Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Nro. 62: Saustein

Einleitungen

Walt hatte nun in seinem (mit Blumen ausgeschmückten) Kopf nichts weiter als den Montag, an welchem er Wina sehen sollte, ohne zu wissen wo. Nach einigen Tagen ließ ihm Raphaela durch Flora sagen, die Redoute am Montage sei durch eine Landestrauer verschoben. Er stutzte das Mädchen an und sagte: »Wie, es war eine Redoute?« Als ihm Vult aber nachher auf die Achsel klopfte und anmerkte, wahrscheinlich habe ihn Engelberta dahin bestellt und lasse es fein genug durch die Schwester sagen, so ging ihm ein Licht, ja ein Stern über Winas Montag auf. Seine Gehirnkammern wurden vier Maskensäle; er schwur, so lange sich abzukargen – und sollte er verhungern –, bis er so viel Geld zusammen hätte, daß er zum erstenmal in seinem Leben den Larventanz besuchen und mitmachen könnte. »Hab' ich einmal eine Maske vor,« dacht' er, »so tanz' ich selig mit ihr oder führe sie und frage wahrlich nichts darnach, wie alles aussieht.« Wie sanft hätte es ihn berührt und gewärmt, wenn er seinen Zwillingsbruder an und in sein Herz und Geheimnis hätte ziehen können! Nur wars zu unmöglich. Die Schmerzen hatten in diesen harten Edelstein Winas Namen und Nein sehr tief geschnitten – dies ertrug er nicht, sondern er wollte den Juwel selber abnutzen und abscheuern, damit nichts mehr daran zu lesen wäre; nicht vor Liebe, sondern vor Ehrliebe, nicht vor Sehnsucht, sondern vor Rachsucht hätte er sterben oder töten können. In diesem Zustand war es jedem, der kein Notarius war, schwer, mit ihm auszukommen. Vor allen Dingen mißfiel ihm die Nähe und die Ferne, er verfluchte Quartier und Stadt, jenes fein, diese geradezu, indem er sie eine Chaluppe zu Brants Narrenschiff – eine Loge zum hohen Licht voll ausgelöschter, stinkender Studierlampen – ein Gebeinhaus von Geköpften ohne Schädelstätte – eine Tierresidenz mit Viehmarkt und Tiergärten, feinen Käferkabinetten und einigen Mäusetürmen nannte; Ausdrücke, wovon er viele in den Hoppelpoppel oder das Herz hineinnahm. Walt leitete die Ergießungen auf die Stadt doch auf sich selber, nämlich als ob der Bruder sagen wollte: »Deinetwegen sitz' ich im Nest.« – »Ach wärst du doch glücklicher, Vult«, sagte er einmal, und nicht mehr. »Was hast du von mir gehört?« sagte zornig Vult. »Nun eben das Vorige«, versetzte er und nahm ihm den Argwohn, daß er um die Fehlschlagung seiner Liebes-Erklärung wüßte.

Am schönen Halbzimmer mit der arkadischen Aussicht auf das gemalte Bühnen-Dörfchen verschliß jetzt aller vorige Glanz. Vult donnerte – als wäre Walt an der Störung des Flötens und Schreibens schuld – hinter der Wand, wenn draußen ein guter angehender Zwerg von Tambour bei leidlichem Wetter sich auf der Trommel nach Vermögen übte und angriff; – oder wenn der näher wohnende Fleischer von Zeit zu Zeit ein Schwein abstach, das schrie, wenn er blies; – oder nachts, wenn der Nachtwächter so abscheulich absang, daß Vult mehrmals im Mondschein ihm über den Park hinüber die stärksten Schimpf- und Drohworte zuschreien mußte.

