzplatz schlängelte und das Silber-Schild der Sonne trug und immer zeigte – und da er das Auge auf die Lindenstädter Gebürge warf, wo unter den hohen hellen Laubholzwäldern die dunklen Tannen-Waldungen gleichsam nur als breite Schlagschatten zu stehen schienen – und da er in den Himmel sah, worin still und leicht die Wolke und die Taube flog – und da in den Wäldern des Tals die Herbstvögel schrien und in den Steinbrüchen einzelne Schüsse lang forthalleten: so schwieg er wie aus Andacht vor Gott und dachte dem, was er singen wollte, nach, als ob der Unendliche nicht auch das Denken höre; bis er mit leiser Stimme den Streckvers sang und wiederholte, den er schon längst gemacht:

»O wie ist der Himmel, wie die Erde so voll freudiger Stimmen! Viel schöner als dort, wo einstens der Chorus laut jammerte und nur Niobe schwieg und unter dem Schleier stand mit dem unendlichen Weh, jauchzen die Chöre im Himmel und auf Erden, und nur der Allselige ist still, und der Äther verschleiert ihn.«

Darauf sah er gen Himmel, nannte Gott zweimal du und schwieg lange; und hielt es für erlaubt, sogleich an Wina zu denken. Plötzlich kam ein altes vertrautes, aber wunderbares Mittagsgeläute aus den Fernen herüber, ein altes Tönen wie aus dem gestirnten Morgen dunkler Kindheit; siehe, Meilen-tief in Westen sah er Elterlein hinter unzähligen Dörfern liegen und glaubte die alte Dorf-Glocke zu erkennen und Winas weißes Bergschloß, ja sogar das elterliche Haus. Er dachte voll Sehnen an seine fernen Eltern – an das Stilleben der Kindheit – und an die sanfte Wina, die ihm, auch im Stilleben ihrer Kindheit, einst die Aurikeln in die Hand gelegt – sein Auge hing an den östlichen Gebürgen im stillen Blau, hinter welche er wie hinter Klostermauern Wina als sanfte Nonne in Blumen ihres Kloster-Gartens sinnend gehen ließ. Glocken aus mehreren Dörfern tönten zusammen – der Morgenwind rauschte stärker – der Himmel wurde blauer und reiner – der bunte leichte Teppich des Erdenlebens breitete sich über die Gegend aus und flatterte an den Enden, und Walt wohnte, wie ein Traum, nur in der Vergangenheit.

Er sang voll Seligkeit und nannte ihren Namen nicht: »Es zieht in schöner Nacht der Sternenhimmel, es zieht das Frühlings-RotDie Abendröte in Norden. , es schlägt die Nachtigall – und der Mensch schläft und merkt es nicht; – endlich geht sein Auge auf, und die Sonne sieht ihn an. O Lina, Lina, du gingst auch vorüber mit deinen Blumen mit den süßen Tönen – und mit Liebe – aber mein Auge war blind; nun ist es aufgetan, allein die Blumen sind verwelkt, die Worte sind vergangen, und du glänzest hoch als Sonne.« –

Hier kehrte er um vor dem lauten Wehen; er fand die Welt sonderbar still um sich; nur das Geläute klang allein und leise, wie Schalmeien der Kindheit, und er wurde sehr bewegt. Er lief wieder und sang immer heißer: »Nasses Auge, armes Herz, siehst du nicht den Himmel und den Lenz und das schöne Leben? Warum weinest du? Hast du was verloren, ist dir wer gestorben? Ach ich habe nichts verloren, mir ist nichts gestorben; denn ich habe noch nicht je geliebt, o lass' mich weiter weinen!«

Zuletzt sang er nur einzelne Füße noch, ohne besondern Zusammenhang – er kam eiliger durch Beete – durch grüne Täler – über klare Bäche – durch mittagsstille Dörfer – vor ruhendem Arbeitszeug vorbei – auf dem Zauberkreis der Höhen stand Zauberrauch – der Sturmwind war entflohen, und am klaren Himmel blieb das große unendliche Blaue zurück – Vergangenheit und Zukunft brannten hell und nahe, entzündet von der Gegenwart – der Blumenkelch des Lebens umschloß ihn buntdämmernd und wiegte ihn leise – und Pans Stunde ging an – –

»Jetzt ergriff mich« – schreibt er in seinem Tagebuche – »Pans Stunde, wie allemal auf meinen Reisen. Ich möchte wohl wissen, woher sie diese Gewalt bekommt. Nach meiner Meinung dauert sie von 11 und 12 bis 1 Uhr; daher glauben die Griechen an die Pans-, das Volk an die Tags-Geisterstunde, auch die Russen.Wenden und Russen nehmen eine Glieder raubende Mittags-Teufelin an. Lausitz. Monatsschrift 1797. 12. Stück. Die Vögel schweigen um diese Zeit. Die Menschen schlafen neben ihrem Arbeitszeug. In der ganzen Natur ist etwas Heimliches, ja Unheimliches, als wenn die Träume der Mittagsschläfer umherschlichen. In der Nähe ist es leise, in der Ferne an den Himmels-Grenzen schweifet Getön. Man erinnert sich nicht sowohl der Vergangenheit, sondern sie erinnert sich an uns und durchzieht uns mit nagender Sehnsucht; der Strahl des Lebens bricht in seltsam scharfe Farben. – Allmählich gegen die Vesper wird das Leben wieder frischer und kräftiger.« –


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