Die milde Wärme des ewig liebenden Notars trieb und blähte seinen Sauerteig nur mehr auf; »auch ich wäre an seiner Stelle«, sagte Vult, »ein Gottes-Lamm und eine Madonna und ein Johannes-Schoß-Jünger, wenn ich das hätte, wofür er seine Grazie hält.«

Der Notar aber dachte bloß an den Larventanz und an die Mittel dazu. »O liebte nur mein Bruder irgendeine Geliebte, wie leicht und selig wollten wir sein! Wir drückten dann alle uns an eine Brust, und welche er auch liebte, es wäre meine Geliebte mit. – So ists leicht, ihm alles zu vergeben, wenn man sich an seine trübe Stelle nur setzt!«

Zufällig verflogen sich in ihre Zimmer Lose einer Kleiderlotterie. Da nun Walt aus der Sattel- und Geschirrkammer der Masken manches brauchte und nichts hatte, und Vult gar noch weniger, und doch beide in die Redoute begehrten: so nahm jeder ein Los, um etwa eine Maske zu ziehen.

Beide scharrten das Losgeld zusammen, Vult unter vielem Fluchen auf ihre Nichtshaberei und unter dem Beschwören, es geh' ihm so schlimm als den Hinterbacken eines Gaules. – Überhaupt hielt er über jeden Mangel und Unfall lange Schimpfreden gegen das Leben, indem er sagte, auf der Vorhöllen-Fahrt sei das Leben ein Hemde-Wechseln, nämlich mit Hären-Hemden, und zu jedem pis sage das Schicksal bis, und auf das Kanonen-Fieber folge das Lazarett-Fieber – oder indem er fragte, ob nicht so das Gebiß den Zahnfraß bekommen müßte, da es nichts anderes anzubeißen habe, wie Mühlsteine ohne Körner sich selber angreifen. – Bald sagte er auch, das Leben sei durch Eis gut darzustellen – auf einem Eisfeld habe man, außer kalter Küche und Gefrornes, noch seinen russischen Eispalast mit einem guten Eiskeller für Kühltränke, und, von Eisvögeln umsungen, drücke man den Glacier ans Herz, in der heißern Zeit eines Maifrosts. – »Ich kann dir nicht sagen,« sagt' er unter dem Anziehen einmal, »wie sehr ich wünschte, es wäre bei uns wie bei den Dahomets in Ober-Guinea, wo niemand Strümpfe tragen darf als der König, und es wäre jetzt wie unter Karl VII. von Frankreich, wo im ganzen Lande niemand zwei Hemden besaß als seine Gemahlin.« – »Warum?« fragte Walt. »Ei, dann könnten wir uns recht gut mit unserm Stand entschuldigen«, versetzte er.

Durch diese Ergießungen führte er eine Menge Verdruß ab, nur aber dem Bruder manchen zu, weil sich dieser für die Quelle hielt. »Armut«, antwortete Walt, »ist die Mutter der Hoffnung; gehe mit der schönen Tochter um, so wirst du die häßliche Mutter nicht sehen. Aber ich will gern dein Simon von Cyrene sein, der dir das Kreuz tragen hilft.« – »Bis nämlich auf den Berg,« versetzte jener, »wo man mich daran schlägt.« – Liebe kennt keine Armut, weder eigne noch fremde.

Endlich wurde die Kleider-Lotterie gezogen, auf welche beide sich bloß durch Länge der Zeit die größten Hoffnungen angewöhnt und weisgemacht hatten. Die Gewinste waren für Nro. 515 (Walt) ein beinah' vollständiger Anzug von Schützischem Gichttaffent, so daß er für jeden Gichtischen, es mochte ihn reißen, in welchem Gliede es wollte, brauchbar war. Nro. 11000 (Vult) gewann ein erträgliches blaues Fuhrmanns-Hemd. In dieser Minute brachte der Postbote den Hoppelpoppel wieder, den sie an die Buchhandlung Peter Hammer in Köln mit vielen aufrichtigen Lobsprüchen des Herrn Hammers ablaufen lassen – nachdem vorher leider das Manuskript von Herrn von Trattner mit der kahlen Entschuldigung abgewiesen worden, er drucke selten etwas, was nicht schon gedruckt sei –; auf dem Umschlag hatte das löbliche Kölnische Postamt bloß bemerkt, es sei in ganz Köln keine Peter Hammersche Buchhandlung dieses Namens zu erfragen, und der Name sei nur fingiert.

Hätte Vult je die beste Veranlassung gehabt, über die ewigen Erdstöße des Lebens zu fluchen, etwa zu fragen, ob nicht alle Höllenflüsse für ihn aufgingen und Eis und Flammen führten, oder auch zu behaupten, daß in ihr Schicksal geradesogut Poesie zu malen sei als auf eine Heuschreckenwolke ein Regenbogen – hätte er je eine solche Gelegenheit gehabt, so wäre es jetzt gewesen, wenn er nicht aus diesem Schlagregen wäre herausgekommen gar unter die Traufe eines Wasserfalls. Der Elsasser erschien, aber er gehörte noch zum Regen. Er dankte beiden sehr für die Geburtstags-Arbeiten – noch regnete es –; darauf aber, da er mit seinem Auftrage von Raphaela herausrückte, welche Walten einen vollständigen Berghabit ihres Vaters, den er zuweilen in seinem Bergwerkchen Gott in der Höh' sei Ehre trug, für den Larventanz anbot – als Flitte seine Glückwünschungs-Mienen, und Walt seine Danksagungs-Mienen spielen ließ – dann beide wieder die Mienen umtauschten, und dies alles so wohlwollend gegeneinander, daß, wenn der Notar nicht der ausgemachteste Spitzbube des festen Landes war, Raphaela durchaus noch die Geliebte des Elsassers sein mußte: so fiel auf einmal der lange Nebel und Vult in die Traufe.

»Gott verdamme, er liebt Wina!« (sagte Vult in sich) »und sie wohl ihn!« Alle seine wilden Geister brauseten nun wie Säuren auf – doch fest zugedeckt, ausgenommen im Tagebuch. »So falsch, so heimlich, so verdammt keck und wie toll emporstrebend dacht' ich mir doch den Narren nicht« – sagte sein Selbstgespräch – »o recht gut! – Bei Gott, ich weiß, was ich tue, hab' ichs nur ganz gewiß! – Aber auf dem Larventanz entlarv' ich; – der Plan geht leicht, darauf kommt der Teufel und holt. Erst recht klar will ich mich, zum Beweise meiner Freundschaft gegen ihn, überzeugen lassen, und zwar von ihr selber. Himmel, wenn der Glückliche meinen refus in der dummen Neujahrs-Nacht erführe! – Ich tät' ihm viel an. – O lieber Vult, so sei nur diesmal, eben deswegen, desto gezähmter und stiller und bändige dein Sprech-Zeug und Gesicht, bloß bis morgen nachts!«

Vults bisherige Fehlblicke entschuldigt leicht die Bemerkung, daß dieselbe Leichtigkeit, womit man sich einbildet, geliebt zu werden, ja auch weismachen müsse, daß ein anderer geliebt werde, Walt von Raphaelen. Auch glaubte er, als Weiberkenner, die Weiber so verschieden, und folglich ihre Weisen, die Liebe zu bekennen, noch mehr, daß er nur eine Weise annahm, worauf zu fußen sei, welche aber nicht darin bestehe, daß die Frau etwa an den Hals oder an das Herz falle, sondern daß sie bloß einfach sage: ich liebe dich; »alles Übrige«, sagte er, »sagt dies ganz und gar nicht.«

Um also sich das Wort der Ruhe zu halten und kalt und fest wie ein Hamilton auf der heißen Lava-Rinde zu stehen, auf welcher er fortrückte: so sprach er, wovon er wollte, und berichtete Flitten, er und Walt duzten sich jetzt. Er riet sehr ernsthaft dem Notar, lieber im Gicht-Taffent eingescheidet auf dem Ball zu erscheinen; und als dieser sich in seinem und der Mittänzerin Namen ekelte vor der Krankenhülle: blieb jener dabei, er sehe hierin nichts als eine ungewöhnliche Maske, die ganz unerwartet sei. »Doch fahre meinetwegen in den Berghabit ein und damit in den goldhaltigen Lustschacht; aber mein Fuhrmanns-Hemd wirf wenigstens über das A-leder«, sagte Vult. »Wenn in der Redoute«, versetzte Walt, »sich das Leben und alle Stände untereinander und aneinander mischen: so mögen zwei sich wohl an einem Menschen finden und einen.« – »Verzeih nur das ganz gewöhnliche Bergwort«, sagte Vult, für welchen es keine größere Freude gab, als Walten ins verlegne Gesicht zu schauen, wenn er von Culs de Paris sprach, welche er anus cerebri Lutetiae nannte (so heißt der Anfang der vierten Gehirnkammer), nie ein anderes Wort zur Übersetzung erlas als das gedachte, so sehr auch schon dem schwachen Kenner der deutschen Sprache der größte Reichtum zum Wechsel vorliegt.

»Er kann nämlich«, wandt' er sich zu Flitten, »das bekannte Wort A- nicht leiden; ich bin hierin fast mehr frei wie irgendein Pariser oder Elsasser. Überhaupt, Herr Flitte, seh' ich doch nicht, warum die Menschen so viel Umstände machen, Sachen auf die Zunge zu bringen, zu welchen Gott selber mit seiner sagen mußte: werdet! Zur Sünde sagte ers gewiß nicht. Kannst du denn überhaupt je vergessen, Herr Notar, – mehr frag' ich nicht – wenn du an der größten Hoftafel Europens speisest, die es geben soll, daß hinter den feinsten Ordensbändern doch Splanchnologien liegen, wovon jeder die seinige unter die zierlichsten Menschen mitbringt und sich damit vor den heiligsten Herzen, weil er die Splanchnologie nicht wie seinen Mantel dem Bedienten geben kann, verbeugt? Wenigstens ist dies immer meine Entschuldigung, wenn er mich scharf vornimmt, weil ich die Feder an der innern unsichtbaren Überrocks-Klappe abstreife, indem er immer einwirft, die abgewandte Fläche sehe doch wenigstens der Geist; worauf ich ihm, wie gesagt, den Nabel der Menschheit entgegenhalte. Doch Scherz beiseite! Reden wir lieber von Liebe, die auf dem Larven-Ball gewiß nicht fehlen wird. Ewige, glaub' ich, dauert lange, und länger als man glaubt – denn ich wüßte nicht, warum ein Liebhaber die seinige beschwüre, wenn er nicht damit verspräche, sein Herz so lange brennen zu lassen als das Steinkohlen-Bergwerk bei Zwickau, das es nun 1 Säkulum durch tut.« – »Vive l'Amour!« sagte Flitte.

Vult erzählte jetzt, Jakobine, die Schauspielerin, sei angekommen: »Sie wird auf dem Balle auch ihre Rolle spielen, spiele du weder den ersten noch den letzten Liebhaber, Walt. Es ist Teufels-Volk, die Weiber; scheinen sie schlimm, so sind sie es auch; scheinen sie es nicht, so sind sie es doch. Indes zieh' ich alle Jakobinen allen Prüden vor, welche ihre himmelblauen Netze durch den Äther aufspannen.« Walt fragte, wie es denn eine arme Schöne machen solle, wenn Schein und Sein nichts hälfen. Allerdings ist eine gewisse Zurückziehung ein Netz, aber eines um einen Kirschbaum voll süßer Früchte, nicht um die Sperlinge zu fangen, sondern um sie abzuhalten. Aber Vults Zunge schonte, ungleich dem Löwen, jetzt keine Frau.

Walt trug mit stillem Beklagen des verarmten Bruders alles ganz gern. Vor Vult hatte sich die Lebensseite in die Nachtseite gekehrt, darum mußte er im Schatten kalt sein und, wie andere Gewächse, Gift-Lüfte ausatmen. Hingegen der Liebe wendet sich die Himmelskugel, wie auch die irdische Welt sich drehe, stets mit aufgehenden Sternen zu. Wie ein Schiffer auf einem windstillen Meer, sieht sie ohne alle Erde Himmel über, Himmel unter sich offen, und das Wasser, das sie trägt, ist bloß der dunklere Himmel.

Als Vult mit Flitte freundlich fortging, dachte Walt: »Ich mach' ihn ja immer friedlicher; sogar mit dem Elsasser scheint er sich auszusöhnen.«


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